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Die Gärten im März: Roman
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Die Gärten im März: Roman

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About this ebook

Ein Roman voller Sprachwitz und Ernsthaftigkeit, der von kleinen Leuten erzählt, die ein selbstbestimmtes Leben führen wollen. Dreißig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung so frisch und aktuell wie am ersten Tag.

Eines Tages war Ponto einfach verschwunden. Wer war der Mann, dieser Naturbursche, der irgendwann einmal Jura studiert hatte, aber dann ein Aussteigerleben führte und sich lange als Gelegenheitsarbeiter durchschlug? Auch Pontos merkwürdige Beziehung zur mondänen Carla, die so ganz eng war und doch irgendwie erkennbar brüchig, gibt seinen Saufkumpanen Rätsel auf. Einer von ihnen, ein Drucker, der gerade krankgeschrieben ist, versucht dem Verschwundenen mittels vollgekritzelter Bierdeckel und hinterlassener Tagebücher auf die Spur zu kommen - nicht ganz uneigennützig, denn er steckt selbst in seinem Ehealltag, dem Leben zwischen bürgerlicher Idylle und weiter reichendem Anspruch fest. Piwitt zündet ein Feuerwerk von Einfällen, Wortspielen und genauer Beobachtung menschlicher Verhaltensweisen und gesellschaftlicher Zwänge. Ganz unmittelbar lässt er den Leser teilhaben an der Recherche, den Kneipengesprächen, den Zeitdiagnosen, als führe der Erzähler eine Unterhaltung: mit seinen Figuren ebenso wie mit seinen Lesern, "offen, spielerisch, sprunghaft und gelenkig, satirisch und melancholisch, vor allem aber angenehm entspannt" (Wolfram Schütte in der "Frankfurter Rundschau").
LanguageDeutsch
Release dateJan 7, 2013
ISBN9783835323865
Die Gärten im März: Roman

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    Die Gärten im März - Hermann Peter Piwitt

    März‹

    Daß ich mir so was doch verkneifen solle, sagte Zange, solche Unternehmen, solche Gefühle. Daß es geradezu unsolidarisch sei, sich an so was zu verzetteln, wo sie selbst oft nicht wüßten, wo die Zeit hernehmen für die Sache. Nein, er sagt nicht bloß ›unsolidarisch‹, er sagt ›objektiv unsolidarisch‹, die Chance läßt er mir, mich subjektiv im Recht zu fühlen, – ehrlich, was ich mir davon verspräche? Ponto: ein hoffnungsloser Fall, wem der denn nun wohl nütze, was denn daran wohl noch zu beweisen sei?

    Wirklich, ein privatistischer Luxus, sagt Lea.

    Immerhin, sage ich, wir waren Freunde.

    Gut, sagt Zange, aber ob ich denn wirklich glaubte, daß das ausreiche, daß das irgend jemanden interessiere, wo doch die großen Themen auf der Straße lägen. Löhne, Preise, Mieten, Wohnraumvernichtung … Der drohende Abriß der Häuser hier, sagt Zange.

    Ja, wen ich überhaupt damit erreichen wolle, sagt Lea.

    Ich weiß es nicht, sage ich. Ich weiß nur, daß ich es zu Ende schreiben muß.

    Da stehen sie, die beiden, schon in Mänteln. Sind eben aufgestanden, wollen gehen, nun, dann gehen wir wohl besser, da ist ja dann alles gesagt, sagt er, steht auf und schlüpft in den Mantel; ich bringe sie zur Tür. Einen Moment lang stehen wir schweigend im Flur. Zange hat die Pfeife zwischen den Zähnen. Aus Augen, die noch schmaler sind als sonst, späht er an mir vorbei; und als spüre er, daß ich noch etwas sagen möchte, – als gelte es, irgend etwas noch einmal um Verständnis Bittendes, Vertröstendes, einen Vorschlag zur Güte, irgendein in seinen Augen kompromißlerisches Gefühl gar nicht erst bei mir aufkommen zu lassen, lacht er auf einmal durch Zähne, die die Pfeife halten, dieses kurze stoßende Zange-Lachen, das immer wie ›Aha‹ und ›Siehst du‹ und ›Hab ich’s nicht gesagt?‹ und ›So nicht, mein Freund!‹ klingt. Nein, so nicht! sagt Zange, da müsse sich der Herr schon entscheiden, wo er stehe, da gäbe es halbe Sachen nicht. Kein ›Wenn und aber‹, keine Alleingänge und kein ›keine Zeit‹! Und Lea sagt: Ein schöner Freund, wirklich. Oder habe ich nicht recht, Rolf?

    Aus dem Fenster sehend, durch die Scheibe, auf der eine blasse Sonne die Regenflecken abbildet, wenn ich aus dem Fenster sehe, schrieb er, Ponto, sehe ich hinter dem Garten, hinter den Apfelbäumen das flache Land sich hinziehn, Weiden und Äcker, in denen das Schmelzwasser steht, in die sich Wegschneisen legen, Koppelzäune, Gräben, die Luft ist ruhig, und auch ich bin ruhig jetzt, wo ich den Gartenweg hinuntergehe, vorbei am Schuppen, an den Holzstapeln und der umgestürzten Badewanne, die noch immer so liegt, wie er, Ponto, sie beschrieben hatte: umgestürzt und im tiefen Boden halb eingesunken; vorbei am Holundergebüsch, an den Kopfweiden bei der Pforte gehe ich, versuche ich seinem Blick von damals nachzugehen, hinein ins offene Land. Die Gräben sind übergelaufen. Noch am Tag zuvor, als ich im Dorf ankam, liefen hier die Kinder Schlittschuh, konnte man ihre Gesichter, die bunten Wollmützen hinter dem Reet, bis in den frühen Abend vorbeiflitzen sehen; jetzt steht das Wasser zwischen den Horsten alten Grases, naß, strähnig und verklebt liegt es da, die Weiden sind leer, er hatte von Vieh geschrieben, das hier von Grind und Schmutz überzogen, mit vom Fell halbentblößten Rücken und Flanken, den Winter über verkam, von einer Seuche, von glasigen Nebeln, von plötzlich hereinbrechendem föhnigem Sturm, der ihm das Herz abdrücke, sagte er, von den ständigen Schmerzen hinterm Brustbein und dem Wunsch, noch nicht sterben zu müssen, obwohl er nicht wisse, was ihn am Leben noch hielte, da ihn niemand vermisse, brauche, nicht einmal mehr, jetzt wo sie tot sei, seine Katze.

    Hier also war er herumgewandert, am Tag, und nachts, wenn er nicht schlafen konnte, schließlich aufstand und draußen auf den vereisten Wegen bis zum Morgen herumtappte, ein kleiner schon etwas rundlicher Mann, der die Füße beim Gehen nach außen stellt, wie das kleine, etwas rundliche Männer so an sich haben, wenn sie sich besonders gerade halten wollen. Er hatte uns im Herbst verlassen, war mit einem Rest Erspartem hierher aufs Land gezogen und hatte sich noch einmal mit jenem ausgeklügelten System kleiner Zuwendungen und Rituale umgeben, mit dem er sich von dem, wie er sagte, ihm immer qualvolleren direkten Umgang mit Menschen unabhängig machen zu können glaubte, und in dem der Alkohol allemal und immer mehr die Rolle des größten Wohltäters spielte. Dinge, in denen ihm einmalige Zuwendung gewissermaßen auf Dauer gesetzt schien, alte Briefe und liebgewonnene Bücher, gebrannte und geschnitzte Tierfiguren, Fotos, Vogelnester und Steine finde ich und erkenne sie auf seinem Tisch wieder, jetzt, wo die Vermieterin mir das Zimmer aufschließt; ruhig, ein bißchen zu ruhig sei er ja gewesen, sagt sie. Sie bückt sich, sie hilft mir die über den Boden verstreuten Briefe beiseite räumen, damit wir nicht drauftreten. Er muß in diesen Briefen gelesen haben, muß die seit langem verschnürten und abgelegten Päckchen wieder geöffnet haben, bevor er alles stehen und liegen ließ, Hilfe darin gesucht haben, so als sei die ihm einmal darin entgegengebrachte Zuwendung noch immer lebendig, als sei er für die Absender nicht längst vergessen gewesen, eine Episode, unwiederholbare Vergangenheit, als sei Zuwendung eine magnetische Energie, die in diesen Dingen für Jahre überdauerte, in Briefpapier und Fotos, Spielsachen, Widmungen in Büchern und Steinen.

    An die Dachschräge der Mansarde heftet er Postkarten, kleine Drucke, Fotos von Menschen, Gesichtern von Freunden und Fremden, die alle eins gemeinsam haben: von wo er sie auch betrachtet, sie sehen den Betrachter an.

    Seit Herbst, schrieb er, wohne ich jetzt hier, im Haus der Eltern, in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, aber niemand weiß das, nicht einmal die jetzige Besitzerin, daß es mein Zuhause war und ist. Das heißt: ich selbst bin dies Zuhaus. Zum Wohnen genügt mir die Dachkammer, das, was früher der Hängeboden war, die Abstellkammer, hier standen und lagen Koffer von vor dem Krieg und alte Matratzen, das von Motten zerfressene Klavier war hier abgestellt und ausgediente Gemälde, aus denen wir Höhlen bauten; wir stellten Bilder und Matratzen gegen die Dachschräge, krochen dahinter und hörten dem Regen auf den Dachpfannen zu, ich meine, schreibt er, dies aufregende Gefühl, zugleich bedroht und geschützt zu sein: ob ich ihn verstehen könne? Ob ich verstehen könne, weshalb er sich hier eingenistet habe? Daß dieses Haus gewissermaßen in ihm aufgeteilt sei, eine Form des Gedächtnisses, in der er zu sich selbst kommen müsse?

    Ich gebe Lisa den Brief. Sie sagt, jetzt ist er übergeschnappt. Und ich: Wir müssen ihm helfen.

    Helfen? sagt sie. Adoptier ihn doch! Da hat der Junge ein Brüderchen!

    Er hatte es sich so gedacht: Sich selbst auf die Spur kommen, indem er dem Kind auf die Spur kommt, das er gewesen war. Aber die Kindheit überlebte den Versuch, sie zu beschwören, nicht. Er kehrt zurück, die Jahre hinab, in ein Gelände, das er größer, weitläufiger und von magischen haltgebietenden Grenzen umgeben in Erinnerung hat. Ja, er glaubt, jede Böschung, jeden Wurzelstock, jede Baumhöhle, ja sogar die Abdrücke seiner Gummistiefel von damals wiederzuerkennen, nur puppenhaft, zwergenhaft dies alles, jetzt. In den Ausmessungen und Höhenunterschieden seiner Kindheit hatte das Land in seinem Gedächtnis überlebt: ›Ich laufe herum wie Gulliver bei den Liliputanern‹, schrieb er. Aber die Dimensionen des Gedächtnisses wichen denen, die das Auge neu vermaß: ›Das Land liegt wie abgeschieden da. Wie die Einbildung eines Fremden.‹ Und dann: ›Das Haus fällt mir über dem Kopf zusammen!‹

    Aha, sagte Zange. Und ich kann ihm nicht widersprechen; denn das Wort, das er jetzt zwischen Zähnen und Pfeifenstil hat, macht das Rechthaben leicht, so leicht, daß er selbst es sich verkneift und es Lea überläßt, und die sagt dann: Entfremdung.

    Nicht wahr, Rolf, so sagt man doch, das wolltest du doch sagen? Dann bleiben Briefe und Anrufe aus.

    Es sind jetzt zwei Monatsmieten, sagt die Vermieterin, die er mir schuldet. Sie gibt mir zum Abschied die Hand, so als könne ich ihr das Geld beschaffen. Ich kenne weiter keine Angehörigen, sage ich. Das Beste ist, Sie packen seine Sachen in einen Karton und warten, bis er wieder auftaucht. Wenn Sie keinen Platz haben, nehme ich ein paar Sachen mit zu mir. Inzwischen können Sie wieder vermieten. Auf der Straße kommt mir Lisa mit dem Jungen entgegen. Es ist ein schöner Tag im Frühjahr geworden, wie damals vor knapp einem Jahr, bevor Ponto dann verschwand. Die Luft ist erdig kühl. Der Himmel noch niedrig und kaum unterscheidbar von den rauchigen klinkerfarbigen Wolken, die am Horizont feststehen. Wir gehen ein bißchen. Wind ist aufgekommen, von der See her, und überall stehen Lerchen in der Luft. Es war Ponto, der einmal zu dem Kind sagte, daß Lerchen gar keine richtigen Vögel seien, sondern nur welche zum Aufziehen. Wenn sie aufsteigen und zwitschern, läuft eine Walze ab, weißt du, wie in einer Spieluhr. – Aber Lisa sagte, erzähl ihm nicht so was. – Das war damals. Jetzt fragt es, wie eigentlich der Wind entsteht. Ich habe es mir selbst nie vorstellen können. Daß keine Kraft dahinterstehen sollte, sondern daß die Kraft erst ausgelöst würde durch das Zurückweichen von anderer Kraft. Aber ich versuche es ihm so zu erklären. Mit den warmen aufsteigenden Luftschichten, dem Sog und so. Selbst wenn er es noch nicht begreift. Ponto hätte eine Geschichte erfunden.

    Ich sage ›zuhaus‹ und ›Sportlerschanze‹ und versuche, ihn mir im Gedächtnis wieder aufzubauen dahin, wo er damals stand, an der Rundung des Tresens, gegen das Fenster hin, schwarzhaarig, nicht groß, aber breit in den Schultern, ein Gesicht, das hier nicht zuhaus war, aber auch nicht in die Studentenkneipen der Umgebung paßte, von wo sich manchmal ein paar Bärte hier herumdrückten in der Hoffnung, uns ausfragen, abkochen zu können. Reviergefühle vor fast schwarzen Augen unter glatten, zu den Schläfen hin merkwürdig auseinanderfließenden Brauen, kleines Kräftemessen über den Tresen weg: ich erinnere mich, ›einen unrasierten David‹ nannte Pocher, die hanseatische Hoffnung, ihn später; aber nichts davon, nichts von der florentinischen Schwuchtel, nicht einmal die schmale schöne Nase, die weder fleischig noch knochig war, sondern einfach die haushälterischste Lösung in einem Gesicht, das still und aufmerksam war wie das eines kleinen Tagraubvogels in Gefangenschaft … Und bei ihm, dick und schwer angetrunken, den Ring aus Silber im Ohr und auf dem Kopf wie immer die ortsbekannte Ballonmütze, mit Platz für dreizehn Brötchen, dazu die Bierflasche wie zur Balance am ausgestreckten Arm: der ›Baron‹, wie wir ihn nannten, ein Maurerpolier, der hier den Thekenkönig machte in der ›Schanze‹, wo wir uns wochenends trafen, nach dem Fernsehn, für ein paar Korn vor dem Schlafengehen, oder wie Ponto dann sagte: ›Für einen Kopfschuß.‹

    Die Schanze gehörte zu den vielen Wirtschaften im Viertel, die von ihrem Stammpublikum fast allein existierten. Schon ein Stamm von zirka zwanzig Gewohnheitstrinkern – vorausgesetzt sie zahlten prompt – genügte, um einen Laden dieser Art über Wasser zu halten. Alfred, der Wirt, ein Mann wie ein Knorpel, ein Gesicht glasig grau wie ein ausgekochter Gelenkknorpel, hatte sich extra ein Schrotgewehr und zwei Schäferhunde angeschafft, damit wir uns bei ihm wohlfühlten. Und wer solche Vorsicht übertrieben fand, dem erzählte er gern die Geschichte seines Vorgängers, der eines Tages Ausländer reingelassen habe. Türken, Griechen, Jugoslawen. Die Serben schlugen sich mit den Kroaten. Und die Griechen, sagt Alfred, gingen sich gegenseitig in die Pomade. Also war der Mann erst seine Stammkundschaft los; und dann haben sie ihn auf der Müllkippe gefunden – in einen Teppich gewikkelt. Nu, was ich nu dazu sagen würde? fragt er. Er behaupte ja gar nicht, daß das Türken gewesen seien. I wo, das sei fern von ihm. Zugestoßen habe vielmehr der Liebhaber der Wirtin, und der sei ein Loddl gewesen, von hier, der Geld wollte.

    Aber hätt ja auch anders kommen können, oder?

    Und ob das hier vielleicht ein Kriegsschauplatz sei? Kreta? Saloniki? Weißt du, sagt er, ich sage denen immer: das Amselfeld ist nicht hier. Nix da! Hier gibts nur Amselfelder. Vino kosovsko, ponimajo? Verstehn? Und das kapiern die gleich, – und schieben ab, die Zwockel!

    Ich sage ›zuhaus‹ und ›Sportlerschanze‹ und ›Alfred‹, der glaubt nicht anders überleben zu können, obwohl ihm doch Rentner im Wert von ein paar tausend Mark Zechschulden pro Jahr wegsterben, deutsche; und das sieht er schon: daß auf die Nationalität kein Verlaß ist. Gib mir zwanzig gutverdienende Türken, stille Trinker mit festem Wohnsitz: und ich schmeiß das ganze Gelumpe raus, sagt er, das deutsche, das mich nur Geld kostet! Aber so? ›Feierabend!‹, wenn jemand in der Tür steht, der in gebrochenem Deutsch die Tageszeit wünscht. – Und gleich die rote Karte hinterher! Das verstehn sie, das ist international.

    Hilft aber auch das nicht, sind mit diesem unbeschreiblichen Geräusch, das Hundeklauen auf Linoleum machen, Alfreds Schäferhunde an der Tür.

    Eine Vitrine mit Eisbein und Aspik, Dauerwurst und Piccolos. Darauf eine Lampe mit einer Sektflasche als Fuß. Eine Sparbüchse in Form eines Schiffes für Spenden zur Rettung Schiffbrüchiger. Im Paneel links Gewürze, dünnhalsige Flaschen für Essig, Öl und Maggi. Eine Brotschneidemaschine. Ein Stapel Tabletts, Plastik, holzgemasert. Würfelbecher aus Leder, Kaffeefilter. Ein Foto von den Hunden in goldlackiertem Rahmen. Ein Wimpel des Sparclubs ›Hohe Kante‹. ›Sup di vull und fred di dick – un hol din Mul von Politik‹ als Mahnung in Holz gebrannt vor den Regalen mit den Likören, Weinbränden und Schnäpsen: Du hast das hundertmal gesehen und irgendwann siehst du es nicht mehr. Aber es gibt eine Art von Müdigkeit, die hellhörig macht: irgendwann, wenn sich ihre Bedeutung nicht mehr fassen läßt, sammeln sich alle Geräusche auf einem einzigen Horizont um dich. Das Platzen der Schaumbläschen auf dem Bier, das kleine Rauschen, das lange anhält; denn Alfred schenkt gut ein, das ist seine Art, Ehre einzulegen: daß wir auf seinem Bier Platz nehmen können. Ich höre Sätze wie ›der König kam von dir‹; und sie enthalten die Nachricht, daß ich sie hören kann, nichts weiter. Die Rede ist von reinschmeißen, reinschmieren, einen Fuchs fangen, von einer Ziege, die man nicht mit nach Hause nehme, von brotloser Kunst und Kleinvieh, das Mist macht. ›Pfunde‹ werden angekündigt, eine Belle, eine Terz. Jemand sagt: Da geht er hin und singt nicht mehr! Gewerkschaft! sagt jemand, geh mir los mit Gewerkschaft! und: ob nun alles klar sei? Da ist das Klickern der Würfel im Becher und das Scheppern der Groschen, wenn sie in die Tülle des Rotomaten fallen. Und plötzlich vom Ende des Tresens her die Stimme des Barons, laut, Schleim schleppend und um jene Idee zu hochdeutsch, die bei einem Typen wie ihm Gefahr bedeutet: Ob er da wohl richtig gehört habe? rief er; und ich habe sie heute wie damals im Ohr, die Stimme, im kaputten Ohr, zwischen dem Sausen, dem Schwindel, dem bohrenden Kopfschmerz klingt sie mir nach: Ob er das wohl gefälligst mal wiederholen möchte, der Herr, diese Beleidigung; denn das sei ja wohl eine Beleidigung gewesen, geradezu, gegen seine Frau. – Und dabei stößt er dem Schwarzhaarigen neben sich den Kopf vors Gesicht.

    Aber der dreht nur die Nase ein bißchen aus der Schnapsfahne und sagt: Ich habe niemand beleidigt. Ich habe nur gesagt: Deine Frau ist still und bescheiden – und sie hat eine gute Figur!

    Nicht, daß eine Schlägerei gleich im Anzug gewesen wäre. Krücken, wie sie in der Schanze saßen, taten sich nicht mehr ernsthaft weh. Und wenn es einmal wirklich etwas setzte, pfiff Alfred die Hunde. Lokalverbot aber konnte sich hier keiner mehr leisten; denn nach Alfred kam nichts mehr. Von Alfred erwartete nur Kredit, wer woanders keinen mehr bekam, nicht mal mehr im ›Goldenen Handschuh‹. Und der Baron wußte das. Wenigstens, solange er nicht versuchte, die Endsilben zu betonen. Klang seine Stimme aber im Suff plötzlich nüchtern, hochdeutsch, konnte man wetten, daß er schon von Sinnen war vor Wut.

    Ich jedenfalls, den er mit seinen Endsilben aus dem Dösen aufgeschreckt hatte, bekam – ménièresche Symptome hin und her – im Lauf der Zeit ein Ohr dafür. Und ich bin nicht sicher, heute, wo ich daran zurückdenke, ob nicht auch ich dir eins aufs Maul gewünscht habe, damals, für deine Antwort, Ponto. Denn jeder im Karree kannte den Baron, jeder seine Frau. Und jeder wußte, wie es um beide stand. Er hatte eine Affäre mit der Witwe, der die meisten Häuser in der Straße gehörten; und er versuchte, seine Frau mit Prügeln daran zu gewöhnen. Er schlug sie, wenn er nachts betrunken nach Haus kam. Hinter dem beleuchteten Fenster hörten wir sie sich anschreien. Daß er ihr keine Ruhe lassen werde. ›Bis du so aussiehst, daß dich niemand mehr anguckt!‹ Beim Krämer sah Lisa sie ein ums andere Mal, blaugeschlagen. Aber sie riß ihm immer wieder aus, blieb manchmal tagelang weg. Die Telefonnummer unseres Reviers hatte sie sich ins Handgelenk geschrieben, sie zeigte sie herum. Daß er sie einmal aus dem Fenster werfen würde, war ziemlich sicher. Aber was wußtest du, damals mit all dem dunklen Bock, den du schon auf dem Block hattest, Ponto, unter soviel gestandenen Schluckern?

    Den Film komplett haben. Den ganzen Heimatfilm. Die gediegenste Versammlung von Einzelgräbern im Viertel, wie Alfred sie nannte, der es wissen mußte; denn er pflegte sie. Sie saßen da und standen wie jeden Abend. Heinz voran, Fischereifachmann: daß Heringe von Westamerika einundvierzig Gräten mehr haben, erzählt er jedem, der es nicht hören will. Sein Anzug ist neu, ein unerhörtes Blau, ein Azur wie Leuchtfarbe, er trägt den Garantieschein für fünfundvierzig Prozent Wolle immer bei sich, er zeigt ihn mir. Dazu das kanariengelbe Hemd. Und um den Hals die Riesenfliege noch einmal in Blau, mit gelben Punkten drauf. Weißt du, sagt er zu Jupp, daß Neufundländer die einzigen Hunde mit Schwimmflossen sind? Aber Jupp hört nicht und macht ein Gesicht dazu, als träume er seinen Zähnen nach, die er bei Cherson verloren hat, durch Skorbut, bis auf einen – sagt er –, den hat er im Portemonnaie, und wer will, kann ihn sehen; aber Gebiß behält er nicht bei sich, da muß er kotzen. Is ja nun wohl auch nicht nötig, wo er sich nur noch flüssig ernährt, sagt Alfred. Ich sehe Tatjana, die aus Reval sein will und nichts kann außer ›Kalinka‹ singen, das aber auswendig; und ihren Mann daneben, dessen Salär sie ausgibt; denn er ist ein geborener Glockmann, von Glockmann & Söhne, ein Wikingergesicht, ein Wotan auf Rente – aber wenn er den Mund aufmacht, kommt nur Gebell. He, Glockmann! ruft Tatjana. Und er bellt. Und das hieß: ›Laß meinen guten Namen in Ruh!‹ Blieb Bodo, zwei Bier weiter, mit einer Reederei für Seebestattungen eben in Konkurs gegangen, Bodo mit den ewig blütenweißen Rollkragenpullovern, den gemusterten Westen und gestickten Hemden: ein kleines vertrocknetes Gesicht. Das Wassergrau der zu vielen Schnäpse schien ihm durch die Haut geschlagen, eine Haut wie Zellophan, das auf einem Einmachglas Falten zieht, Bodo: unverständliche Sätze auf einen nassen Zigarrenstummel kauend, während er sich mit einem Bürstchen die Nägel poliert: Wirklich, es waren alle an Deck. Und Achim, ganz außen, den sie ›Achse‹ nannten, schläft wie immer der Frühschicht entgegen, pro Bier ein Stündchen.

    … wacht aber im Moment auf und bestellt für sein warmgewordenes ein frisches, während

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