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Gegen die Gezeiten
Gegen die Gezeiten
Gegen die Gezeiten
Ebook388 pages4 hours

Gegen die Gezeiten

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About this ebook

Ella muss wegen ihres Asthmas eine Zeit auf einer Insel vor der schottischen Küste verbringen. Sie hofft, die Inselbewohner näher kennenzulernen, die eine geheimnisvolle Legende von einem langlebigen magischen Volk umgibt. Doch sie sind Ella gegenüber sehr reserviert und nur der gut aussehende Luke freundet sich mit ihr an. Nach kurzer Zeit kommt Ella jedoch dahinter, dass er sich allein wegen eines Schmuckstücks - ein Geschenk ihrer Mutter - für sie interessiert. Das Kleinod soll ein gestohlenes Artefakt sein, das die Insel und seine Bewohner beschützt. Hängt von ihrem Amulett wirklich das Überleben dieses rätselhaften Volkes ab? Und welche Schuld hat ihre Mutter auf sich geladen? Ella muss tief in der Vergangenheit forschen, um die Zusammenhänge mit ihrem eigenen Leben zu erkennen ...
LanguageDeutsch
Release dateApr 2, 2014
ISBN9783764190361
Gegen die Gezeiten

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    Book preview

    Gegen die Gezeiten - Mia Salberg

    Inhalt

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    Kapitel 19

    Kapitel 20

    Kapitel 21

    Kapitel 22

    Kapitel 23

    Kapitel 24

    Kapitel 25

    Epilog

    Kapitel 1

    Die Ostküste von Schottland im Herbst, das hieß grauer Himmel über grauem Meer, gesprenkelt mit einigen grauweißen Möwen. Der Wind blies Ella ihre kastanienbraunen Ponysträhnen in die Augen und bauschte die rehfarbene Jacke. Ein paar Regentropfen pladderten nieder. Gereizt zerrte Ella die Webpelzkapuze über die Haare.

    Sie schaute auf die Uhr. Nun wartete sie schon eine geschlagene halbe Stunde im rauen Wetter an der Mole von Seaguard auf die Fähre. Sie hustete. Ihre Bronchien krampften sich zusammen, und sie konnte nicht atmen. Sie geriet in Panik und tastete nach dem Inhalator. Das Blut rauschte in ihren Ohren, aber dann verschwand die Anspannung in ihrer Kehle ohne Hilfe des Sprays.

    Gierig sog Ella den Atem durch die Nase ein, um die Luft zu erwärmen. Sonst drohte gleich der nächste Krampf. Kälte löste manchmal einen Anfall aus. Ärger auch. Von beidem hatte sie im Moment mehr als genug.

    Wie war ihr Vater nur auf die Wahnsinnsidee verfallen, das Reizklima an der schottischen Küste würde ihr guttun? Bestimmt war eine Erkältung im Anmarsch! Anders als Peppa mit ihrem flauschigen Welpenfell fror Ella in der scharfen Brise.

    Das schwarz-weiße Fellknäuel zu Ellas Füßen amüsierte sich prächtig. Peppa hielt die Hundenase in den Wind, wieselte zwischen Ellas Beinen hindurch und beschnüffelte ausgiebig jeden Stein, jedes Holzteil und jeden Teerklumpen am Anleger. Sie zog unaufhörlich Richtung Wasser und bellte ein, zwei Mal drängelnd. Aus dem kleinen Maul klang es eher wie ein Niesen.

    »Nein, Peppa, aus!« Ella befreite ihre Gliedmaßen aus der verknoteten Leine. »Wir warten hier. Unser Schiff müsste bald da sein.« Hoffentlich! Sie kramte in der Jackentasche nach dem Handy, um ihre Freundin Nadira anzurufen, die in London zurückgeblieben war.

    Peppa spürte Ellas weggleitende Aufmerksamkeit und winselte leise. Ihre Pfoten tappten überkreuz auf den Holzbohlen. Der Zwergpudel musste mal. Der Platz war dafür denkbar ungünstig, und Ella wollte keinen Ärger riskieren. »Nein, Peppa, nicht!«

    Ihr Blick wanderte über den Hafen und die geschlossene Fish-&-Chips-Bude, an der das Taxi sie abgesetzt hatte. Lediglich drei Boote schaukelten auf dem Wasser und nickten ihr zu. Die kleine Yacht, das schäbige Motorboot und die abgedeckte Segeljolle lagen verlassen da. Es sah nicht so aus, als würde hier jemand unbemerkt das Gepäck klauen.

    »Wir gehen ja, Peppa.« Ein paar Schritte neben der Mole verlief ein schmaler Sandstreifen. Unaufhörlich leckten die Wellen daran, und ein Bächlein mehr fiel kaum auf.

    Ella ließ den Hund von der Leine, und einige Meter weiter hockte Peppa sich kurz hin. Das war es auch schon. Plötzlich gab es für Peppa nichts Dringenderes zu tun, als Muscheln auszugraben und übermütig nach dem zurückweichenden Wasser zu schnappen. Der Hund war noch nie am Meer gewesen, genau wie Ella. Für einen gemeinsamen Badeurlaub hatte die Familie Tellington nie Zeit gefunden.

    Ella verschränkte fröstelnd die Arme vor der Brust. Autolärm trieb herüber, doch das Meeresrauschen schluckte die meisten Geräusche wie ein hungriges Ungeheuer. Fasziniert betrachtete Ella das Auf und Ab der See – wie ein stetig dahinfließender Atem. Beige Wellenkämme schäumten wie feine Spitze. Ella hatte ein paar Stulpen in diesem Farbton eingepackt, um die Wollpullover aufzumöbeln, die sie in der tristen Jahreszeit brauchte. Und ein Nagellack in Petrolgrün war ebenfalls ins Gepäck gewandert.

    »Oh!« Eine besonders kräftige Welle erwischte ihre Turnschuhkappe. Sie sprang zurück. Erst beim zweiten Hingucken sah sie das Geschenk, das die See ihr dagelassen hatte. Aus dem feuchten Sand blitzte ein vorwitziges blaues Auge. Ella beugte sich hinab und befreite das kleine Glasstück aus dem Boden. Es war saphirfarben und glatt geschliffen wie ein Edelstein. Ella rieb den Fund am Ärmel trocken, doch das bewirkte nur, dass sie statt des Saphirs bald nur noch eine abgesprungene, matte Scherbe in der Hand hielt. Der Zauber verblasste mit dem Glanz, den das Wasser dem satinierten Glas verliehen hatte.

    Genau wie mein Leben, dachte Ella und steckte den Handschmeichler in die Jeanstasche.

    Ellas Vater verdiente als Anwalt für internationales Recht in London eine Menge Geld. Ihre Mutter Margaret war eine gefeierte Folksängerin gewesen. Ella war wohlhabend und relativ sorglos aufgewachsen. Aber wenn man unter die Oberfläche ihres Daseins sah, verlor sich der Glamour. Ihr Vater hatte kaum Zeit für sie. Und die Mutter … Ella schluckte die Tränen hinunter und berührte liebevoll die Stelle, wo direkt auf der Haut ihr schönstes Schmuckstück hing, Mums letztes Geschenk.

    »Sind das deine Koffer, oder ist der Zwergdalmatiner mit Gepäck angereist?«

    Ella fuhr herum. Auf der Mole stand ein junger Mann mit einem Mopp dunkler Haare auf dem Kopf. Er war vielleicht zwei, drei Jahre älter als sie selbst, also ungefähr 17. Unter dem linken Arm trug er lässig einen riesigen eingewickelten Karton.

    Was wollte denn der? Ella ging ein paar Schritte auf ihn zu. »Das sind meine Sachen. Ich warte auf die Fähre nach Burron.«

    »Ach, die Fähre«, sagte er spöttisch. »Es gibt nur das Postschiff, und das hast du um zwei Tage verpasst. Das steuert die Insel bloß einmal die Woche an.«

    Das darf doch nicht wahr sein, dachte Ella und merkte, wie aufgeregt sie wurde. Oft verhaspelten sich dann ihre Worte wie gekochte Spaghetti, anstatt schön gerade im Bündel herauszukommen.

    »Und wie … komm ich da jetzt hin?«, fragte sie. Der Ärger half ihr, sich zu konzentrieren.

    »Du kannst mit mir fahren. Ich nehme an, du bist Ella Tellington?«

    »Ja.« Sie legte den Kopf schräg. »Ich warte hier seit einer halben Stunde.«

    »Ich bin Luke«, erwiderte der Junge. »Keine Angst, ich soll dich abholen. Tut mir leid, dass es länger gedauert hat. Ich musste noch Besorgungen machen und Pakete einsammeln.«

    Von wegen Angst, dachte Ella eingeschnappt und vergaß ihre sonstige Schüchternheit vollkommen. »Und jetzt schipperst du mich mit dem Rest der Päckchen auf die Gefängnisinsel?«

    Luke hob für den Bruchteil einer Sekunde die Lider. Seine hellgrauen Augen schienen in einem silbrigen Feuer zu erglühen. Dann lachte er merkwürdig ernst. »Deiner Mutter hat es auf Burron auch nicht gefallen.«

    Ella schnappte nach Luft. Luke konnte ihre Mum unmöglich gekannt haben!

    Er hüstelte verlegen, als sei ihm gerade erst eingefallen, mit wem er da sprach. »Mein Beileid übrigens. Ich hab gehört, was …« Er brach ab.

    Margaret Tellington war vergangenes Jahr bei einem Brand gestorben. Das war auf ihrer Tournee passiert. Ella hatte sich nicht einmal richtig von ihr verabschieden können, der Sarg blieb bei der Trauerfeier geschlossen. Seitdem litt sie unter Asthma, als hätte sie all den Rauch eingeatmet, in dem ihre Mutter erstickt war.

    »Das ist bestimmt nicht einfach«, fuhr Luke fort. »Bitte, gib der Insel eine Chance, ja? Die Seeluft wird dir guttun.« Er sah Ella eindringlich an.

    »Das hoffe ich«, antwortete sie und stöhnte innerlich. Luke klang wie ihr Dad. Er hatte Ella die Kur auf der Heimatinsel ihrer Mutter aufgenötigt, weil ihre Lungenwerte nach drei Erkältungen in Folge dramatisch schlechter geworden waren.

    Auf Burron lag wirklich der Hund begraben. Im Internet gab es nicht einmal richtige Informationen über dieses Kaff, nur eine Erwähnung als Ausflugsziel. Aber sie würde nicht nur einen Ausflug auf die Insel machen, geschweige denn Urlaub, sondern eine Kur. Sie sollte bei den Goodmans wohnen, ihrer Tante Sarah und deren Mann George. Ella kannte Tante Sarah nur von den vorherigen Telefonaten, bei denen sie einen echt sauertöpfischen Eindruck gemacht hatte.

    »Wird schon nicht so schlimm werden«, meinte Luke. »Wir haben eine Strandpromenade für die Gäste, und nach stürmischen Nächten kann man manchmal sogar Bernstein oder solche Dinge finden, die …« Luke verstummte.

    »Ich finde das eben alles nicht besonders aufregend.« Ella zuckte die Achseln und dachte an die enttäuschende Glasscherbe. Wenn sie jetzt bloß schnell gesund wurde und wieder heimdurfte.

    Nun zwinkerte Luke, als hätte er den letzten Gedanken gehört. »Wie lange musst du denn absitzen?«

    »Ich bleibe wohl bis kurz vor Weihnachten. Danach fliegen mein Vater und ich zum Skilaufen in die Schweiz.«

    »Na, die paar Wochen wirst du schon überstehen.« Luke lud nacheinander Paket und Koffer in den kleinen Kutter mit Namen Ginster, der den zweiten Liegeplatz am Pier belegte. Ella war enttäuscht. Insgeheim hatte sie sich etwas Aufregenderes erhofft: eine schnittige Yacht namens Mermaid oder Azur. Doch Ginster, das krautige Gewächs, das in der Heide wuchs, passte eigentlich auch besser zu einer öden Insel.

    Luke hüstelte. »Die Fähre nach Burron legt gleich ab. Wenn die Gräfin von Monte Christo und ihr 102. Dalmatiner belieben, an Bord zu gehen.«

    Ella schüttelte den Kopf, musste dann aber kichern. »Peppa, hopp«, rief sie, und der Hund sprang mit einem Satz hinüber aufs Boot. Luke streckte Ella auffordernd die Hand entgegen. Sie schlug ein und machte einen großen Schritt über die Reling. »Übrigens ist Peppa ein Pudel.«

    »Schaut mir nach einer wilden Promenadenmischung aus. Ich hab noch nie einen gefleckten Pudel gesehen. Ihr Hinterteil sieht ja aus wie mit Pfeffer bestreut.«

    Was glaubte der wohl, worauf sich Peppas Name bezog? Peppa schien zu spüren, über wen die zwei da sprachen. Der Hundeschwanz drehte sich wie ein Propeller.

    »Die werden Harlekins genannt«, erklärte Ella und verteidigte die Ehre ihres Lieblings. Sie fand Peppa mit dem schwarzen struppigen Köpfchen und dem sonst überwiegend weißen Fell sehr niedlich. Ein Streifen zog sich über die Hundestirn wie eine lange Locke, die Beine waren komplett hell.

    »Kommst du eigentlich mit dem Hund klar?«, fragte Luke.

    »Wie meinst du denn das?« Hielt er sie für unfähig?

    »Du bist doch zur Kur hier. Viele Allergiekranke haben Probleme mit Tieren.«

    Woher wusste er das schon wieder? »Peppa ist halt was Besonderes«, sagte sie schnippisch. Sie fing den wirbelnden Hund ein und knuddelte das Fellbündel. Obwohl der junge Pudel erst vier Wochen bei Ella lebte, wollte sie nicht auf ihn verzichten. »Pudel sind gut für Allergiker geeignet. Sie verlieren kaum Haare.« Das wusste sie seit Kurzem, weil ihr Vater darauf geachtet hatte. »Aber wenn du es genau wissen willst, ich hab gar keine Allergie.« Hunde waren gewiss nicht der Auslöser für ihr Asthma. Und das ging außerdem niemanden etwas an.

    Ihre Miene musste Bände gesprochen haben.

    »Na, dann fahren wir mal los«, meinte Luke. »Deine Tante wartet bestimmt schon.«

    Er verzog sich in den halb offenen Führerstand und warf ihr eine Schwimmweste zu. »Hier. Anziehen bitte.«

    »Muss das sein?«, fragte Ella.

    »Ja, Befehl vom Käpt’n.« Luke hustete bedeutsam in die geschlossene Faust. »Wir haben nur einen Rettungsring. Pass also auf, dass deine Peppa nicht über Bord geht, und setz dich am besten auch hin. Das ist kein Kreuzfahrtschiff.« Er wies auf die schmale Holzbank neben sich, unter der das Gepäck verstaut war.

    Ella schlüpfte in die Weste, nahm Platz und wickelte sich Peppas Leine ums Handgelenk.

    Luke startete den Motor, doch das Boot bewegte sich nicht. Kein Wunder. Die Ginster hing immer noch an den Pollern.

    Ehe Ella Einwände erheben konnte, ließ Luke sie allein mit dem verwaisten Ruder und machte die Leinen los.

    Ella hielt den Atem an. Sie bereitete sich auf ein vorwärtsschießendes Boot vor, aber nichts passierte. Luke kehrte in aller Seelenruhe zurück. Erst als er den Gang eingelegt hatte, tuckerte die Ginster behäbig aus dem Hafenbecken. Dann wendete Luke das Boot und schaltete höher.

    Hatte er sie mit Absicht erschreckt? Ella wollte sich nicht die Blöße geben und nachfragen, ob das der normale Weg war, ein Boot zu starten.

    Nachdem sie den ersten Schrecken überwunden hatte, wartete gleich der nächste. Das Boot schwankte ganz anständig, und Ella hatte ausgerechnet die Tabletten gegen Reiseübelkeit vergessen. Wie würde das bloß auf dem offenen Meer werden? Bloß nicht seekrank werden, dachte Ella. Sie kraulte Peppa zur Ablenkung.

    Die Maschine war so laut, dass man sich kaum unterhalten konnte, und damit fiel auch Telefonieren flach. Also richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die See. Spiegelte sich eigentlich der Himmel im Wasser, oder war es umgekehrt?

    Sie ließen das Festland und Ellas altes Leben hinter sich zurück, und je weiter sie kamen, desto häufiger lugte die Sonne zwischen den Wolken hervor. Wo die Strahlen die See trafen, leuchtete sie flaschengrün auf. Bei dem Anblick vergaß Ella ihre laufende Nase.

    Die Ginster passierte einen Krabbenkutter, der mit den seitlich angebrachten Netzen wie ein Falter aussah, der ins Meer gestürzt war und nun verzweifelt versuchte, wieder an Höhe zu gewinnen.

    Irgendwann beugte Luke sich zu ihr hinüber. »Die halbe Strecke ist geschafft. Wenn wir uns ranhalten, kommen wir noch rechtzeitig zum Tee. Bist du eigentlich seekrank?«

    Ella schüttelte verblüfft den Kopf. Ihr war kein bisschen übel, und dabei vertrug sie nicht einmal Autotouren und enge Serpentinenfahrten besonders gut. Sie war nach der langen Reise sogar hungrig – bis auf ein paar Sandwiches im Zug hatte sie seit dem Frühstück nichts gegessen.

    »Mir geht’s gut!«, meinte sie.

    Luke brummte etwas Zustimmendes, aus dem Ella nur ein Wie und das Wort Irene heraushörte.

    »Was?«, fragte sie und erhob sich halb, um ihn besser zu verstehen.

    Luke sprach lauter. »Deine Mutter stammte von Burron. Du hast das Meer im Blut.«

    Ella musste sich erst an seinen Akzent gewöhnen. Aber das war eindeutig nicht das, was Luke zuvor gesagt hatte. Ihre Mutter hatte Margaret geheißen, und mit Künstlernamen »Tanya Simmons«. Wer war also diese Irene?

    Soweit sie wusste, hieß aus ihrer Familie niemand so, aber die mütterliche Seite der Verwandtschaft hatte sie bisher nicht kennengelernt. Warum war ihre Mum eigentlich nie mit ihr zu einem Familienbesuch nach Burron gereist?

    Kapitel 2

    Eine halbe Stunde später kamen sie endlich an. Ella sah ein Stück Strand, mit Steinen gegen den Wellenschlag befestigt, dahinter Dünen. Luke steuerte den Kutter routiniert durch die Hafeneinfahrt und legte an.

    Der Hafen war kaum größer als die Mole, auf der Ella an Bord gegangen war. Einige Fischerboote dämmerten hier der nächsten Fahrt entgegen, eines davon war ein Krabbenkutter, wie sie an den Auslegern für die Netze erkannte.

    Eine Häuserzeile kauerte zur Inselmitte hin auf einem windgeschützten Fleck. Schmale Gebäude wie Keksdosen mit winzigen Fenstern, die mit bunten Holzläden verschlossen werden konnten. Es sah aus wie ein Dorf aus Puppenhäusern. Die Stadt – wenn man sie so nennen wollte – war über eine Straße mit der Hafenanlage verbunden. Das war also Burron.

    Als wäre mit der Ankunft der Ginster ein Bann gebrochen, erwachte der Ort aus seinem Dornröschenschlaf.

    Ein rüstiger, älterer Herr mit Stock und Schirmmütze stiefelte hinter der Ecke eines Schuppens neben dem Kai hervor. Er klopfte munter mit seinem Stab an die Bordwand. »Luke? Hast du mein Paket?«

    »Klar, Mr Peters. Und auch den neusten Modellbau-Katalog. Ich bringe alles gleich vorbei. Erst mal müssen nur die Koffer …«

    »Bist ein guter Junge!«, sagte der Mann und tippte sich mit dem Finger an die Mütze. Er schaute in Ellas Richtung. »Das ist sie also.«

    Luke nickte.

    Ella spürte, wie sie feuerrot wurde. Na toll, jetzt sah man wenigstens ihre Pickel nicht so deutlich. Sprachen die beiden über sie? Sie verstand die Wörter mit der harten Aussprache der Schotten mehr schlecht als recht. Am liebsten hätte sie sich hinter ihren langen Stirnfransen versteckt.

    »Na, dann – willkommen auf der Insel.«

    Ehe Ella einen Ton herausbekam, hob Peters die Hand, zum Gruß oder zum Abschied oder vielleicht beides, und machte sich auf den Rückweg.

    Ella knetete peinlich berührt die Hundeleine. Eine Begrüßung wie ein kalter Regenguss. War das hier so üblich? Hilfe suchend schaute sie zu Luke, doch der hievte gerade die Koffer auf den Pier.

    Aus einem Gebäude mit Glasfront, etwa 30 Meter entfernt, trat eine Frau mittleren Alters. Ella durchfuhr es wie ein Blitz. Der Anblick war ihr sehr vertraut, das musste Tante Sarah sein. Doch je näher Sarah kam, desto mehr verlor sich jede Ähnlichkeit mit Ellas Mutter.

    Sarah trug ihre Haare in einer seltsamen Frisur, die aussah, als steckten zwei Zwiebeln unter den Knoten am Hinterkopf. Margaret war ständig in Bewegung gewesen, ein Wirbelwind, und sie hatte gerne gelacht. Ihre Schwester dagegen glich einer ausgeblichenen Parkbank, die schon ewig am gleichen Platz stand. Die Schönheit von Margaret erschien an Sarahs Gesicht herb, die streng gebundenen Haare ließen sie deutlich älter erscheinen als die vierzig Jahre, die sie zählte. Das dunkelblaue Kleid mit den violetten Blüten, das unter der Daunenjacke hervorblitzte, tat sein Übriges. Sarah sah aus wie ihre eigene Großmutter.

    Ella schluckte. Betreten schaute sie zur Seite und erschauderte unwillkürlich. In den Puppenhäusern bewegten sich alle Gardinen gleichzeitig, als ob die Bewohner dahinter im selben Moment aus dem Fenster gelugt hätten. Gruselig!

    Für einen Augenblick überwältigte Ella das Gefühl, auf einer Bühne zu stehen, wie bei der Schulaufführung, als sie ihren Text vergessen hatte.

    Um ihre Verlegenheit und das knallrote Gesicht zu verbergen, beugte sie sich zu Peppa hinunter und nahm den Hund auf den Arm. Das kleine Wesen, das sich in ihre Armbeuge schmiegte, hatte etwas Tröstliches. Kein Wunder, dass ihre Mum es in diesem unfreundlichen Kaff nicht länger als nötig ausgehalten hatte. Ella presste die Lippen aufeinander und sammelte sich.

    Nun war sie bereit für Burron. War Burron auch bereit für Ella?

    »Ihr seid pünktlich zum Tee«, lautete Tante Sarahs erster Kommentar, nachdem sie Luke gebeten hatte, sich der Koffer anzunehmen. Sie musterte Ella von Kopf bis Fuß und zupfte an ihr herum. »Du bist ja das Ebenbild deiner Mutter, Ella.«

    Peppa nutzte die Gelegenheit und befreite sich zappelnd aus Ellas Griff. Sie beschnüffelte ausgiebig Sarahs Schuhe.

    »Hallo, Tante Sarah.« Ella reichte ihr die Hand und hielt mit der anderen den Hund zurück, damit sie nicht gleich unangenehm auffiel.

    »Und das ist also dein Pudel. Ich muss sagen, ihr seht beide ganz schön verfroren aus.«

    Ella lächelte scheu und erwärmte sich für die fremde Verwandte. Sie genoss es, ein bisschen betüddelt zu werden.

    Aber in der nächsten Sekunde schüttelte Sarah missbilligend den Kopf. »Typisch Stadtmensch. Du solltest robuster werden. Es wird ziemlich kühl hier auf der Insel.«

    Ella glaubte kaum, was sie da gehört hatte. Ihre Augen brannten, und Empörung breitete sich in ihr aus.

    »Ich bin doch gerade erst …« Ihre Finger wanderten zum Daumen der linken Hand und zupften dort an einem überstehenden Nagelhäutchen.

    »Lass gut sein«, ruderte Sarah zurück. »Ist ja nicht deine Schuld, dass du woanders aufgewachsen bist.« Die Tante zögerte einen Augenblick, dann umarmte sie Ella steif. »Gehen wir lieber mal ins Warme.«

    Das war Ella sehr recht.

    Sarah führte Ella durch den seitlichen Eingang in das Gebäude mit der großen, dreigeteilten Fensterfront. »Malenas Teekessel« war auf einem hin und her schwingenden Schild zu lesen, das nahezu antik aussah.

    Zu Ellas Erleichterung waren Hunde im Café erlaubt. Die Fassade einmal ausgenommen, die den Blick auf den Hafen und das Meer frei ließ, ähnelte das Lokal einer urigen Kate. Es war eng und gemütlich. Überall auf Borden an der rau verputzten Wand stand angeschlagenes Porzellan aufgereiht. Die Besitzerin schien ausgefallenes Geschirr zu sammeln, auf den Plätzen warteten bereits Zuckerdosen und Milchkännchen in allen möglichen Formen und Farben. Von den zehn Tischen waren nur zwei besetzt, und die Bedienung, offenbar die Inhaberin selbst, eilte sofort zu ihnen.

    Ohne in die Karte zu schauen, bestellte Sarah eine Kanne Assam-Tee und zwei Stücke Teekuchen. »Und was möchtest du trinken, Ella?«

    Die beäugte gerade amüsiert das Sahnekännchen in Form einer Kuh und bat um eine heiße Schokolade.

    »Hübsch hier«, bemerkte sie höflich, während die Kellnerin sich um die Bestellung kümmerte. »Kommst du oft her?«

    Sarah verneinte. »Das Café ist eher für die Tagesgäste auf Inseltour gedacht. Aber nachdem alles von heute auf morgen organisiert werden musste, ist es besser, wir bleiben so lange im Teekessel, bis das Zimmer zu Hause fertig ist. Der Anruf von deinem Vater kam ja sehr kurzfristig.«

    »Tut mir leid, wenn ich euch Umstände mache. Dad musste dringend nach Südostasien, sonst hätte er mich hergebracht.« Ella fühlte sich angegriffen, dabei ärgerte sie sich selbst über die Hauruck-Aktion ihres Vaters. Dennoch hätte Ella bei den Insulanern mehr Freude über ihren Besuch erwartet. Oder war die Zurückhaltung nur folgerichtig? Schließlich war Ella schon fast fünfzehn Jahre auf der Welt, ohne dass die Familie ihrer Mutter sie in irgendeiner Weise zur Kenntnis genommen hatte.

    Aber ob es ihr gefiel oder nicht, sie war auf Tante Sarah angewiesen. »Papa wollte unbedingt die Herbstferien für die Reise nutzen, damit ich in der Schule möglichst wenig verpasse«, erklärte Ella. Sie sollte sich in Burron in aller Ruhe eingewöhnen, hatte er gesagt.

    Lieber hätte Ella noch ein paar unbeschwerte Tage mit Nadira und ihrer Clique in London verbracht, anstatt in aller Hektik Wintersachen für den Aufenthalt auf einem einsamen Vogelfelsen zu packen.

    Sarah tat einen Stoßseufzer. »Tja, und wir dachten, du kämest erst nach den Ferien!«

    In diesem Moment wurden Kuchen und heiße Getränke aufgetischt. Ella war dankbar für die Ablenkung. Die Schokolade dampfte in einer ulkigen bauchigen Tasse mit rundem Henkel, die fast aussah wie eine winzige Teekanne. Ella legte die Finger um das erhitzte Porzellan und seufzte genießerisch, als sich die Wärme ausbreitete.

    »Luke hätte dir eine Decke geben sollen«, sagte Sarah mit kaum verhohlenem Vorwurf. »Aber der Junge hat seine Gedanken immer sonst wo. Na ja, besser als …« Sarah schwieg abrupt und widmete sich ihrem Gebäck.

    Ella tat es ihr gleich. Sie war froh, nichts mehr sagen zu müssen. Der unscheinbare Kuchen schmeckte überraschend gut. Er war locker gebacken und üppig mit einem nach Zitrone duftenden Zuckerguss bedeckt.

    Viel zu schnell war der Teller leer.

    Es war voller geworden in der Teestube. Um sie herum saßen wettergegerbte Fischer, die sich in lakonischen Zweiwortsätzen unterhielten, Männer und Frauen beim Fünfuhrtee, zwei um die Wette strickende Freundinnen sowie ein junges Paar, das einander verliebte Blicke zuwarf. Ein Mann am Fenster spielte mit seinem zusammengerollten Schirm. Gelegentlich klimperte Besteck, Löffel rührten Zucker und Milch in die Tassen, aber abgesehen davon war es bemerkenswert still. Weniger die gelöste Stimmung, die sonst in Lokalen herrschte – eher, als lauschten die Leute mit allen Sinnen nach ihr. Wie Touristen sahen die anderen Gäste jedenfalls nicht aus.

    Das unwirkliche Gefühl, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, kehrte zurück. Ihre Mutter hatte als Künstlerin solche Situationen genossen, doch Ella fühlte Beklemmung in sich aufsteigen, die nichts mit ihrem Asthma zu tun hatte. Wussten diese Menschen, wer sie war?

    Sie wollte hier raus!

    »Ich habe vorhin schon die Häuser bewundert«, griff Ella zu einer Notlüge. »Welches ist denn deins?«

    Sarah trank den letzten Schluck Tee. »Seagull House liegt ein Stück vom Hafen entfernt im Hinterland der Insel«, erklärte sie. »An der Seestraße. Du bist gewiss müde von der langen Zugfahrt. Wir haben dir mein Nähzimmer hergerichtet und mussten rasch alles umräumen. Das ganze Wohnzimmer stand heute Morgen noch voller Sachen.« In ihrer Stimme schwang hörbares Missfallen mit. »Ich habe Luke gebeten, mit anzupacken. Inzwischen sollten die Jungs fertig sein.«

    »Die Jungs?«, fragte Ella und freute sich heimlich darüber, Luke gleich wiederzutreffen. Der behandelte sie wenigstens wie ein normaler Mensch.

    »Luke und dein Onkel George«, ergänzte Sarah.

    »Muss der denn nicht arbeiten?«

    Sarah lachte freudlos auf. »Der hat sein Tagewerk schon lange erledigt. Fischer sind Nachtarbeiter.« Sarah winkte der Kellnerin, aber die kassierte gerade im anderen Teil des Cafés.

    Ella spürte die angespannte Stille ringsum wie eine bedrückende Umklammerung.

    »Ich glaube, Peppa muss mal«, behauptete sie. »Darf ich kurz mit ihr raus?«

    »Natürlich. Du wirst auf der Insel bestimmt nicht verloren gehen.«

    Das klang fast, als wünschte Sarah sich das Gegenteil. Kam Ella derart ungelegen? Oder mochte Sarah ihre Nichte einfach nicht?

    Ella nahm ihre Jacke von der Rückenlehne des Stuhls und warf sie sich um die Schultern. Nichts wie weg hier.

    Sie schlängelte sich an den Tischen der anderen Gäste vorbei und wich dabei allen Blicken aus. Peppa spürte wohl ihre Unruhe, denn auch sie hatte es eilig. Ella hatte die Tür gerade ein Stück aufgezogen, da flitzte Peppa schon durch den Spalt und riss ihr die Leine aus der Hand. »Peppa, nein!«

    Ella zerrte die schwere Tür auf und stürmte hinterher. Sie sah die Gestalt im blauen Seemannspullover und gleichfarbiger Strickmütze erst, als sie schon halb in sie hineingerannt war.

    »Was …?«, stieß der Mann hervor. Ella landete an seiner breiten Brust. Er roch nach Tabak, Salz und feuchter Wolle.

    »Entschuldigung«, murmelte sie, während er sie an den Schultern nachdrücklich von sich fortschob. »Mein Hund ist weggelaufen.«

    »Du bist es?«, fragte er ungläubig und erstarrte. Seine Stimme war heiser. »Du bist es wirklich!«

    Ella wollte sich losreißen, doch nun hielt er ihre Arme wie in einem Schraubstock gefangen und betrachtete sie eindringlich.

    Waren denn alle Burroner übergeschnappt? »Ja, ich bin’s!«, rief Ella. »Sie tun mir weh.« Ella wand sich aus dem Klammergriff des verblüfften Mannes heraus. Sie musste Peppa finden, ehe dem Pudel etwas zustieß.

    »Warte!«, rief der Kerl, aber nun nahm Ella die Beine in die Hand.

    Sie folgte einfach dem aufgeregten Gebell. Die Gezeiten hatten einen Schwarm Möwen in den Hafen geführt.

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