Ins Herz des Lebens: Hilfreiche Unterweisungen für unseren Alltag
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Buchvorschau
Ins Herz des Lebens - Jetsunma Tenzin Palmo
1
Unbeständigkeit
In den Sutras findet sich ein Bericht, wie der Buddha einmal mit seinen Jüngern durch den Dschungel ging. Er bückte sich, hob eine Handvoll Blätter auf und fragte die ihn Umringenden: »Welche Anzahl ist größer, die der Blätter im Dschungel oder die der Blätter in meiner Hand?«
Die Jünger antworteten: »Die Anzahl der Blätter im Dschungel ist unendlich groß, aber die Blätter, die du in der Hand hältst, sind nur wenige.«
Darauf erwiderte der Buddha: »Ebenso verhält es sich mit dem Ausmaß meiner Erkenntnis und dem Maß dessen, was ich euch sage. Dennoch ist das, was ich euch lehre, alles, was ihr zu wissen braucht, um eure Befreiung zu erlangen.«
Damit ist gemeint, dass der Buddha von dem ungeheuren Ausmaß des Wissens, das er erlangte, als sein Geist sich durch die Erfahrung seiner Erleuchtung gänzlich öffnete, die wichtigsten, die wesentlichsten Elemente auswählte, um uns begreiflich zu machen, wie wir aus diesem Bereich der Geburt und des Todes erlöst werden können.
Zu Beginn seiner Mission betonte der Buddha die sogenannten drei Kennzeichen des Daseins, die drei Merkmale des gesamten Inhalts unserer Erfahrung, die wir für gewöhnlich hartnäckig leugnen. Das erste Merkmal der Existenz ist das Ungenügen. Das Leben, das wir in unserer so verwirrten und gestörten Art normalerweise führen, befriedigt uns nicht. Es ist dukkha. Dukkha ist das Gegenteil von sukha, das Behagen, Vergnügen bedeutet, wenn alles glattläuft. Und dukkha ist das Gegenteil davon. Es ist Unbehagen.¹ Das geschieht, wenn die Dinge nicht so laufen, wie wir gerne möchten. Aber sie entwickeln sich, wie sie es eben tun, ob es uns gefällt oder nicht. Dieses unterschwellige Unbefriedigtsein ist eines der wichtigsten Merkmale unseres Daseins als unerleuchtete Wesen.
Das zweite Merkmal der Existenz ist die Unbeständigkeit. Das dritte Merkmal besteht darin, dass nichts aus sich selbst existiert. Mit anderen Worten, wir versuchen immer, alles zu verfestigen. Wir versuchen, äußeren Gegenständen eine feste Substanz zu geben, und insbesondere möchten wir uns selbst zu etwas Festgefügtem machen. Beinahe automatisch schaffen wir uns einen scheinbar festen inneren Kern, den wir unser »Ich« nennen, und lassen alles darum kreisen: »Ich denke dies; ich empfinde das; ich bin dies; das gehört mir; das ist, was ich bin.« Wir fragen uns üblicherweise nie: »Wer ist dieses Ich, diese Spinne, die in der Mitte ihres Netzes sitzt?«
Unbeständigkeit: Wir versuchen den Dingen Bestand zu geben; wir klammern uns an die Vorstellung von Beständigkeit. Wir sind normalerweise äußerst resistent gegen die Vorstellung von Veränderung, insbesondere dessen, worauf wir Wert legen. Natürlich wollen wir, dass sich die Dinge ändern, die uns nicht gefallen, aber wenn es etwas ist, das uns sehr wohl gefällt, halten wir daran fest.
Es gibt natürlich verschiedene Ebenen des Wandels. Es gibt die grobe Veränderung, so wie das Wetter sich ständig ändert. Die Meere sind in unablässigem Wandel begriffen, das Land ändert seine Gestalt, so dass im Lauf der Zeit alles völlig umgestaltet wird. Daneben gibt es die subtileren Veränderungen in unserem täglichen Leben, in dem unentwegt etwas geschieht. Beziehungen, ein Heim, Besitztümer werden uns zuteil, und dann verlieren wir sie wieder. Unser Körper verändert sich. Wir treten als hilflose, winzige, verletzliche Wesen ins Leben, wachsen heran, reifen, altern, und schließlich sterben wir.
Darüber hinaus gibt es noch einen feineren Wandel des Augenblicks. Tatsächlich hat nichts auch nur für zwei Momente Bestand. Das Leben ist ein ständig fließender Strom. Der griechische Philosoph Heraklit sagte, dass kein Mensch zweimal in denselben Fluss steigen kann. Doch in Wirklichkeit ist es so, dass ein und derselbe Mensch nicht zweimal in einen Fluss steigen kann. Alles ist im Wandel, und deshalb leiden wir.
Das Leben ist unbefriedigend, weil es sich ständig verändert. Es hat nicht den festen Kern, den wir immer fassen möchten. Wir wollen Sicherheit und glauben, dass unser Glück darin liege, sicher zu sein. Daher versuchen wir, den Dingen Dauer zu verleihen. Wir schaffen uns Häuser an, die uns durchaus dauerhaft vorkommen, und statten sie mit Möbeln aus. Wir knüpfen Beziehungen, von denen wir hoffen, dass sie ewig dauern werden. Wir kriegen Kinder und hoffen, dass auch dies unserer Vorstellung einer Identität Festigkeit verleihen werde, etwas, das Bestand hat. Wir haben Kinder, und wir lieben sie, damit unsere Kinder uns wiederlieben, und das geht eine lange Zeit unser Leben hindurch so weiter. Unsere Kinder sind unsere Sicherheit.
Doch das ist eine Täuschung, weil Sicherheit selbst etwas höchst Unsicheres ist. Wahre Sicherheit gibt es nur, wenn man sich in der Unsicherheit häuslich einrichtet. Wenn wir uns mit dem Fluss des Lebens vertraut machen, wenn wir uns damit anfreunden können, nicht sicher zu sein, dann liegt darin die größte Sicherheit, weil uns dann nichts aus dem Gleichgewicht bringen kann. Solange wir danach trachten, etwas zu verfestigen, das Fließen des Wassers anzuhalten, es aufzustauen, damit alles beim Alten bleibt, weil wir uns dann sicher und beschützt fühlen, sind wir in Schwierigkeiten. Diese Haltung läuft dem Fluss des Lebens ganz und gar zuwider.
Alles wandelt sich, von Augenblick zu Augenblick und immer fort. Die Physik belehrt uns heute sogar, dass die Gegenstände, die uns so fest und stabil erscheinen, in Wirklichkeit in ständiger Bewegung sind. Gegenstände sind nicht stabil, sie sind nicht festgelegt oder unveränderlich, obgleich unsere Sinne uns den irrtümlichen Eindruck vermitteln, dass sie es seien.
Wir sehen uns gegenseitig an. Ich sehe dich heute, und morgen siehst du für mich noch immer so aus. Aber du bist nicht mehr derselbe Mensch. So viel hat sich in der Zwischenzeit ereignet, bis zur Ebene der Körperzellen. Die Zellen wachsen und sterben ab; sie verändern sich fortwährend. Auch wir verändern uns laufend in unserem Bewusstsein von einem Augenblick zum andern und zum nächsten Augenblick. Auch wenn wir versuchen, den Dingen Festigkeit zu verleihen und alles beim Alten zu lassen, weil wir uns dann geborgen fühlen, vermögen wir es nicht. Es ist wie mit den alten Burgen. Wir bauen dicke, feste Mauern und denken, sie werden für immer halten, so dass kein Sturmangriff ihnen je etwas anhaben könne. Doch das ist eine Einbildung. Selbst wenn wir versuchen, den Fluss anzuhalten, der unser Leben ist, wird er trotzdem weiterfließen. Wir können den Fluss nicht festhalten, indem wir ihn zu packen versuchen. Man kann den Fluss nur »einfangen«, indem man ihn sachte hält.
Es ist nicht nötig zu leiden. Wenn wir leiden, dann deshalb, weil unser Bewusstsein verblendet ist und weil wir die Dinge nicht so sehen, wie sie wirklich sind. Wir haben Angst, Angst vor Verlust, und es verursacht uns Kummer, wenn wir einen Verlust erleiden. Doch es liegt in der Natur der Dinge, dass sie ins Dasein treten, eine Weile währen und vergehen.
Unsere Kultur tut sich außerordentlich schwer mit dieser Frage des Verlierens, versteht sich dagegen sehr gut auf das Aneignen. Unsere Konsumkultur, besonders in der heutigen Zeit, dreht sich nur ums Habenwollen. Wir werfen die Dinge weg, die gestern in Mode waren und es heute nicht mehr sind, um uns etwas Neues anzuschaffen. Zu unserem eigenen Körper oder dem Körper anderer haben wir jedoch nicht diese Einstellung. Wir glauben nicht daran, dass auch wir von Zeit zu Zeit »recycelt« werden müssen, aber so ist es. Es ist schon eigenartig, dass in unserer Gesellschaft jeder mit bemerkenswerter Offenheit über Sex redet, der in anderen Gesellschaften tabu ist. Dafür ist in unserer Gesellschaft der Tod das große Tabu.
Ich bin in einer spiritistischen Familie aufgewachsen. Meine Mutter war Spiritistin und hielt in unserem Haus jede Woche Séancen ab. Bei uns zu Hause war der Tod ein alltäglicher Gesprächsgegenstand, ein Thema, über das mit viel Enthusiasmus und Interesse geredet wurde. Das hatte nichts Morbides an sich. Als ich einige Male im Leben tatsächlich dachte: »Jetzt sterbe ich«, war meine nächste Reaktion immer: »Mal sehen, was passiert.« Ich denke, das war so, weil in meiner Kindheit der Tod ein Thema war, über das man offen reden konnte. Dafür bin ich zutiefst dankbar, weil in unserer Gesellschaft die Menschen im Allgemeinen beklommen sind, wenn über den Tod gesprochen wird. So viele haben Angst davor, um ihrer selbst oder um anderer Menschen willen. Wir akzeptieren nicht, dass alles, was ins Dasein tritt, eine Weile andauert und vergeht. Es ist ein Kreislauf. Alles ist unbeständig, und es ist unsere Abwehr dagegen, die uns leiden lässt. Wir leben in unseren Beziehungen, hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Angst, weil wir uns so fest daran klammern, weil wir solche Angst haben, sie zu verlieren.
Alles fließt, und dieses Fließen bezieht sich nicht nur auf äußere Dinge. Es schließt auch Beziehungen ein. Manche Beziehungen währen lange und manche nicht – das ist der Lauf der Dinge. Manche Menschen bleiben eine ganze Weile hier, und andere verlassen uns sehr bald. So sind die Dinge eben.
Jedes Jahr kommen Abermillionen von Menschen zur Welt und sterben. Dass wir im Westen das nicht akzeptieren können, ist wahrlich verblüffend. Wir leugnen, dass wir einen Menschen, den wir lieben, jemals verlieren könnten. Es geschieht so oft, dass wir nicht in der Lage sind, einem Sterbenden zu sagen: »Wir sind glücklich, dass du bei uns warst, aber jetzt wünschen wir dir eine glückliche und sichere Weiterreise.« Es ist dieses Leugnen, das uns Kummer schafft. Unbeständigkeit ist nicht nur von philosophischem Interesse, sondern etwas sehr Persönliches. Erst wenn wir mit unserem ganzen Wesen annehmen und in der Tiefe begreifen, dass die Dinge sich unablässig von einem Augenblick zum andern ändern, können wir loslassen. Wenn wir innerlich wirklich loslassen, tritt eine ungeheure Erleichterung ein. Interessanterweise erschließt dies eine ganz neue Dimension der Liebe. Die Leute meinen, dass ein Mensch, der ohne Bindungen lebt, kalt sei, aber das stimmt nicht. Wer einmal herausragende spirituelle Meister kennengelernt hat, die an nichts gebunden sind, wird augenblicklich berührt sein von der Wärme, die sie allen Lebewesen entgegenbringen, nicht nur denjenigen, die sie gernhaben oder mit denen sie verwandt sind. Nichtanhaftung löst etwas sehr Tiefes in unserem Inneren aus, weil sie die Ebene der Angst loslässt. Wir alle haben vor so vielem Angst: vor Verlust, vor Veränderung, und sind unfähig, die Dinge einfach anzunehmen.
Bei Unbeständigkeit geht es daher nicht bloß um eine akademische Frage. Wir müssen lernen, sie in unserem täglichen Leben zu begreifen. In der buddhistischen Übung der Achtsamkeit, das heißt, im gegenwärtigen Augenblick anwesend zu sein, sind wir vor allem davon berührt, dass die Dinge sich in einem ständigen Fluss befinden, dass sie ständig in Erscheinung treten und wieder verschwinden. Das ist wie ein Tanz. Wir müssen allen Wesen Raum geben, ihren Tanz zu tanzen. Alles tanzt, selbst die Moleküle im Inneren der Zellen tanzen. Aber wir machen es uns in unserem Leben so schwer. Wir schleppen unglaublich schwere Lasten mit uns herum wie Wackersteine in einem Rucksack. Wir denken, dass im Tragen dieses großen, schweren Rucksacks unsere Sicherheit liegt. Wir denken, dass er uns erdet. Wir erkennen nicht, wie frei und leicht wir werden, wenn wir ihn einfach abwerfen und loslassen. Das bedeutet nicht, dass wir unsere Beziehungen aufgeben müssen. Es bedeutet auch nicht, dass wir unseren Beruf, unsere Familie oder unser Heim aufgeben sollen. Das hat damit überhaupt nichts zu tun. Es geht nicht um eine äußere, sondern um eine innere Veränderung. Diese Veränderung bedeutet, dass wir etwas, das wir früher festgehalten haben, jetzt ganz leicht in den Händen halten.
Als ich mich unlängst in Adelaide, Australien, aufhielt, zeigte mir jemand eine Reihe von Karikaturen, die andeuteten, wie man die Dinge anfassen soll. In der ersten Zeichnung ging es darum, die Dinge so sachte zu halten wie ein neugeborenes Küken; in der zweiten um unterschiedliche Weisen, Dinge geschickt, ehrerbietig und achtungsvoll, aber nicht zu fest zu halten. Und auf der dritten Zeichnung stand: »Und dann müssen wir loslassen, doch das ist etwas ganz anderes – damit befassen wir uns später einmal!«
Ja, wir müssen verstehen, wie man die Dinge mit leichter Hand und mit Freude hält. Das ermöglicht uns, offen zu sein für den Strom des Lebens. Wenn wir etwas festschreiben, geht dabei viel verloren.
Eingebunden in eine Beziehung mit einem Partner, einer Partnerin, unseren Kindern und anderen Menschen in dieser Welt, legen wir sie vielleicht fest, indem wir ihnen bestimmte Rollen zuweisen, und so sehen wir sie dann. Nach einer Weile erleben wir sie nicht mehr als wirkliche Person im jetzigen Augenblick, sondern sehen nur unsere Projektion dieser Person. Auch wenn sie ganz einmalig sind und sogar im Begriff sind, sich zu wandeln und innerlich zu verändern, nehmen wir das nicht mehr wahr, weil wir nur noch unser Vorstellungsmuster sehen. Dann beginnen Menschen sich miteinander zu langweilen, oder sie bleiben zumindest in einer Beziehung stecken, die ihre frühere Vitalität verloren hat. Wie ich schon sagte, ist das so, weil wir den tatsächlichen Augenblick nicht erleben, sondern nur unsere Sicht der Ereignisse.
Wenn wir etwas betrachten, dann sehen wir es einen Augenblick, aber dann melden sich sofort unsere Vorurteile, Meinungen und Vergleiche. Sie werden zu einem Filter zwischen uns und der Person oder dem Gegenstand, den wir betrachten, und dieser Filter entfernt uns immer weiter von dem, was ist. Wir sind unseren subjektiven Eindrücken und Vorstellungen überlassen, doch die Sache selbst ist nicht mehr da. Das trifft ganz besonders zu, wenn es sich um Menschen handelt.
Wenn von einem Ereignis berichtet wird, ist es bekanntlich so, als würde jeder eine andere Geschichte erzählen. Wir haben alle schon die Erfahrung gemacht, dass jemand einen Vorfall erzählte, den auch wir erlebt haben, und wir uns dachten: »Aber das war doch ganz anders!«, »Das wurde nicht gesagt« oder »So war es nicht, du liegst ganz daneben!« Mit anderen Worten, alles wird unglaublich subjektiv. Wir nehmen die Sache selbst nicht mehr wahr und sehen nur unsere Version davon. Nirgends spiegelt sich dies deutlicher als in unserem Widerstand gegen die Tatsache, dass wir alle uns von einem Moment zum andern verändern. Es ist, als würde uns ständig der Teppich unter den Füßen weggezogen, und das ertragen wir nicht. »Dieser Teppich bleibt genau dort, wo ich ihn haben will, derselbe Teppich, unter denselben Füßen.« Und da das nie geschehen kann, weil die Dinge niemals gleich bleiben können, auch wenn wir es uns noch so sehr einbilden, empfinden wir Schmerz.
Es ist wichtig zu begreifen, dass Glück und Seelenruhe nicht dadurch zu erreichen sind, dass wir nach der vermeintlichen Sicherheit von Dauer und Stabilität streben. Unser Glück gründet vielmehr darin, Geborgenheit im immerwährenden Wandel der Dinge zu finden. Wenn wir uns glücklich fühlen und dadurch imstande sind, im Strom des Lebens obenauf zu bleiben, kann uns nichts aus der Fassung bringen. Wenn wir dagegen etwas so Rigides aufbauen, dass wir wünschen, es möge sich nie ändern – eine Beziehung, ein Arbeitsplatz, was immer –, und wenn wir es dann doch verlieren, bringt uns das völlig aus dem Gleichgewicht. Normalerweise denken wir, dass die ständige Veränderung der Dinge erschreckend ist. Aber wenn wir wirklich begriffen haben, dass es einfach in der Natur der Dinge liegt, zu fließen und sich zu wandeln, kommen wir in ein vollkommenes Gleichgewicht, werden offen und können die Dinge annehmen. Wenn wir dagegen versuchen, den Strom anzuhalten, stagniert das Wasser. Wir müssen die Dinge fließen lassen, dann ist das Wasser immer frisch und klar.
Als ich das erste Mal nach Indien kam, arbeitete ich als ehrenamtliche Mitarbeiterin an der Young Lamas Home School und unterrichtete die Tulkus oder inkarnierten Lamas. Dann ging ich zu meinem Lama Khamtrul Rinpoche und lebte bei ihm. Ich wurde ordiniert, und danach arbeitete ich sechs Jahre als Nonne und diente ihm als Sekretärin. Ich hatte nie Geld, aber er gab mir immer ein Zimmer und natürlich etwas zu essen. Es war also für mich gesorgt. Dann zog die Gemeinschaft an ihren jetzigen Standort, nach Tashi Jong um. Damals war dieses Terrain eine Teeplantage. Es gab noch keine Häuser, und die ganze Gemeinschaft wohnte in Zelten. Da sagte Khamtrul Rinpoche zu mir: »Im nächsten Jahr kommen Sie besser noch nicht nach Tashi Jong, da wir keinen Platz haben, wo Sie wohnen könnten. Gehen Sie daher fort und machen Sie ein Jahr lang Ihr eigenes Ding, und dann, wenn wir gebaut haben, können Sie zurückkommen.«
Die ganze Gemeinschaft ging nach Tashi Jong, und ich wurde in einem Ort in den Bergen namens Dalhousie zurückgelassen. Ich erinnere mich, wie ich auf einem Hügel stand, von dem aus man auf einer Seite über die Ebene und auf der anderen zu den Bergen blicken konnte, und wie ich mir einen Moment lang unerhört verlassen vorkam. Mein Lama war fortgegangen. Die Gemeinschaft war fort. Ich hatte keine Familie mehr, keine Freunde. Ich hatte kein Geld und kein Obdach. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich dachte: »Ach, du liebe Zeit …« Aber dann dachte ich: »Ich habe mein ganzes Leben dem Buddha, dem Dharma und der Sangha geweiht. Gampopa sagt, dass ein Mensch, der den Dharma praktiziert, der sich auf einem echten spirituellen Pfad befindet, niemals verhungert. Also gut, ich habe mein ganzes Leben dem Buddha, dem Dharma und der Sangha hingegeben, sollen sie für mich sorgen.« Sogleich empfand ich eine ungeheure Zuversicht, dass es völlig in Ordnung war, ohne Sicherheit zu sein. In diesem Augenblick ging mir auf, dass die wahre Sicherheit nicht darin liegt, sich an irgendwelche Sicherheiten zu klammern, sondern sie liegt in dem Gefühl, in dieser Unsicherheit geborgen zu sein.
In diesem Augenblick war ich durchdrungen von dem Gefühl, dass es okay ist, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Ich dachte: »Mach dir keine Sorgen.« Das war etwas sehr Persönliches, und ich will damit nicht sagen, dass Sie alle es genauso machen sollen. Viele von Ihnen haben Familie und Freunde, so dass es für Sie anders sein mag. Aber ich empfand sehr stark: Wenn ich meinerseits mir keine Sorgen machte, wenn es mich nicht bekümmerte, dass ich kein Quartier und kein Geld hatte – solange ich fortfuhr, mein Leben dem Buddha, dem Dharma und der Sangha zu weihen, würde sich alles finden. So war es dann auch, und so geschah es weiterhin in all den vergangenen 30 Jahren.
Wir haben zu wenig Vertrauen zum Universum. Vertrauen bedeutet hier nicht, dass wir alle viere von uns strecken und nichts tun sollen, sondern dass wir die Größenordnung dessen begreifen, was vor sich geht. Wir müssen nicht immer alles selbst tun. Wenn wir uns – ich weiß nicht, wie ich es nennen soll –, wenn wir uns in diese Art universeller Energie einklinken können, dann regelt sich alles von selbst. Doch wenn wir versuchen, alles in die Hand zu nehmen, dann hält die universelle Energie sich heraus und sagt: »Gut, dann mach selbst weiter.« Verstehen Sie?
Wenn wir uns aufrichtigen Herzens einer wahrhaft guten Sache zuwenden und wirklich an sie glauben, dann fällt uns alles Nötige zu. Es ist nicht so, dass wir damit ein Bill Gates werden. Wir werden wahrscheinlich immer arm bleiben, aber das macht nichts. Wie Sie alle wissen, geht es im Leben nicht darum, ein großes Vermögen und Besitztümer zu erwerben, aber wir müssen die Zuversicht haben, dass uns die Dinge zufallen werden, die wir benötigen, wenn wir unsererseits tun, was wir in dieser Welt zu tun haben. Dies hängt mit der Frage der Unbeständigkeit zusammen, denn wie alle Dinge im Leben sich verändern, sind auch wir in der Lage, uns mit ihnen zu verändern.
Wir wissen, wie es ist, wenn man flexibel und offen sein und die Dinge loslassen kann, um notfalls eine andere Richtung einzuschlagen. Was Probleme schafft, ist unsere Unbeweglichkeit. Dies bringt uns zu der nächsten wichtigen Frage unseres kostbaren menschlichen Daseins. In zunehmendem Maße versucht unsere auf Konsum fixierte Gesellschaft uns zu überzeugen, dass wir hier sind, um uns zu amüsieren und immer mehr von dem zu ergattern, was die großen Unternehmen produzieren, ganz egal, was für ein Schund es ist. Was dieses Jahr in Mode ist, müssen wir haben wollen. Aber wir müssen es nicht nur haben wollen, wir müssen hart arbeiten, um es auch zu kaufen. Wir denken, dass uns dies Glück verschafft. Wir bilden uns ein, dass es das ist, was Glück bedeutet.
Viele von uns, die das Wesen der Unbeständigkeit ergründet haben, lehnen das ab, aber der Großteil der Welt hat dies nicht getan. Offenbar ist ein großer Teil der sogenannten Dritten Welt gerade in diesem Irrglauben angekommen, dass man umso glücklicher wird, je mehr materielle Güter man besitzt. Viele Menschen, wo immer sie auch leben, meinen, der Sinn des Lebens bestehe darin, es sich gutgehen zu lassen und wohlhabend zu sein. Das bedeutet, mehr oder weniger alle Dinge zu besitzen, die wir uns wünschen: Gesundheit, Glück und genügend Geld für alles, was wir haben wollen. Und wenn es uns gelänge, all diese Dinge zu erlangen, dann wäre es ein gutes und glückliches Leben. Doch wir Menschen besitzen aufgrund unserer Intelligenz und unserer Fähigkeiten das Potenzial, grenzenloses Mitgefühl mit anderen zu empfinden. Wenn wir unser menschliches Potenzial zur Entfaltung bringen, können wir unser Leben für etwas wirklich Sinnvolles, Tieferes und Innerliches einsetzen. Wenn wir unsere ganze Energie und all unser Tun nur darauf verwenden, glücklich zu sein, angenehm und bequem zu leben, unterscheiden wir uns nicht von den Tieren.
Im Leben von Milarepa, der Geschichte eines großen tibetischen Yogi aus dem elften Jahrhundert, steht, dass er einmal in seiner Höhle saß, als ein erschrecktes Reh hereingelaufen kam. Milarepa fing an zu singen, um das Reh zu beruhigen, und das Reh ließ sich neben ihm nieder. Eine Weile danach kam ein Jagdhund in wilder Verfolgung des Rehs in die Höhle gerannt. Auch dem Hund sang Milarepa vor, und der Hund beruhigte sich und setzte sich auf der anderen Seite neben ihn hin. Dann stürzte ein Jäger mit Namen Gonpo Dorje herein. Mein Lama Khamtrul Rinpoche soll übrigens eine Inkarnation Gonpo Dorjes sein. Der Jäger kommt also herein und brüllt vor Zorn, als er das Reh und den Hund so friedlich nebeneinandersitzen sieht. Er versucht, auf Milarepa zu schießen und ihn zu töten, aber die Pfeile prallen an ihm ab. Nach einer Weile beruhigt der Jäger sich ein wenig, und Milarepa singt auch ihm etwas vor. Milarepa erklärt: »Das menschliche Leben wird für kostbar gehalten, aber an dir kann ich nichts Kostbares erkennen!« Später sollte Gonpo Dorje einer seiner bedeutendsten Schüler werden.
Gilt das nicht auch für viele Menschen, die wir kennen? Wir besitzen dieses kostbare menschliche Leben, und was machen wir damit? Inwiefern ist es denn kostbar? Unser menschliches Leben ist nur dann kostbar, wenn wir es sinnvoll anwenden, sonst ist es kein kostbares Leben. Es ist nicht bloß deshalb kostbar, weil wir Menschen sind. Es ist nur kostbar und rar, wenn wir es auf sinnvolle Weise nutzen.
Wir sind nun einmal hier. Ehrlich gestanden, kann ich nicht behaupten, dass ich wüsste, warum wir hier sind. Wer weiß das schon? Aber zumindest können wir, solange wir hier sind, das, was uns eigen ist, als Lernprozess nutzen, denn als Menschenwesen zeichnen wir uns dadurch aus, dass wir wählen können.