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Mein Leben ohne mich: Wie ich fünf Jahre im Koma erlebte
Mein Leben ohne mich: Wie ich fünf Jahre im Koma erlebte
Mein Leben ohne mich: Wie ich fünf Jahre im Koma erlebte
Ebook354 pages4 hours

Mein Leben ohne mich: Wie ich fünf Jahre im Koma erlebte

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About this ebook

Dramatischer kann eine Lebensgeschichte kaum sein. Carola Thimm ist im fünften Monat schwanger, als in ihrem Gehirn ein Aneurysma platzt. Sie fällt ins Wachkoma, wird künstlich ernährt, kann nicht sprechen, reagiert nicht. Selbst die Geburt ihrer Tochter erlebt Carola Thimm nicht mit. Fünf Jahre bleibt sie in diesem Zustand, bis sie langsam wieder erwacht.
In ihrem erstaunlichen Buch beschreibt Carola Thimm ihre Erfahrungen und Gefühle während dieser Zeit. Und wie es ihr gelungen ist, sich ihr Leben nach dem Erwachen neu zu erobern. Sie lernt wieder gehen, sprechen, Zähne putzen und begreift nur langsam, dass sie Mutter einer mittlerweile fünfjährigen Tochter ist.
Ein aufrüttelndes Buch über eine lebensmutige Frau und ein sensationeller Einblick in das Phänomen Wachkoma.
LanguageDeutsch
PublisherPatmos Verlag
Release dateJun 12, 2015
ISBN9783843606127
Mein Leben ohne mich: Wie ich fünf Jahre im Koma erlebte

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    Book preview

    Mein Leben ohne mich - Carola Thimm

    NAVIGATION

    Buch lesen

    Cover

    Haupttitel

    Über die Autorinnen

    Über das Buch

    Impressum

    Hinweise des Verlags

    HAUPTTITEL

    Carola Thimm mit Diana Müller

    Mein Leben ohne mich

    Wie ich 5 Jahre im Koma erlebte

    Patmos Verlag

    BUCH LESEN

    Carola

    Tot. Ich bin tot.

    Brita

    »Wo bleiben sie denn?« Brita trägt den Apfelkuchen zum gedeckten Kaffeetisch und schüttelt den Kopf. »So lange kann eine Runde Walking doch nicht dauern.«

    Winfried lehnt sich auf der Couch zurück, streckt seine langen Beine aus und schaltet den Fernseher ein. »Sie werden schon kommen«, sagt er mit ruhiger Stimme. »Wer weiß, wen Carola unterwegs noch getroffen hat. Und dann will sie ja bestimmt auch noch schnell unter die Dusche gehen.« Er wendet seine Aufmerksamkeit der Tagesschau zu – es läuft ein Vorbericht zur Fußball-Europameisterschaft, die in knapp zwei Wochen in Portugal losgeht.

    Brita schaltet die Kaffeemaschine aus, geht hinüber ins Esszimmer und wirft erneut einen Blick aus dem Fenster. Es ist Pfingstmontag, der 31. Mai 2004, und die Sonne scheint warm durch die Scheibe. Im Garten steht der lilafarbene Rhododendron in voller Blüte. Was für ein Anblick! Vom Fenster aus kann sie das Dach des Hauses ihrer Tochter sehen, die nur wenige Meter entfernt in derselben Straße wohnt. Es ist ein schönes, geräumiges Haus mit großem Garten, doch gerade gleicht es eher einer Baustelle. Carola und ihr Mann Michael wollen einiges umbauen – doch das Wichtigste ist schon fertig: das Kinderzimmer. Brita lächelt. Sie freut sich riesig auf ihr zweites Enkelkind. Im November soll es zur Welt kommen. Es wird allen so guttun, denkt sie. Wie lange hat Carola sich gewünscht, ein Kind zu bekommen, doch es wollte und wollte nicht klappen. Und wie sie sich gefreut hat, als sie dann endlich schwanger wurde!

    Jetzt dauert es nicht mehr lange, und dann ist das Kind da. Carola und Michael wollen sich überraschen lassen, sie wollen im Vorfeld nicht wissen, ob es ein Mädchen oder ein Junge wird.

    »Unglaublich, was man heute alles schon vor der Geburt medizinisch untersuchen kann!«, hat Carola ihrer Mutter erst kürzlich gesagt. »Dabei möchte man manche Dinge vielleicht gar nicht wissen. Michael und ich sind uns einig – wir wollen uns die Überraschung bewahren. Wenn das Kind da ist, werden wir schon sehen, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist.«

    Brita gefällt diese Einstellung. Egal ob Mädchen oder Junge, fest steht, dass dieses Kind ein Segen sein wird. Ein Segen für Carola und Michael und ein Segen für sie alle. Dabei denkt Brita auch an ihren Mann, dem es nach seiner schweren Krebserkrankung zum Glück endlich wieder besser geht. Auch er freut sich riesig auf sein Enkelkind. Wahnsinn, wie viel Hoffnung die Geburt eines Kindes verheißt und wie lieb wir diesen neuen kleinen Menschen jetzt schon haben, denkt Brita. Sie wendet sich vom Fenster ab und geht durch den offenen hellen Raum ins Wohnzimmer zu ihrem Mann.

    Einen Lungenflügel haben sie ihm damals entnommen, doch der andere arbeitet glücklicherweise gut alleine. Vor knapp fünf Jahren kam die erlösende Nachricht, dass die Ärzte keine weiteren Krebszellen in Winfrieds Körper gefunden haben. Seitdem geht es ihm gut. Brita streicht sich das kurze blonde Haar aus der Stirn und setzt sich neben ihren Mann. Sanft drückt sie seine Hand, er sieht sie an und lächelt.

    »Ich bin so froh, dass es dir wieder gut geht«, sagt sie leise, »und dass auch bei der letzten Untersuchung alle Werte in Ordnung waren. Du hast den Krebs überstanden, jetzt geht es wieder aufwärts.«

    Winfried legt den Arm um seine Frau, die einige Köpfe kleiner ist als er, Wange an Wange sitzen sie da. Sie sind seit neununddreißig Jahren verheiratet, haben zwei Töchter und bald zwei Enkelkinder. Sie leben gut in Preetz – beide kommen sie aus dem Norden – und haben viele Freunde und Bekannte in der Stadt. Winfried hat lange bei der Volksbank am Marktplatz gearbeitet, und Brita ist in einem Haushaltswarenladen beschäftigt. Da kennt man die Preetzer.

    »So langsam könnten sie aber wirklich kommen«, sagt nun auch Winfried und schaut auf die Uhr.

    »Hoffentlich ist ihnen nichts dazwischengekommen«, entgegnet Brita. »Am Telefon sagte Michael, dass Carola um Viertel nach eins gegangen ist. Nur für eine kleine Runde, und dann wollten sie gleich vorbeikommen.«

    »Jetzt ist es schon halb vier«, stellt ihr Mann fest und schaut zum fertig gedeckten Kaffeetisch hinüber.

    Das Klingeln reißt beide aus ihren Gedanken. Brita steht auf und läuft zum Telefon. »Thimm?«

    Winfried schaltet den Fernseher aus, steht auf und streicht sich über die Hose. Ihn zieht es zum gedeckten Tisch; er freut sich auf ein leckeres Stück Apfelkuchen und eine Tasse Kaffee. Plötzlich bemerkt er, dass seine Frau am Telefon gar nichts mehr sagt. Sie steht nur da, hält den Hörer umklammert und schluckt.

    »Aber – wie lange ist das denn her? Und jetzt? Ist sie denn wieder bei Bewusstsein?«

    Winfried hält in der Bewegung inne, kurz wird ihm schlecht und er stützt sich an der Couch ab.

    Brita legt den Hörer auf und dreht sich um. »Carola …«, sagt sie wie außer Atem. »Sie ist beim Walken im Wald zusammengebrochen. Ein Spaziergänger hat sie gefunden.« Sie schlägt die Hände vor den Mund. »Bewusstlos.«

    »Und jetzt?« Ihr Mann läuft auf sie zu. »Was ist jetzt?«

    »Sie haben sie ins Krankenhaus gebracht«, sagt Brita leise, »aber Michael hat gesagt, dass wir uns nicht so viele Sorgen machen sollen. Ich hatte aber den Eindruck«, sie zuckt die Schultern und unterdrückt nur mühsam ihre Tränen, »dass er mich bloß beruhigen wollte.«

    Carola

    Manchmal denke ich, ich hätte vorher etwas merken müssen. Irgendein Gefühl wenigstens, ein kurzes, kaltes Prickeln auf der Haut, ein Schauer, der mir über den Rücken läuft und die Härchen auf meinen Armen aufrichtet, irgendeine Warnung, dass etwas nicht stimmt. Aber da war nichts dergleichen.

    Die leichten Kopfschmerzen und das Schwindelgefühl: Alles schiebe ich auf meine Arbeit im Kinderzimmer. Mein Mann und ich haben es frisch gestrichen – damit alles fertig ist, wenn unser Kind geboren wird – und ich habe ziemlich viel Zeit dort verbracht. Die Farbe riecht noch sehr intensiv und immer wieder musste ich niesen, wenn mir der scharfe Geruch zu sehr in die Nase gestiegen ist.

    Wir haben uns für einen hellen Gelbton entschieden, die Farbe wirkt warm und freundlich, und wenn die Sonne durch die beiden großen Fenster scheint, leuchtet der ganze Raum. Außerdem ist gelb eine neutrale Farbe; wir wollen uns überraschen lassen, ob wir einen Sohn oder eine Tochter bekommen. Darin sind wir altmodisch. Was wir allerdings wissen, ist, wie unser Kind heißen wird, wenn es ein Mädchen wird: Marie. Auf ihren Namen haben wir uns sehr schnell geeinigt. Ich habe ihn Michael schon vor Wochen vorgeschlagen. Und er war sofort einverstanden. »Marie gefällt mir auch sehr gut«, hat er gesagt und mich liebevoll in den Arm genommen. Damit war es beschlossen. Mit einem Jungennamen hingegen tun wir uns etwas schwerer. Aber es ist ja auch noch Zeit.

    Später, das habe ich mir fest vorgenommen, will ich im Kinderzimmer wilde Tiere auf die Wände kleben – im Baumarkt habe ich tolle Motive gesehen: Giraffen und Löwen, Elefanten und Krokodile. Unser Kind soll es schön haben! Vor wenigen Wochen habe ich in einem kleinen Laden in Kiel ein tolles Mobile gesehen, das musste ich einfach kaufen. Es ist blau und an den unterschiedlich langen Bändern hängen winzige Meerestiere – bunte Seesterne und Muscheln, ein grauer Wal, eine dicke rote Garnele, ein lilafarbener Delfin. Ich will es über das Bett unseres Kindes hängen – die Unterwasserwelt wird dem Kleinen bestimmt gefallen!

    Das Meer. Dazu hatte ich als Schleswig-Holsteinerin schon immer eine besondere Beziehung. Und doch hat meine Leidenschaft für das Tauchen nicht in der Ostsee, sondern im Roten Meer begonnen. In einem Ägyptenurlaub habe ich zum ersten Mal einen Schnuppertauchgang gemacht und war sofort fasziniert von der unglaublichen Welt, die sich mir unter der Wasseroberfläche offenbart hat. Ich liebe dieses schwerelose Dahingleiten, das stille Beobachten, den leichten Druck in meinen Ohren und das leise Geräusch, wenn ich die Luft aus meinem Mundstück sauge. Wenn ich abtauche, lasse ich alle meine Sorgen oben zurück, ich vergesse die Welt um mich herum und bin für eine Stunde frei von allem, unbeschwert und glücklich. Nie hat mir die Tiefe des Meeres Angst gemacht, nie hatte ich unter Wasser irgendwelche Schwierigkeiten. Es gibt keinen anderen Ort, an dem ich so gut zur Ruhe kommen kann wie dort. Schade, dass ich wegen der Schwangerschaft momentan nicht tauchen darf. Das fehlt mir sehr. Ich freue mich schon riesig darauf, wieder damit anzufangen. Das ist so ein wichtiger Teil meines Lebens. Aber für unser Kind nehme ich diese Pause gerne in Kauf.

    Ich wende mich von dem Kleiderschrank ab, in den ich in der letzten halben Stunde kleine rote und gelbe Strampelanzüge, winzige Bodys und Strumpfhosen eingeräumt habe, die meine Schwester mir geschenkt hat. Meine Nichte Ebba ist schon längst aus diesen Sachen herausgewachsen – und wir können sie gut gebrauchen.

    Mit den Fingern massiere ich meine Stirn, bewege meine Augen vorsichtig von links nach rechts. Die Kopfschmerzen sind noch da. Ich atme tief durch. Wahrscheinlich würde es mir guttun, mal an die frische Luft zu gehen. Eine Runde Walken. Vielleicht habe ich heute auch zu wenig getrunken. Oder habe ich mir in den letzten Wochen zu viel zugemutet?

    Michael und ich haben viel Kraft und Zeit in unseren Anbau gesteckt, mehr Räume soll es geben, mit großen Fenstern, für uns und unser Kind. Aber wir sind gut vorangekommen. Das Richtfest hat vor wenigen Wochen stattgefunden und war ein voller Erfolg. Bis in die Nacht haben wir draußen gesessen, Würstchen gegessen und Bowle getrunken und zum Schluss sogar ausgelassen auf der Wiese hinter unserem Haus getanzt. Es war eine wunderbare Feier!

    Ich verlasse das Kinderzimmer, gehe hinüber in unser Schlafzimmer und ziehe mich um. Herrlich scheint die Sonne durchs Fenster herein und kleine Staubpartikel glitzern im Licht. Ich bin glücklich.

    In meiner schwarzen Trainingshose und einem roten T-Shirt laufe ich die Treppe hinunter. Was werde ich froh sein, wenn wir hier endlich einmal alle Baustellen beseitigt haben! Durch den Anbau ist immer überall Staub und Dreck, da nutzt alles Putzen gar nichts. Unter der Treppe stehen meine Laufschuhe, immer noch ganz dreckig – als ich das letzte Mal unterwegs war, hat es geregnet und ich bin noch nicht dazu gekommen, sie sauber zu machen. Egal. Ich gebe Michael Bescheid, dass ich eine Runde walken gehe.

    »Ja, ist okay«, tönt es aus dem Wohnzimmer – mein Mann sitzt vor dem Computer.

    Ich schnappe mir eine leichte Jacke von der Garderobe und ergreife meine Walkingstöcke.

    »Tschüss.« Ein kurzer Blick ins Wohnzimmer, wo Michael konzentriert in den Bildschirm schaut.

    »Tschüss, bis später«, ruft er und winkt mir kurz zu.

    Ich trete vor die Haustür und atme tief ein. Das tut gut! Frische Luft ist jetzt genau das Richtige. Ich nehme die Walkingstöcke fest in die rechte und linke Hand und los geht’s. Schnell bewegen sich meine Arme und Beine im gleichen Rhythmus. Ich winke unserem Nachbarn zu, der im Garten unter einem Sonnenschirm sitzt und Zeitung liest, und laufe unsere Straße hinunter. Es ist eine ruhige Gegend am Stadtrand von Preetz – Einfamilienhäuser mit gepflegten Gärten. Von hier dauert es nur wenige Minuten, bis ich mitten in der Natur bin.

    Wie immer führt mich mein Weg schnurstracks in die Feldmark. Hier bin ich schon immer gerne gelaufen. Wegen meiner Schwangerschaft verzichte ich aber momentan lieber aufs Joggen und walke stattdessen. Im fünften Monat will ich kein Risiko eingehen. Ich freue mich so sehr auf unser Kind, dass ich das gar nicht in Worte fassen kann. Michael und ich wünschen uns schon so lange Nachwuchs. Nie hat es geklappt. Erst die Fehlgeburt. Und dann noch die – zum Glück vollkommen falsche – Diagnose meines Frauenarztes. Meine Gebärmutter sei nicht in Ordnung. Was für ein Tiefschlag! Und jetzt ist es plötzlich doch so weit. Ein medizinisches Wunder: Ich bin schwanger!

    Mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht laufe ich los – dieses Kind wird alles auf den Kopf stellen. Dann ist es erst einmal vorbei mit der Ruhe, dann gibt der kleine Schreihals den Takt in unserem Haus vor. Die Zeit, in der wir sonntags ewig im Bett liegen und ausschlafen konnten, ist dann ganz sicher passé. Aber das tut mir nicht leid. Wie es wohl ist, Mutter zu sein? Wie wird Michael sich als Vater machen? Das ist so spannend!

    Die Sonne scheint mir ins Gesicht und ich lasse meinen Blick über die herrliche Landschaft schweifen. Jetzt verlasse ich die geteerte Straße und biege in den sandigen Waldweg ein. Rechts und links von mir blühen die Heckenrosen und verströmen einen leichten süßlichen Geruch. Zwischen den Bäumen kann ich schon den Postsee erahnen, blau glitzert das Wasser hinter dem zarten Grün. Die Luft ist warm und frisch, ein leichter Wind geht, und ich atme tief ein und aus. Der Himmel über mir ist strahlend blau, ich höre Vögel zwitschern und das leichte Plätschern des Wassers, das gegen einen Holzsteg wogt. Der Weg führt mich nun direkt am Wasser entlang, Sträucher und Bäume lichten sich und eröffnen den Blick auf den See, kleine Boote schaukeln am Ufer. Ich beschleunige meine Schritte und meine Walkingstöcke geben den Takt dazu an.

    Es ist Feiertag und trotzdem sind an diesem frühen Nachmittag nur wenige Leute unterwegs. In der Ferne sehe ich ein älteres Paar mit einem Schäferhund, am anderen Seeufer sind zwei Fahrradfahrer in voller Montur unterwegs. Rote Flecken, die durch die Bäume immer wieder kurz sichtbar werden. Doch ansonsten ist alles ruhig. Vor mir, hinter mir ist niemand zu sehen.

    Der Sand und die Steine unter meinen Füßen verursachen knirschende Geräusche, und ich schaue auf die Uhr. Eine knappe Stunde Walken sollte für heute reichen.

    Ich laufe nach links weiter in Richtung Bauernhof und gebe noch einmal richtig Gas. Ich merke, wie sich auf meinem Rücken ein leichter Schweißfilm bildet, und fahre mir mit der Hand über die Stirn. Mir ist wärmer geworden, als ich gedacht hatte.

    Jetzt geht es eine kleine Steigung hinauf. Ich spüre den Schweiß auf meiner Kopfhaut, meine Atmung beschleunigt sich. Irgendwie ist mir plötzlich schlecht, mein Pulsschlag hämmert in meinem Kopf. Schnell und gierig atme ich die frische Luft ein, pumpe sie in meine Lunge. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass der Sauerstoff nicht ausreicht.

    Ein stechender Schmerz jagt durch meinen Kopf. In der Ferne sehe ich einen Spaziergänger auf einem der Felder, über mir zieht ein Bussard seine Kreise am wolkenlosen Frühlingshimmel. Sein Schrei, der spitz in meinen Ohren klingt, ist das Letzte, was ich in diesem Moment wahrnehme – dann ist plötzlich alles schwarz.

    Blackout, nichts mehr. Ein blinder Fleck in meiner Erinnerung.

    Claudia

    Claudia schlüpft in eine alte blaue Jeans und zieht sich das rote T-Shirt über den Kopf. Vor dem Mittagessen können wir noch einiges schaffen, denkt sie sich. Da gibt es so manches rund um unser Haus, das wir dringend in Angriff nehmen müssen. Die schlanke junge Frau mit den langen, glatten blonden Haaren, die sie an diesem Tag zum Zopf gebunden hat, läuft nach draußen in den Garten, wo ihr Mann Marko schon auf der Leiter steht und das Gartenhaus anstreicht. Was für ein Glück, dass das Wetter heute so gut ist, denkt die 32-Jährige und winkt ihrem Mann zu.

    »Das sieht richtig gut aus«, ruft sie und bewundert die rote Farbe. Schwedenrot – so wie sie es sich gewünscht hat.

    Irgendwann hätte sie auch gerne einmal ein Haus in dieser Farbe. Der Bungalow in dem kleinen Ort Bothkamp, in dem Claudia, Marko und ihre kleine Tochter Ebba jetzt wohnen, ist verklinkert und steht auf dem riesigen Grundstück ihrer Schwiegereltern. Ruhig ist es hier, manchmal zu ruhig.

    »Ja, mir gefällt es auch«, entgegnet ihr Mann und winkt ihr mit dem Pinsel zu, ein wenig rote Farbe tropft auf den grünen Rasen. Amüsiert registriert Claudia die feinen roten Farbtupfer in seinen kurzen dunklen Haaren. Marko verzieht das Gesicht: »Aber eins weiß ich jetzt schon: Morgen habe ich Muskelkater ohne Ende.«

    Claudia zieht ihre Gartenhandschuhe über und beugt sich über das neu angelegte Sträucherbeet. Wie kann da nur so schnell so viel Unkraut wachsen? Beherzt zupft sie die zarten Pflänzchen heraus und wirft sie in einen Eimer. Da hört sie, wie jemand ihren Namen ruft. Sie hebt den Kopf und entdeckt ihre Schwiegereltern, die über die Wiese auf sie zueilen. Sie winken schon von Weitem.

    »Da kommen deine Eltern«, wundert sich Claudia. »Was ist denn los?«

    Marko hält im Streichen inne und dreht sich um. »Hallo, ihr zwei! Bringt ihr uns eine kleine Erfrischung vorbei?«, fragt er und lacht.

    »Nein«, sagt sein Vater ernst, »leider nicht. Winfried hat versucht, euch telefonisch zu erreichen, aber weil ihr hier im Garten seid, habt ihr das Telefon wahrscheinlich nicht gehört. Er hat es dann bei uns versucht und hat mich gebeten, dir Bescheid zu geben, Claudia. Du sollst ihn dringend zurückrufen.«

    Claudia merkt, wie sich ihr Herzschlag beschleunigt.

    Es wird doch wohl nichts passiert sein, denkt sie schon im Laufen. Nicht, dass etwas mit Mama ist.

    Sie streift sich die Handschuhe ab, schlüpft aus den Gummistiefeln und läuft auf Socken ins Haus. Zitternd greift sie zum Telefon und wählt die Nummer ihrer Eltern. Bitte, lieber Gott, lass da nichts Schlimmes passiert sein! Claudia hört das Blut in ihren Ohren rauschen. Sie atmet tief durch. Es könnte ja auch etwas mit Carola sein. Oder mit ihrem Baby. O Gott, bitte nicht. Das kann doch nicht sein, hofft Claudia, Carola ist doch erst im fünften Monat. Es tutet in der Leitung. Nimm ab, Papa, denkt sie, geh doch endlich dran!

    Nach dem vierten Läuten nimmt Winfried den Hörer ab.

    »Papa, ich bin’s«, sagt Claudia atemlos, »wir waren im Garten und haben das Telefon nicht gehört. Was ist denn los? Ist etwas mit Mama? Oder mit Carola oder mit ihrem Baby?«

    Ihr Vater erzählt ihr, was passiert ist. »Carola hatte Migräne und hat sich gedacht, dass es ihr guttun würde, eine Runde walken zu gehen. Sie war in der Feldmark. Nach kurzer Zeit ist sie im Wald zusammengebrochen.« Er atmet hörbar aus. »Zum Glück wurde sie von einem Spaziergänger gefunden, der sofort Polizei und Krankenwagen gerufen hat. Anhand der Einstellung ihrer Armbanduhr, die beim Sturz wohl stehen geblieben war, haben die Ärzte festgestellt, dass Carola etwa 20 Minuten dort gelegen haben muss, bis der Mann sie gefunden hat.« Er verstummt.

    Bei Claudia dreht sich alles. Sie sinkt auf einen Stuhl.

    »Und jetzt? Wie geht es ihr jetzt? Und …«, sie schluckt, »was ist mit ihrem Baby?«

    »Sie haben sie nach Preetz ins Krankenhaus gebracht«, antwortet ihr Vater. »Während der Fahrt ist sie wieder zu Bewusstsein gekommen. Sie wird jetzt in der Klinik erst einmal gründlich untersucht.«

    Claudia merkt, wie sich ihr der Hals zuschnürt. Ihre Hände sind nass geschwitzt. »Haben sie schon etwas gefunden?«, fragt sie nervös zurück.

    »Nein«, beruhigt sie Winfried, »bisher gibt es nichts Auffälliges. Vielleicht hat sie sich ja doch nur beim Walken überanstrengt. Du weißt doch, wie Carola ist. Manchmal mutet sie sich einfach zu viel zu.«

    Carola

    Als ich wieder zu mir komme, liege ich schon im Krankenwagen. Aber das realisiere ich in dem Moment nicht. Wo bin ich? Warum wird es plötzlich so hell? Wohin fahren wir? Ich merke, dass ich mich nicht richtig bewegen kann. Meine Arme liegen eng an meinem Körper. Vorsichtig öffne ich die Augen und muss einige Mal blinzeln. Noch immer sehe ich nicht richtig klar, eher wie durch einen Schleier hindurch. So sieht es aus, wenn ich meine Taucherbrille nicht richtig ausgespült habe und sie unter Wasser beschlägt. Milchig. Verschwommen. Doch dieses Mal ist da keine Brille, die ich absetzen und auswaschen könnte.

    Ein Mann sitzt direkt neben mir auf einem Stuhl. Er trägt eine grell orangefarbene Jacke. Erst jetzt merke ich, dass ich festgeschnallt bin, auf einer Liege. Sie ist schmal und fühlt sich kühl und glatt unter meinen Händen an. Was mache ich hier? Wollte ich nicht walken gehen? Vorsichtig drehe ich den Kopf und erkenne eine Kanüle, die in meiner Hand steckt. Langsam rinnt eine durchsichtige Flüssigkeit aus einem Beutel in meine Vene. Ich bewege meine Hand und bin erleichtert: Ich kann meine Finger spüren.

    Als ich den Blick hebe, erkenne ich ein graues Regal, in dem ein großer Koffer steht, rotes Kreuz auf weißem Untergrund. Mehrere Kabel und Schläuche hängen von der Decke, an der auch zwei zylinderförmige Lampen befestigt sind. Sie sind ausgeschaltet. Alles sieht sehr sauber und steril aus.

    Mein Baby!, schießt es mir plötzlich durch den Kopf. Wenn das hier ein Krankenwagen ist, was ist dann mit mir passiert? Und was ist mit meinem Kind?

    Ich muss diese Gedanken laut ausgesprochen haben, denn der Sanitäter schaut mir in die Augen und lächelt. »Dem Baby geht es gut«, beruhigt er mich. »Sie sind beim Walken zusammengebrochen und wir bringen Sie jetzt erst einmal nach Preetz ins Krankenhaus.«

    »Ich bin umgefallen?« Erstaunt sehe ich den Mann an. Ich kann mich nicht daran erinnern. Aber dann atme ich tief durch, jetzt bin ich ja wieder wach. Sicher ist alles halb so wild. Mein Herzschlag beruhigt sich.

    »Wir werden Sie jetzt im Krankenhaus mal gründlich durchchecken und dann finden wir sicher heraus, was mit Ihnen ist«, sagt der Sanitäter. Er ist noch jung und hat grüne Augen. »Vielleicht haben Sie sich überanstrengt und hatten einen Kreislaufkollaps.«

    Ich schließe die Augen. Plötzlich fallen mir die starken Kopfschmerzen wieder ein, die ich gespürt habe, bevor ich in diesem schwarzen Loch versunken bin. Sie sind immer noch da. Wenn es am Ende kein Kreislaufkollaps war, sondern mit meinem Kopf zu tun hat? Wenn es – wieder ein Aneurysma ist?

    Ich erzähle dem Sanitäter, dass ich 1991 ein Blutgerinnsel im Kopf hatte. Damals war ich dreiundzwanzig Jahre alt. Mein damaliger Freund und ich wollten gerade Eis essen gehen, als ich plötzlich fürchterliche Kopfschmerzen bekam. Ich weiß noch, wie ich vorm Waschbecken gekniet habe, bis mein Freund mich dort fand und den Krankenwagen alarmierte. »Ich bin dann operiert worden und das Aneurysma wurde entfernt«, erkläre ich ihm. Dabei haben sie mir meine schönen langen Haare abrasiert, fällt mir wieder ein. »Anschließend ist mein Kopf noch mehrfach untersucht worden. Aber es war alles okay und sie haben mich als geheilt entlassen.«

    Bilde ich es mir nur ein oder ist das Gesicht des Sanitäters während meiner Erzählung ernster geworden? Mir gegenüber lässt er sich nichts anmerken. »Machen Sie sich keine Sorgen. Wir finden heraus, was mit Ihnen los ist«, sagt er beruhigend und drückt meine Hand.

    Wieder schließe ich die Augen. Wie lange dauert diese Fahrt denn noch? Die Strecke kommt mir ewig vor. Dann, endlich, biegt der Krankenwagen um eine Kurve und wird langsamer. Wir fahren in ein Gebäude hinein, Schatten dringen durch die Fensterscheiben, dann öffnen sich die Türen. Wir sind da. Zwei Sanitäter nehmen mich in Empfang und fahren mich über einen langen Flur ins Innere der Klinik. Ich friere.

    Jetzt bin ich in einem Untersuchungszimmer und werde abgeschnallt und auf eine andere Liege gehoben. Das fühlt sich besser an. Kurz schüttele ich mich. Der kalte Schweiß auf meinem Rücken ist unangenehm klebrig. Noch immer steckt die Kanüle in meiner Hand. Dafür habe ich den Eindruck, wieder ein wenig klarer sehen zu können.

    Jetzt kommt eine Ärztin auf mich zu. Auch ihr erkläre ich die Sache mit dem Aneurysma. Sie misst meinen Blutdruck, leuchtet mir mit einer kleinen Lampe in die Augen und hört mein Herz ab. Dann überprüft sie meine Infusion. Alles so weit in Ordnung. Nachdem sie mir verschiedene Fragen gestellt hat, beauftragt sie eine Krankenschwester, mir Blut abzunehmen. Wenig später werde ich in den Aufzug geschoben und in ein Zimmer gebracht.

    Jetzt liege ich in meinem Bett und trage einen frischen roten Trainingsanzug. Am liebsten würde ich aufstehen und nach Hause gehen. Bestimmt liegt es an der Schwangerschaft, dass bei mir plötzlich der Kreislauf versagt hat. Aber woher kamen diese Kopfschmerzen …?

    »Wir müssen der Sache auf den Grund gehen«, hat die Ärztin zu mir gesagt.

    Inzwischen geht es mir wieder gut und die Schmerzen sind längst nicht mehr so stark. Ich bin optimistisch. Vorhin waren meine Eltern und Michael da und wir haben geredet und gelacht; für später haben sich noch meine Schwester Claudia und mein Schwager Marko angemeldet. Ich freue mich schon, sie wiederzusehen. Ob sie meine kleine Nichte Ebba auch mitbringen? Sie ist so ein goldiges Kind.

    Ich habe ein schönes Zimmer für mich alleine, mit einem großen Fenster, das ich gerade geöffnet habe. Irgendwie riecht es in Krankenhäusern immer so seltsam. Ich habe den Eindruck, dass die Trainingshose und das T-Shirt diesen komischen Geruch schon angenommen haben. Vorsichtig

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