Niederösterreich: Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart
By Stefan Eminger and Ernst Langthaler
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About this ebook
STEFAN EMINGER UND ERNST LANGTHALER präsentieren die wichtigsten Ereignisse und Fakten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft.
Sie zeigen den Wandel des Bundeslandes seit dem Ersten Weltkrieg: vom Kronland über die Diktatur des Zweiten Weltkrieges, die Besatzungszone nach Kriegsende und das Dasein im Schatten der Großstadt Wien bis hin zur modernen Europaregion, die Niederösterreich heute ist.
AUS DEM INHALT:
Niederösterreichs Wirtschaft: Land der begrenzten Möglichkeiten
Niederösterreichs Politik: Land im Zeichen des Bauernbundes
Niederösterreichs Gesellschaft: Land des gebremsten Wandels
Niederösterreichs Kultur: Land im Schatten der Großstadt
Stefan Eminger
Stefan Eminger ist Mitarbeiter des Niederösterreichischen Landesarchivs und des Niederösterreichischen Instituts für Landeskunde, St. Pölten.
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Niederösterreich - Stefan Eminger
Dank.
Niederösterreichs Wirtschaft: Land der begrenzten Möglichkeiten
Prägendes Erbe (bis 1918)
„Kann man unter diesen Umständen noch von einem Land Niederösterreich sprechen? Diese – tendenziell mit „nein
beantwortete – Frage der Historikerin Andrea Komlosy führt zum Leitmotiv des folgenden Kapitels. Die Umstände, von denen hier die Rede ist, sind die inneren und äußeren Grenzen Niederösterreichs, die – zusammen mit anderen Bedingungen – den Manövrierraum des Wirtschaftens abstecken. Diese Grenzen lassen das Bundesland nicht als einheitlichen Wirtschaftsraum, sondern als buntes Konglomerat von Regionen erscheinen. Zwar können diese mit Verwaltungseinheiten zusammenfallen; doch meist verlaufen sie quer zu Bezirks-, Landes- und Staatsgrenzen. Eine Region zeichnet sich durch ein bestimmtes Maß an Verfügungsgewalt über Ressourcen aus; mächtige und reiche Regionen steigen zu Zentren auf, abhängige und arme Regionen bilden Peripherien. Ob eine Region eine zentrale oder periphere Stellung im Gefüge des Wirtschaftsraums einnimmt, hängt einerseits von der Art ihrer Einbettung in das politisch-ökonomische System, andererseits von den Deutungen und Handlungen der dortigen Akteure ab. Folglich betrachten wir Niederösterreich als ein Gefüge ungleicher Regionen, das durch über die jeweiligen Grenzen hinausgehende Macht- und Austauschbeziehungen sowie regionale Aktivitäten aufrechterhalten und verändert wird.
Die regionale Vielgestaltigkeit Niederösterreichs ist zu einem Gutteil ein Erbe der Habsburgermonarchie. Das Kronland Niederösterreich umfasste eine breite Palette an naturräumlichen Lagen, die Möglichkeiten und Grenzen der „Urproduktion – der unmittelbaren Nutzung des Landes durch Land- und Forstwirtschaft sowie Fischerei und Bergbau – festlegten: „Lage, Boden und Klima bedingen in Niederösterreich die ganze Reihe von Bewirtschaftungsarten, welche sonst nur in Ländern von grosser Ausdehnung vertheilt gefunden werden
, bemerkte der Agrarfachmann Joseph Roman Lorenz Mitte des 19. Jahrhunderts. Da die Verwaltungseinteilung Niederösterreichs auf die naturräumlichen Eigenarten kaum Rücksicht nahm, legten Agrarstatistiker ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsprechende Einteilungen fest. Diese wurden im 20. Jahrhundert weiter verfeinert, so etwa in den nach Kleinproduktionsgebieten gegliederten Hauptproduktionsgebieten Niederösterreichs: Voralpen, Alpenostrand, Waldviertel, Alpenvorland sowie nordöstliches Flach- und Hügelland. Jedes Produktionsgebiet umfasst charakteristische Formen der Landnutzung: Im Produktionsgebiet Voralpen entfiel der größte Teil der Betriebe auf Grünlandwirtschaften, die verhältnismäßig hohe Waldanteile aufwiesen. Der kleinere Teil umfasste die Acker-Waldwirtschaften des Wechselgebietes, bei denen der Waldanteil zurücktrat und die Dauergrünlandflächen einem stärkeren Ackerfutterbau Platz machten. Diese Betriebe ähnelten jenen des Produktionsgebietes Waldviertel, das sich aus Futterwirtschaften mit größerem Waldanteil und vorwiegend den Getreidebau betonenden Ackerwirtschaften zusammensetzt. Zwischen Waldviertel und Voralpen schob sich das Produktionsgebiet Alpenvorland, welches dieselben Landnutzungsformen wie im Waldviertel erkennen ließ; hier begünstigten die vergleichsweise bessere Verkehrs- sowie klimatische Lage die Intensivierung der Betriebe. Im Produktionsgebiet östliches Flach- und Hügelland mit stark pannonischem Klimaeinfluss machten die Dauerfutterflächen dem Feldfutterbau Platz. In den besseren Lagen gewann der Hackfruchtbau an Bedeutung, und in den Gunstlagen wurde Weinbau betrieben. Etwa je ein Drittel der Höfe entfiel auf die Getreide-, Hackfrucht- sowie Weinbauwirtschaften mit oder ohne nennenswerten Ackerbau. Neben den Klima-, Boden- und Reliefbedingungen des Landes bildeten die Gewässer Niederösterreichs – die Donau als überregionale Verkehrsverbindung zwischen Nordwest- und Südosteuropa sowie die ihr aus den niederschlagsreichen Alpen zuströmenden Flüsse als Energiequellen – entscheidende Voraussetzungen des Wirtschaftens. Zudem schlummerten im Wiener Becken und im Weinviertel Erdöl- und Erdgasvorräte im ansonsten an Bodenschätzen armen Land.
Landwirtschaftliche Haupt- und Kleinproduktionsgebiete in Niederösterreich 1966
Hauptproduktionsgebiet Voralpengebiet: Waidhofen-Scheibbser Gebiet (36), Westlicher Wienerwald (37), Östlicher Wienerwald (38), Niederösterreichische Eisenwurzen (39), Gutensteiner Gebiet (40), Thermenland (41); Hauptproduktionsgebiet Alpenostrand: Bucklige Welt und Wechselgebiet (43); Hauptproduktionsgebiet Wald- und Mühlviertel: Hochlagen des Waldviertels (55), Mittellagen des Waldviertels (56), Östliches Waldviertel (57), Südliches Waldviertel (58); Hauptproduktionsgebiet Alpenvorland: Haag-Amstettner-Gebiet (75), Wieselburg-St. Pöltner Gebiet (76); Hauptproduktionsgebiet nordöstliches Flach- und Hügelland: Wachau (83), Herzogenburg-Tulln-Stockerauer Gebiet (84), Westliches Weinviertel (85), Hollabrunn-Mistelbacher Gebiet (86), Laaer Bucht (87), Östliches Weinviertel (88), Marchfeld (89), Wiener Boden (90), Baden-Gumpoldskirchner Weinbaugebiet (91), Steinfeld (92).
Die regionale Vielgestaltigkeit Niederösterreichs folgte nicht unmittelbar aus dem naturräumlichen Potenzial, sondern erst vermittels dessen Aneignung durch die Gesellschaft. Das Erzherzogtum Österreich unter der Enns mit der Haupt- und Residenzstadt Wien als überragendem Verwaltungs- und Konsumzentrum bildete jahrhundertelang das Kernland des Habsburgerreiches; daher zählte es zu den am meisten privilegierten und entwickelten Regionen im Alpen- und Donauraum. Mit der volkswirtschaftlichen Integration im absolutistischen Zentralstaat seit dem 18. Jahrhundert bildete sich nach und nach eine regionale Arbeitsteilung heraus; dabei bestimmten Ressourcenausstattung, Arbeitskräftepotenzial und Verkehrserschließung die regionalen Entwicklungsmöglichkeiten und -grenzen. Parallel zur agrarischen Arbeitsteilung – einerseits die mit harter ungarischer Konkurrenz kämpfenden Marktfruchtbetriebe rund um Wien, andererseits die stärker auf Selbstversorgung ausgerichteten Betriebe in den Rand- und Gebirgslagen – entstanden im 19. Jahrhundert gewerblich-industrielle Schwerpunkte. Die Großindustrie konzentrierte sich im Wiener Becken und entlang der 1842 eröffneten Südbahn und strahlte in die einmündenden Seitentäler des Ostalpenrandes aus. Zunächst siedelten sich an den Wasserläufen mit Privilegien ausgestattete Textilfabriken an; später folgte die Metall- und Rüstungsindustrie; schließlich bildeten die Fahrzeug-, Maschinen-, Elektro- Lebensmittel-, und chemische Industrie die Leitsektoren. Im Ersten Weltkrieg wurde der Raum Wiener Neustadt zur Waffenschmiede der Monarchie ausgebaut, was der Metall- und Rüstungsindustrie erneut Auftrieb verschaffte. In den agrarisch kargen Abschnitten des nördlichen Waldviertels wie auch der südböhmischen Nachbarregionen, seit 1869 über die Kaiser-Franz-Josephs-Bahn verkehrstechnisch erschlossen, hatte sich seit dem 18. Jahrhundert die hausgewerbliche Textilverarbeitung konzentriert. Diese Textilregion diente seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend als verlängerte Werkbank von Firmen aus dem Großraum Wien, die aus Kostengründen die arbeitsintensiven Schritte der Weberei und Druckerei an Billigstandorte verlagerten. Entlang der 1858 eröffneten Kaiserin-Elisabeth-Westbahn knüpfte sich – im Schatten der dominanten Nord-Süd-Achse zwischen den durch die Kaiser-Ferdinand-Nordbahn seit 1838 erschlossenen mährischen und schlesischen Kohlerevieren und dem am Ende der Südbahn gelegenen Seehafen von Triest – kein geschlossenes Industrieband. Dazu trug auch der Niedergang der jahrhundertealten Kleineisenindustrie in den Eisenwurzen durch die großindustrielle Konkurrenz des Wiener Beckens bei, den nur isolierte Industriestandorte im Ybbs- und Erlauftal überlebten. Einzig das spät industrialisierte St. Pölten und das Traisental bildeten eine Nord-Süd-Achse der Eisen- und Metallerzeugung. Die übrigen Regionen Niederösterreichs, vor allem das Wein- und große Teile des Waldviertels sowie die nicht- und deindustrialisierten („reagrarisierten) Abschnitte des Mostviertels, trugen ein landwirtschaftliches Gepräge. Die regional ungleiche Industrialisierung und „Reagrarisierung
Niederösterreichs bis zum Ende der Habsburgermonarchie äußerte sich in einer Zentren- und Peripheriebildung, die der Wirtschaftsentwicklung im 20. Jahrhundert ihren Stempel aufdrückte.
Industriestandorte in Niederösterreich 1926
Jede Figur steht für 500 Beschäftigte. Wichtige Betriebe mit geringerer Beschäftigtenzahl sind in gleicher Weise dargestellt
Trotz der gewerblich-industriellen Schwerpunktbildungen im niederösterreichischen Wirtschaftsraum seit dem 18. Jahrhundert überwog auch noch in der Spätzeit der Monarchie das agrarische Hinterland: Niederösterreich ohne die Stadt Wien war 1910 mit 52 Prozent land- und forstwirtschaftlich Erwerbstätigen im Vergleich zu den 39 Prozent auf dem Gebiet des heutigen Österreich ein „Agrarland"; der Anteil der gewerblich-industriell Beschäftigten lag mit 29 Prozent etwas unter dem Durchschnitt von 32 Prozent; der Dienstleistungsbereich fiel mit 19 gegenüber 29 Prozent deutlich ab. Freilich fiele dieser Vergleich unter Einbezug Wiens, des Sitzes der niederösterreichischen Verwaltungs-, Wirtschafts- und Kultureliten, anders aus. Dieses Profil – übergewichtiger Primär-, ausgeglichener Sekundär- und untergewichtiger Tertiärsektor – blieb im Großen und Ganzen während des gesamten 20. Jahrhunderts prägend. Gleichwohl heben sich zwei Entwicklungsphasen ab: eine vergleichsweise statische bis zur Jahrhundertmitte und eine dynamische in den Jahrzehnten danach. In die dynamische Phase fiel der – in Niederösterreich gegenüber Österreich um etwa ein Jahrzehnt verzögerte – Übergang von der Agrar- zur Industrie- und schließlich zur Dienstleistungsgesellschaft. In dieser Ära näherte sich das wirtschaftssektorale Profil Niederösterreichs langsam an das gesamtösterreichische an – freilich ohne es bis zur Jahrtausendwende völlig einzuholen.
Wirtschaftliche Zugehörigkeit der Erwerbsbevölkerung in Niederösterreich und Österreich 1910–2001: Anteil in Prozent
Das wirtschaftsräumliche Erbe der Monarchie – das Bündel regionaler und sektoraler Ungleichgewichte – hat in erstaunlicher Weise im gesamten 20. Jahrhundert fortgewirkt und die Möglichkeiten der niederösterreichischen Wirtschaftsentwicklung begrenzt. Natürlich war damit der Gang der Dinge nicht vorbestimmt; die historische Pfadabhängigkeit traf auf die Abhängigkeit vom jeweils aktuellen gesellschaftlichen Kontext – und in diesem Kräftefeld konnte sich der Manövrierraum der Akteure erheblich verändern, verengen oder erweitern. Der Zerfall der Habsburgermonarchie setzte eine solche Veränderung – genauer, eine Verengung – in Gang.
Problematische Umstellung (1918–1929)
Die Niederlage Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg hatte die auseinanderstrebenden Kräfte im Vielvölkerreich entfesselt; der daraus folgende Zerfall der Habsburgermonarchie verschob auch Niederösterreichs Außengrenzen. Die Vorstellung der maßgeblichen politischen Parteien, das deutschsprachige Restgebiet („Deutschösterreich) werde sich Deutschland anschließen, musste auf Grund des „Anschlussverbots
im Friedensvertrag von Saint Germain 1919 aufgegeben werden; damit wurde der Kleinstaat Österreich zum Bezugsrahmen des Wirtschaftens. Die Gründungen der Tschechoslowakei sowie Ungarns 1918 errichteten im Norden und Osten des Bundeslandes eine Staats- und damit Zollgrenze; die Angliederung des Burgenlandes, des ehemaligen Deutsch-Westungarns, an Österreich 1921 verlegte die Staatsgrenze ein Stück nach Osten; schließlich zog die Abtrennung Wiens 1922 eine Landesgrenze im Inneren Niederösterreichs – und politisierte den ökonomischen Stadt-Land-Gegensatz. Die neuen Staats- und Landesgrenzen beeinträchtigten oder kappten die gewachsenen, aufeinander abgestimmten Wirtschaftsbeziehungen niederösterreichischer Regionen zu anderen Teilen der österreichisch-ungarischen Monarchie; dies führte zu schwerwiegenden Ungleichgewichten. Den Wegfall der ungarischen Intensivagrarregionen, die einen Gutteil des österreichischen Bedarfs an Getreide, Zuckerrüben, Fleisch und Milchprodukten geliefert hatten, konnte die vergleichsweise extensive Landwirtschaft (Nieder-)Österreichs nicht sofort ausgleichen; um seine hungrige (Stadt-)Bevölkerung zu ernähren, war Österreich zunächst auf ausländische Hilfslieferungen angewiesen und musste in weiterer Folge Nahrungsmittel importieren. Im gewerblich-industriellen Bereich standen Unterkapazitäten bei der Kohle-, Eisen- und Glasversorgung Überkapazitäten in der Metall- und Maschinenindustrie gegenüber; so etwa lagen vier der fünf Lokomotivfabriken der Monarchie in Niederösterreich. Verwickelter war die Situation der Textilindustrie: Hier bestanden ein Überhang im Bereich der Spinnerei im Großraum Wien und ein Mangel im Bereich der Weberei, die in den böhmischen Ländern konzentriert war; dies verbesserte zunächst die Auftragslage der Waldviertler Webereien, verstärkte aber auch deren Abhängigkeit. Desaströs war die Lage der im Ersten Weltkrieg – mit zeitweise 120.000 Arbeitern allein im Raum Wiener Neustadt – aufgeblähten Rüstungsindustrie, darunter der 1915 gegründeten Oesterreichischen Flugzeugfabrik AG (Oeffag), der Wöllersdorfer Munitionsfabrik oder der Austro-Daimler-Werke; der Friedensvertrag hatte Österreich die Waffenproduktion untersagt. Auch die Zentren der „Sommerfrische im alpinen Niederösterreich wurden durch die Verarmung der Mittelschichten im Zuge der galoppierenden Geldentwertung hart getroffen. Einerseits war die Umstellung auf den kleinstaatlichen Rahmen ein Hemmschuh der weiteren Entwicklung, so der Historiker Michael John: „Die Umstellung von der Großraumwirtschaft der Monarchie zur Kleinraumwirtschaft der Republik Österreich, die veränderte Aufgabenstellung der Regionen führte zu gravierenden wirtschaftlichen Problemen.
Auf der anderen Seite verschaffte der Wegfall der Konkurrenz – der ungarischen im Agrar-, der böhmischen und mährischen im Industriebereich – veralteten Betrieben eine Atempause und innovativen Betrieben bessere Marktchancen.
Dem verbreiteten Pessimismus der Umbruchsjahre 1918/19 gegenüber steht der Optimismus, mit dem das offizielle Niederösterreich Ende der 1920er Jahre auf den geleisteten „Wiederaufbau zurückblickte; so suchte ein als „Heimatbuch
titulierter Prachtband in Text, Zahl und Bild das Vertrauen seiner Leserschaft in das Land und dessen Verwaltungs- und Wirtschaftseliten zu stärken. Tatsächlich konnte der durch Landwirtschaftskammer, Bauernbund und Genossenschaften straff organisierte Agrarbereich mit Erfolgszahlen aufwarten: Anbauflächen, Viehstände und Erträge stiegen und überschritten bald das Vorkriegsniveau; die vormals extensive Land- und Viehnutzung wurde – im Rahmen einer zunächst liberalen Markt- und Preispolitik – intensiviert. Zudem hatten die Nachkriegsinflation die bäuerlichen Schulden weitgehend aufgefressen und die „Schattenwirtschaft im und nach dem Krieg zusätzliche Einkünfte eingebracht. Jedoch zeigten die landwirtschaftlichen Einkommen ein deutliches Gefälle von den Getreide- und Hackfruchtwirtschaften in der Ebene zu den Grünland- und Waldwirtschaften in den Bergen. Die moralisch abgesicherte Versorgung des Gesindes als Teil der bäuerlichen „Hausgemeinschaft
wurde – auch durch die Agitation sozialdemokratischer Landarbeitergewerkschaften – zunehmend ausgehöhlt; zugleich besaßen die Landarbeiter/-innen, die im östlichen Niederösterreich in Konkurrenz zu slowakischen Saisonarbeitskräften standen, bis zur Einführung der Kranken- und Unfallversicherung 1928 noch keine arbeits- und sozialrechtliche Absicherung. Folglich kennzeichnete eine mitunter krasse Ausbeutung – die freilich auch bäuerliche Familienangehörige betraf – die ländlichen Arbeitsverhältnisse.
Agrarstatistische Kennzahlen Niederösterreichs um 1910 und 1930
Weitaus problematischer als der Agrar- entwickelte sich der Gewerbe- und Industriesektor in den 1920er Jahren. Nach kurzem Aufschwung durch inflationsbedingte „Kaufwut" städtischer Mittel- und Oberschichten und Aufträgen mittel- sowie großbäuerlicher Betriebe verschlechterte sich durch den sanierungsbedingten Kaufkraftrückgang seit Mitte der 1920er Jahre die Auftragslage der Gewerbetreibenden merklich; so stützten sich viele Betroffene mit ausschließlich Familienarbeitskräften zunehmend auf ihr zweites, landwirtschaftliches Standbein. Der überregional orientierten Wiener Neustädter Eisen- und Metallindustrie, einem der wichtigsten Rüstungszentren im Ersten Weltkrieg, misslang die Umstellung von der Kriegs- zur Friedensproduktion – ganz im Gegenteil zur oberösterreichischen Rüstungsschmiede Steyr, der zunächst die Umstellung auf die Fahrrad- und Automobilerzeugung gelang. Während hier die Arbeitslosigkeit grassierte, waren dort hochqualifizierte Fachkräfte mit der Fahrzeugproduktion beschäftigt. Etwas weniger trist stellte sich die Lage im Raum St. Pölten dar. Die 1903 gegründete Voith AG stieg mittels bahnbrechender Innovationen zu einer Firma von Weltrang auf. Mit der marktgängigen Erzeugung von Papier- und Zündholzmaschinen sowie Wasserturbinen – darunter auch die erste Kaplan-Turbine, eine Flügelradturbine mit verstellbaren Schaufeln – stieg der Beschäftigtenstand auf 1.500. Die Erste Österreichische Glanzstofffabrik, die Chemiefasern aus Zellulose herstellte, wurde mit 3.000 Beschäftigten zum personalstärksten Betrieb der Region. Die Harlander Zwirnfabrik wurde nach einem Eigentümerwechsel konsolidiert. Auch das Gewerbe suchte sich flexibel den veränderten Bedingungen anzupassen; so gründeten die Einzelkaufleute der Region St. Pölten bereits