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Aurum: Die goldene Ära
Aurum: Die goldene Ära
Aurum: Die goldene Ära
Ebook892 pages11 hours

Aurum: Die goldene Ära

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About this ebook

Das Ende aller Tage und Nächte steht unmittelbar bevor und der Schlüssel unserer Rettung und die des Planeten Erde liegen in einem längst untergegangenen Kontinent. Atlantis.
Mit einem selbst entwickelten Raumschiff reist eine Gruppe des Projekts Rebirth zum Sternbild Eridanus und wird im Verlauf der Reise mit ihren tiefsten Ängsten konfrontiert. Sie erkennen ihre wahren Wurzeln, lassen los von all den suggerierten Phobien, erfahrenen Schicksalsschlägen und Traumata. Die Reise zu diesem dunklen Ort ist gleichzeitig eine Reise zu ihrem innersten Selbst. An ihrem Ziel angekommen entdeckt die Forscher-Gruppe die Ruinen einer existierenden antiken Stadt. Doch sie werden verfolgt. Ein Team der Gegenseite will der Rebirth-Crew ein jähes Ende setzen. Werden sie sich retten können und existiert diese Stadt wirklich?
LanguageDeutsch
Release dateApr 7, 2015
ISBN9783990387597
Aurum: Die goldene Ära

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    Aurum - Christian Andreas Senn

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    Impressum

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

    Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

    Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

    © 2015 novum Verlag

    ISBN Printausgabe: 978-3-99038-758-0

    ISBN e-book: 978-3-99038-759-7

    Lektorat: Dr. Kerstin Maupate-Steiger

    Umschlagfoto: Christian Andreas Senn

    Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

    www.novumverlag.com

    Widmung

    Für Dich, Martin

    Teil I

    „Wir werden nicht dadurch gut, dass wir versuchen, gut zu sein, sondern indem wir die Güte wiederfinden, die bereits in uns angelegt ist, und zulassen, dass sie hervorscheint."

    Martin Senn, 1985–2006

    Prolog

    Die kuppelförmige Mitte des Raumschiffs war in einem ziemlich abgenutzten Zustand, die Größe kolossal. Darin hätte ein Planet Platz.

    „Bringen sie uns doch bitte näher ran", befahl der Commander barsch und tippte ein paar Befehle in sein Touchscreen-Steuerboard ein, das die kleine Aufklärungsfähre navigierte. Mit mittlerem Schub glitt sie näher ans Stahlmonstrum heran. Die Mitte des Schiffs war wirklich eine Kugel. Eine halsähnliche gerade Konstruktion führte aus der Kugel heraus und endete ebenfalls in einer Kugel, die aber wesentlich kleiner war. Das muss die Kommandobrücke sein. „Ich scanne nun die Oberfläche des Schiffs", brummelte der Kopilot.

    Wieder gab er Befehle in seinen Computer ein, diesmal empfing der Kopilot die Daten.

    „Die Stahllegierung ist abgenutzt und unreiner Natur. An einigen Stellen gibt es Vertiefungen, die vermutlich durch äußeren Druck entstanden sind oder durch Kollisionen mit Mini-Asteroiden oder Weltraummüll", erklärte der Kopilot, ein pummeliger Kerl mit roten Haaren und einem Gesicht voller Sommersprossen.

    Der Commander nickte beiläufig, dann gab er folgenden Befehl durch die Kommunikationsanlage an seine Mannschaft durch: „Wir gehen hinein ins Schiff. Machen Sie sich startklar für einen Besuch!"

    „Verstanden, Commander", antwortete eine Frauenstimme durch die Anlage.

    „Die Stahllegierung ist zu massiv, um annähernd genaue Informationen über den Inhalt des Schiffs zu erhalten, Commander", warnte der Kopilot und fuhr durch einen Knopfdruck einen Fangarm aus, der sich an einer Außenbordluke des Kolosses festkrallte.

    „Vermutlich ein Transportfrachter vom Amanda-Haufen", spekulierte der Kopilot und zuckte mit seinen breiten Schultern.

    Der Commander war skeptisch und vorsichtig. In seiner Berufslaufbahn als leitender Offizier einer Aufklärungs-Raumpatrouille hatte er viele Überraschungen erlebt. Er erinnerte sich an die Zeit nach der Stunde-Null, als seine Zivilisation buchstäblich beinahe ausgelöscht worden war. Jahrelang plagten ihn schreckliche Albträume, jahrelang lebte er in schwerster Depression und Angst. Die Welt, die er kannte, die Welt seiner Vorfahren war untergegangen und erschuf sich neu. Die Menschen, die überlebten, waren diejenigen, die auch die Kraft hatten und den Mut eine neue Zivilisation zu gründen. Er gehörte zu diesen Gründervätern, bevor er aus dessen Realitätszweig verschwand. Damals war er noch ein naiver Knabe. Sein Gedächtnis modifizierte sich nach den Depressionen, seine Gene veränderten sich, sein Körper wurde resistenter und stärker, sein Geist klarer und wacher. Die Angst wurde wegrationiert, Stück für Stück, bis in seinen Zellen keine mehr vorhanden war. Seine Fähigkeiten, seine mentalen Gaben waren geboren worden, doch er entschied sich, sie zu verschweigen, der Crew zu vorenthalten und erst dann einzusetzen, genau dann und nur dann, wann er sie unmittelbar und zwangsmäßig musste. Er erinnerte sich an das wehende weiße Vlies, oder war es doch nur ein sanfter Schleier? Das Zeichen. Gute Erinnerungen, voller Licht und Hoffnung. Doch auch die düsteren Erinnerungen blieben. Die Erinnerung an seinen Heimatplaneten, sein sonniges Land, ans salzige Meer, an den blauen Himmel und an das Licht, das vom Meer herkam, und ihn hierherkatapultierte, in diese Realität.

    „Wir gehen raus!", plärrte eine verzerrte Stimme durch die Kommunikationsanlage, riss ihn schnurstracks aus seinen Gedanken. Auf den vielen Bildschirmen konnte er seinen Spähtrupp verfolgen, die mit Schweißer und Bohrer bestückt durch die Schleusen watschelten – in Spezialanzügen, feuerresistent, strahlensicher, wasserdicht. Gespannt überwachte der Commander den Ablauf. Wieder driftete er gedanklich ab und erinnerte sich an seinen Heimatplaneten, an seine Freunde, die er nach der Stunde-Null gefunden hatte, vor allem an einen Mann konnte er sich äußerst gut besinnen, um sein Herz wurde es warm an den Gedanken an ihn. Er hatte ihn mitgenommen und zusammen waren sie aus dieser brennenden Stadt geflüchtet.

    „Wir sind durch Commander!" – wieder erschrak er, während sein Kopilot ihm mahnend auf die Schulter klopfte, „Sie erwarten ihren Befehl, um in das Schiff zu gehen, Commander." Er wird denken, ich sei komplett neben den Schuhen. Dabei habe ich das Gefühl, das ich dieses Schiff kenne. Irgendwann in meiner Vergangenheit habe ich davon gehört. Oder war es ein Hirngespinst? Ein Traum? Der Leutnant war eine Frau. Zusammen mit zwei anderen überprüften sie den Inhalt des riesigen Schiffs.

    „Wir müssen die Brücke finden."

    „Leichter gesagt als getan", antwortete der Unteroffizier und in seinem Ton schwang Spott mit.

    „Hier drüben!, rief der Kadett, noch ein halber Junge, der unbedingt etwas Bewegung in die Sache bringen wollte, „hier leuchten LEDs auf, da ist eine Konsole.

    Er drückte ein paar leuchtende Knöpfe, da erhellte dumpfes Licht den runden Raum, dessen Wände verglast waren. Durch sie erblickten die drei wort- und fassungslos den Inhalt der überdimensionalen Kuppel. Nervös kaute der Kopilot auf seinen Fingernägeln herum, als die Bilder auf die Schiffsschirme übertragen wurden.

    „Was in aller Welt …", staunte er und erstarrte in seinem Sessel. Der Commander hingegen wirkte eher, als hätte er geahnt, was auf sie zukam. Das Innenleben der riesigen Kuppel des fremden Schiffs war eine einzige Landschaft mit Flora und Fauna und einer völlig intakten Stadt. Zwei künstliche Sonnen, die in Wirklichkeit gigantische Scheinwerfer waren, dienten als Lichtquellen dieser Welt.

    „Eine W-W-Welt in einem R-R-R-Raumschiff, d-das ist, d-das ist W-W-Wahnsinn", stotterte der Kopilot.

    „Ja, das ist es, eine Welt", bestätigte der Commander. Er erinnerte sich nun.

    „Suchen Sie nach organischem Leben, aber bleiben sie in Sicherheit, befahl er, „das ist unmöglich, das ist ein Wunder. Kaum hatte er den Satz zu Ende gemurmelt, trafen die Scandaten des Trupps ein. Keine humanen Lebewesen an Bord. Sie haben nicht überlebt, sie sind tot. Alle?

    „Was ist das für ein Schiff, Commander?", fragte der Kopilot scheu, der unsicher auf seinem Sessel herumrutschte.

    „Das ist … das war …", wie ein Klumpen blieben die Worte in seinem Hals stecken. Er schluckte. Es schauderte ihn.

    „Commander, alles in Ordnung? Erst jetzt meldete sich wieder der Leutnant zu Wort: „Wir haben die Kommandobrücke ebenfalls gefunden, einen Stock höher. Da sind all die Logbücher gespeichert worden. Es gibt ein voll eingerichtetes digitales Archiv von Logbüchern. Es ist unglaublich …

    Die sonst so coole Frau klang irgendwie hysterisch. Er konnte es ihr nicht verübeln, denn er kannte das Schiff und deren Erbauer. Und jetzt schoss all das Verdrängte hoch in ihm, dass es ihm schwindlig wurde. Er schmeckte Blut in seinem Mund und plumpste hart in seinen Sessel zurück, als der Unteroffizier sich zu Wort meldete: „Sir, Commander, das Schiff stammt von einem Planeten namens Erde. Der Name des Schiffs ist Afterglow."

    1

    Illusion

    Es donnerte und blitzte, zischte und brauste. Die kolossalen massigen Marmorsäulen der Heroenstadt hielten dem allzerstörenden unbändigen Sturm nicht stand, wankend riss es sie aus dem noch so starken Fundament heraus und fielen mit ohrenbetäubendem Getöse und ihrem immensen Gewicht zu Boden, spalteten den schimmernden Bernsteinflur auf und zerbarsten in unzählige Splitter. Das Ende der goldenen Ära war vorherzusehen, das Ende aller Tage und Nächte, es war die Apokalypse, das Jüngste Gericht und im Antlitz der düster schwarzen Wolken verging die Hochblüte dieser Kultur im Nu. Riesige Wellen brachen zischend und fauchend und brausend vom Meer her herein. Eine gewaltige Erderuption verursachte gleich mehrere Riesenwellen, die sich auftürmten und dröhnend über die im Sonnenlicht flimmernden Zitadellen und Bollwerke hereinkrachten. Wie Spielzeug riss es die mit Lianen umschlungenen Tempelkomplexe ins Nichts, die Leuchtturmanlagen und Phalanx, die Kupferdächer und Goldbrunnen, die blutroten Rubinzinnen und gelbgrünen Bernsteinpaläste. Plötzlich ertönte monumentales Gedröhne, Furcht einflößend, erschütternd und bebend. Es war, als würde der Himmel auf Erden fallen, die grellen Blitzlichter färbten sich giftgrün und der blecherne helle Klang der Posaunen erschallte immer schriller und ohrenbetäubender und plötzlich – da wurde es still. Das tiefe Donnergrollen setzte aus, die Blitze waren weg, das Wasser wich der Stadt und die schwarzen Wolken lösten sich auf, warme Sonnenstrahlen durchdrangen die pechschwarzen dicken üppigen Wolken, es war vorbei.

    Doch sobald das Licht einkehrte und die Ruhe, war alles Substanzielle, alle Materie vom Erdboden verschluckt worden. Alles, was aufrecht gestanden hatte und himmelwärts ragte und den Himmeln Trotz bot und wuchs ohne Ende, ohne Maß, war wie verschlungen worden, weggeschwemmt, verschluckt, eine Zivilisation ohne Geschichte, ohne Biografie – eine Welt ohne Nachkommen, ohne Stimmen, ohne Chöre, ohne Echo verzehrt auf mysteriöse Weise.

    Darius Lovejoy – 4. September 1934

    In den unzähligen Regenpfützen, in denen sich die Lichter der haushohen Straßenlampen spiegelten, konnte man fast die Umrisse der imposanten Gebäude, der Läden und Restaurants erkennen. Es regnete ununterbrochen, schon seit Wochen suchte ein sturmähnliches, beinahe orkanartiges Wetter London heim. Es war nicht untypisch für diese Jahreszeit. Lange Menschenschlangen drängten sich dicht aneinander, um an Hustensaft oder Kupfer-Zink-Tinkturen zu kommen.

    Man war froh um jeden Regenschirm, meist reichte ein einfacher Regenschutz oder gar eine Pelerine nicht mehr aus. Nebst dem Dauerregen war es bitterkalt und unangenehm feucht, und wenn die urbanen Londoner Droschken überfordert waren, dann nahm man die Straßenbahn.

    Die Dächer der University of Westminster waren derart steil gebaut, dass ein Schirm nicht mehr ausreichte, um den herunterprasselnden Wassergüssen standzuhalten. Die Böden der voluminösen Vorhalle der Universität glichen deswegen einem Tümpel. Die Vorhalle war zu dieser Zeit menschenleer, gerade eben noch rauschten die Studenten in den Sitzungssaal, um einem besonders delikaten Vortrag zu lauschen. Doktor Professor Darius Lovejoy, ein Mann von Welt, Sohn eines englischen Sprachlehrers und Offiziers und einer jüdischen Philosophin, studierte Archäologie und Geschichte am Oxford College. Er war ein wissbegieriger junger Mann voller Enthusiasmus für seine Berufung, der das Einzelgängerdasein bevorzugte und das Zölibat. Er war der steten Überzeugung, dass Freundschaften enden würden mit dem Konflikt der Wahrheit über den Kosmos. Mit den merkwürdigen Gewohnheiten, die er besaß, hätte er auch nie Freunde finden können, geschweige denn eine Lebensgefährtin. Darius war pflichtbewusst und erhaben, manche stuften ihn als arrogant und eigensinnig stur ein, andere als zu freidenkerisch, geradezu atheistisch.

    Er war aber anders, weltoffen und tolerant. Er glaubte an eine höhere Macht, er selbst nannte sich in der Autobiografie, die er bereits mit zwölf Jahren anfing auf Pergament zu kritzeln: der Religionslose, der glaubt. Mit seinem Scheitel jedoch glich er eher einem SS-Offizier als einem Kosmopoliten. Die weiblichen Studenten wagten ihn deshalb immer wieder gern Obersturmbannführer Liebesspiel zu nennen. Es störte ihn nicht, er war von sich überzeugt und von dem, was er sagte. Meist eröffnete er die Vorlesungen mit einem Zitat eines großen Denkers, obwohl Darius nicht viel für große Denker übrighatte, denn sie neigten alle zu Wahnsinn und Krankheit. Diesmal war Friedrich Nietzsche an der Reihe, wobei er bei seinen Vorgesetzten während des Zweiten Weltkriegs nicht gerade punktete. Jori Lovejoy-Goldstein, die Mutter, war aus einer edlen jüdischen Familie aus dem Osten Europas. Sie war eine authentische und eigenbrötlerische Persönlichkeit und veröffentlichte eine Reihe interessanter Schriften über die Auflösung des Individuums in der Masse. Colm Lovejoy war als Agent tätig und wurde für heikle Missionen in Frankreich eingesetzt. Dort hatte er unter anderem die Aufgabe, geheime deutsche Kriegseinrichtungen aufzudecken und eine Liste dieser Lager vor dem britischen Verteidigungsministerium zu präsentieren. Er war den Briten wertvoller als loyaler Agent, denn als Offizier wurde er als zu lasch eingestuft. Darius Lovejoy stand auf dem Podium vor mehr als vierhundert Studenten und sprach mit erhobener Stimme, die voller Stolz klang: „Blicke in die Welt, als ob die Zeit weg sei, und dir wird alles Krumme gerade werden."

    Er spähte an die beachtliche Stuckdecke, als ob er auf die Fußstapfen eines vorüberhuschenden Geistes suchen würde und nickte irgendwie gedankenverloren. Dabei schmunzelten die Studenten vereinzelt.

    „Die Zeit ist ein seltsames Ding. Gibt es sie, oder bilden wir sie uns bloß ein?", er durchlöcherte die schmunzelnden Gesichter einzelner Studenten, denen ganz plötzlich das Lachen verging.

    „Die Zeit ist ein Tyrann, nach dem wir uns richten, nicht besser als Adolf Hitler", donnerte es ungetrübt aus seinem Munde.

    Manchen glühte jetzt der Kopf, andere packten ihre Taschen zusammen und sputeten kopfschüttelnd aus dem Saal, sie hatten spürbar große Mühe mit seinen trefflichen Worten, mit seiner Ehrlichkeit und Direktheit. Die meisten unter ihnen waren vornehme Bürger, Menschen, die ihre Emotionen bewusst oder unbewusst unterdrückten und sich so verhielten, als würden sie leben und es doch nicht taten, sondern kollektive Muster darstellten. Dies munterte ihn geradezu auf und ermutigte den jungen Professor nur noch provokativer zu agieren.

    „Würden wir uns nach dem Kosmos richten, also nach dem Ganzen, wäre dann der Tag noch Tag, und Nacht noch Nacht? Ich denke nicht, ich denke oder fühle, dass die Nacht dann heller wäre als der Tag, erwiderte einer, „Sie sollten schlafen in der Nacht und nicht arbeiten, dann würden Sie nicht solchen Käse zusammen quatschen!

    Lovejoy konnte kaum noch gerade stehen, denn die Studenten lachten ihn nun hemmungslos und laut aus. Er gab sich jedoch nicht geschlagen, denn er war ihnen allen im Geiste überlegen. Er klatschte sich in die Hände und sagte: „Gewiss, junger Mann, Sie haben alle bemerkt, dass ich einen etwas speziellen Tagesablauf bevorzuge. Ich studiere die Menschen, sie alle! Wenn ich zu den Sternen schaue und erkenne, wie tief die Nacht ist, wie tief die Seele ist, denn die Nacht symbolisiert unsere Seele."

    Lovejoy legte seine Hände auf die Brust und schloss seine Augenlider. Einer der Studenten stand auf und sagte empört: „Sie sind ein Träumer, ein Nachtschwärmer, einer der zum Hyde Park rennt und dort von dem Leben träumt, das er sich innigst wünscht." Somit war das Maß voll. Darius fühlte sich unverstanden, doch dieses nagende Gefühl kannte er allzu gut. Schon seit geraumer Zeit war er der Außenseiter-Professor, der Mann ohne Boden, der Mann ohne Substanz, der Mann, der lieber als Öllumpen hätte durchgehen sollen, als Drama Queen in einer dieser neuen abstrusen und schrillen Shakespeare-Aufführungen, in denen die Akteure nackt über die Bühne hüpften und gackerten wie Gänse. Der Mann, der die Geschichtsstunde zur Lach- und Märchenstunde verwandelte und selbst zurückhaltende Gemüter im Gesicht erröten ließ. Trauer. Schmerz. Bin ich von dieser Welt? Dieses Volk, es ist mir fremd. Befremdend. Urkomisch. Tragikomisch.

    Das Missverstandenwerden war sein schlimmster Schmerz, in all den jungen Jahren sein ständiger Begleiter gewesen, es löste in ihm Ängste aus, Existenz- aber auch Verlustängste. Er konnte nicht anders und drehte der Masse den Rücken zu, lief eilend, stillschweigend und verstört aus dem Hörsaal. Die Studenten klatschten markerschütternd laut und noch lauter, sodass der Marmorboden leicht vibrierte und es noch in der Vorhalle zu hören war. Er war definitiv am falschen Ort. Sein kleines Büro war ordentlich und gepflegt und doch lag immer wieder dieselbe Strickjacke irgendwo herum, diesmal hing sie über der Stuhllehne vor dem schmalen Schreibtisch. Es überkam ihm ein behagliches, ja heimeliges Gefühl, wenn Kleidungsstücke über der Stuhllehne hingen, vor allem aber diese konventionelle altmodische Strickjacke. Ein Geschenk seiner liebvollen ihn umsorgenden Mutter. Auf seinem Schreibtisch lagen Bleistifte, streng nach Farbe geordnet und ein Radierer. Er verzichtete auf ein Telefon, ebenso auf das Lesen von Zeitungen und Magazinen. Der Direktor der Universität, Derek Altman, hatte ein zwiegespaltenes Verhältnis zu Darius. Einmal unterstützte er ihn und ein anderes Mal ließ er ihn im Stich. Darius trank gerade seinen Earl Grey Tee mit einem Zitronenschnitz und wenig Zucker, als Altman ungeschickt in den Raum trampelte mit einem Stapel Briefe, die an Lovejoy gerichtet waren. Lauter Beschwerden über seine Schul- und Lernmethoden. Altman setzte sich auf den störrischen Stuhl, sodass er unter seinem Übergewicht ächzte und knarrte. Die Strickjacke fiel auf den kalten Holzboden, das kümmerte Altman nicht.

    Er stöhnte auf und seufzte: „Wir haben ein Problem, Darius." Doch in seiner Stimme war kein Mitleid zu erkennen. Altman schien vielmehr froh darüber zu sein, diesen nervigen Individualisten bald loszuwerden.

    Darius nickte besonnen und streckte seine rechte Hand zu den vielen Briefen hin und bemerkte: „Gib sie mir alle, ich werde sie in den Eimer da donnern, ich bin zu viel mehr geboren worden, Derek!", dabei holte er tief Luft, als stünde ein unangenehmer und unumgänglicher Kündigungsprozess vor ihm.

    „Ich, ich, ich kann es nicht verhindern mein Freund, es ist aus, ich kann dich nicht halten, das wäre auch mein Ende, stotterte Altman, während er sich ein verwaschenes Taschentuch aus der Hosentasche zog und sich damit seine Schweißperlen von der glänzenden Stirn wischte. Es war ihm peinlich, das sah man Altman an. Darius lachte aus vollem Halse und blickte dabei aus dem Fenster und sprach in todernstem Ton: „Siehst du all die Bauwerke, Derek?

    Altman runzelte seine Stirn und antwortete fragend: „Was meinst du? Ich kann dir nicht folgen", dabei nahm er seine Pfeife aus seiner Sakkoinnentasche und ein Päckchen Borkum-Riff-Tabak. Immer wenn ihn Darius überforderte mit seinem spirituellen Gequatsche, griff Altman nach seiner Pfeife, um interessiert und altklug zu wirken.

    „Was sind sie schon wert, die Bauwerke? Wir sind es nicht mal wert, ihr seid es nicht wert, ihr habt nichts, aber auch gar nichts begriffen. Ihr lebt oberflächlich in den Tag hinein und habt das Gefühl Gott zu sein, dabei seid ihr Primaten, domestizierte Primaten", donnerte es unvermeidlich aus Darius’ Mund.

    Altman stand auf, riss sich die frisch gestopfte Tabakpfeife aus dem Mundwinkel und bebte stotternd: „Wie, wie kannst du es wagen, wie nur Darius! Da ist die Tür! Da! Geh doch nach Nazi-Deutschland, dort werden sie dich mit Handkuss nehmen, dort kannst du deinen Humbug der Jugend erzählen!", er polterte im Marschschritt aus dem Raum und schleuderte die Türe fest zu. Darius war über das Unverständnis nicht enttäuscht, das ihm Derek Altman entgegenbrachte, im Gegenteil, er lächelte erhaben und packte seine Sachen zusammen. Darius lief über die nasse Straße zu einem der Pubs, es war ein Mister-Pickwick-Pub, heruntergekommen, aber gemütlich und gesellig. An einem runden Eichenholztisch saßen Uniformierte, englische Polizisten, die irisches Bier tranken und dabei Darius auf Schritt und Tritt beobachteten. Er setzte sich an die Bar und bestellte gleich einen Krug London Pride. Neben ihm saß ein alter, verwahrloster Mann mit langem dreckigem Bart, einer durchlöcherten Mütze und strahlend blauen Augen.

    Er grinste Darius verschmitzt an und fragte: „Was ist passiert, mein Sohn, warum bist du so besorgt?"

    Darius musste schmunzeln und antwortete darauf: „Ich bin nicht besorgt, ich bin bloß am falschen Ort. Hier versteht mich keiner, er füllte seine Lungen mit muffliger, modriger Publuft und erklärte weiter, „die Menschen in England sind stur und engstirnig. Sie meinen, sie seien modern, indem sie ihre eigene Seele verraten.

    Der alte Mann setzte sich zu Darius und legte sanft seinen Arm um seine Schulter: „Ist die Birne reif, fällt sie von selber vom Ast."

    Der alte Mann sagte dies mit einer Leichtigkeit, die man nur durch ein langes irdisches Leben erlangt. Darius blickte nachdenklich und verständnisvoll auf und strahlte.

    „Ich werde in die Höhle des Löwen gehen, um Frieden zu bringen in das Jammertal der Erde, prahlte Lovejoy selbstbewusst, wie er war, wie seine Mutter war. Der Alte zuckte nur mit den Schultern und sagte: „Tu, was du nicht lassen kannst, mein Sohn! Vielleicht veränderst du ja die Welt.

    Mit diesen abschließenden Worten ging er zurück zu seinem Stammplatz und wandte sich der charmanten Bardame zu. Darius spürte jetzt seinen verletzten Teil in sich, das zutiefst enttäuschte Kind.

    Er schaute sich um im Kreise, um dann wieder bei seinem Krug Bier anzukommen und wisperte vor sich hin: „Ich bin gekommen, um der Menschheit den Frieden zu bringen."

    Nun zog er die Aufmerksamkeit einiger Distrikt-Polizisten auf sich, sie waren scharf auf Pöbel und angetrunken: „He, Dummkopf! Ja du, mit der langen Nase, Pinocchio."

    Darius stellte sich vor die großen Burschen hin, streckte seine Arme weit aus und sprach mit erhobener und bebender Stimme: „Ihr seid weder zwischen Himmel und Erde noch seid ihr sonst, ihr seid nichts und dies ist eure Bestimmung, nichts zu sein und alles, was ihr sein könntet, habt ihr bereits vergiftet."

    Einer der Polizisten, der seine Uniform mit Bier überschüttet hatte, torkelte nach dieser Ansage ein paar Schritte zurück. Ein anderer glotzte ihm verständnislos in die Augen. Einen Moment lang herrschte absolute Ruhe im Raum. Alle starrten Darius verwirrt und verstört an, doch niemand wusste ihm zu antworten, selbst die Polizisten wichen kampflos dem kleinen Mann, der vor Energie nur so strahlte. Er lief hinaus auf die Straße und begab sich zum Oxford Circus, seine Wohnung war da.

    Er stellte sich vor den Spiegel und blickte sich mit Tränen in den Augen an: „Ich bin keiner von euch. Ich wandle unter ihnen, doch bin ich keiner von ihnen, ich bin wer anderes", seufzte er und hob seinen Brustkorb.

    Er schaute sich ein zweites Mal an und krächzte mit fast unhörbarer Stimme: „In mir ist eine Glut, ein Feuer, ich bin ein Anderer, in mir ist das pure Feuer." Nichts konnte ihn mehr abhalten von England wegzugehen. Sein Ziel war Deutschland, und er wusste Bescheid um Adolf Hitler und den Nationalsozialismus, doch er hatte sich vororientiert, und suchte Franz Rosenthal auf, einen Juden und Notar, der enge Beziehungen zu Italien hatte und im Falle einer Judenvernichtung nach Italien flüchten konnte.

    Rosenthals Eltern kannten Jori Lovejoy-Goldstein sehr gut. Joris Vater war ein angesehener Gastronom geworden, nachdem er ehrenhaft aus der Armee entlassen worden war. Er führte sein eigenes Restaurant, das Aquarium hieß und ihm viele Einnahmen bescherte. Rosenthals Eltern hatten ihrem Vater für das Lokal Geld geliehen und so kannten sich auch Franz und Darius sehr gut. Frank Steiner war ein weiterer Vertrauter Darius’ in Berlin, ein Mann des Widerstandes. Er hatte viele Male versucht Essays zu publizieren, in denen er die Machtübernahme Hitlers und der Nationalsozialisten auffällig kritisierte, scheiterte aber immer wieder, bis man schließlich Steiners Komplizen denunzierte und ihm alle existenziellen Mittel einfror – er selbst tauchte unter. Steiner besorgte ihm eine Wohnung an der Karl-Marx-Allee, in der Nähe des Alexanderplatzes in Berlin-Mitte. Es gab da noch einen Juden und Vertrauten Lovejoys, Friedrich Zucker, ein Buchhändler, der in Berlin-Mitte an der Rathausstraße ein Antiquariat besaß. Er war außerdem Intendant der Berliner Hochschule und sehr beliebt bei den Studenten. Er bot Darius ebenfalls eine Leitung an und zwar die des Professors für Kunstgeschichte. Darius Lovejoy war in besten Händen in Berlin. Er war sich seiner Selbst nie so klar bewusst wie in diesen Wochen.

    Nichts hatte er zu verzollen, denn sein ganzes Hab und Gut ließ er in England zurück, das gab ihm ein Gefühl der Freiheit. Das Schiff, mit dem er über den Atlantik fuhr, hieß Freedom, und man hätte meinen können, es sei Zufall gewesen. Am Hafen vor den Docks stand Derek Altman in Schale geworfen, der ehrwürdige Direktor der Westminster University, als sich Darius ihm näherte, verabschiedete sich Altman von ihm: „Es tut mir leid, ich hätte nichts für dich machen können, Darius. Mit dir verlieren wir einen guten Mann."

    Lovejoy antwortete schmunzelnd: „Mit mir verliert ihr den besten Mann."

    „Wie kannst du nur so arrogant sein? Ich glaub das einfach nicht." Empört wich Altman zurück.

    „Ich bin nicht arrogant, ich bin ich, mit Leib und Seele, während ihr dahinsiecht wie sterbendes Ungeziefer", erwiderte Lovejoy Altman.

    Nun war alles gesagt. Übermutig stürzte sich Lovejoy auf den Steg und bestieg die Freedom. Altman winkte nicht, er lachte sich plötzlich halb kaputt und schrie ihm mit dem Körper tänzelnd nach: „Du bist ein Wahnsinniger, ein Irrer, getrieben von einer dunklen Macht!" Der Tag verging, die frische Atlantikluft tat ihm gut, er genoss den Earl Grey auf Deck und kuschelte sich in eine warme Wolldecke. Er schrieb an seinen Memoiren, hatte immer einen Füller und Tinte bei sich und blickte mit einem leichten Schmunzeln, aber auch mit Betrübtheit und Trauer zurück. Es war eine kühle Zeit, eine Zeit des Erkennens meines Ichs. Nun, mein Herz treibt es mitten in den Tümpel des Wahnsinns, in das Herz des Wahnsinns, des Tyrannen Wahnsinns. Ich erkenne mich als Teil eines Ganzen und dieses Ganze sieht in meinen tiefsten Träumen aus wie ein Puzzle. Ein Puzzle, das unvollständig auf dem Tische liegt, nun, ich werde diese letzten Teile finden in mir. Koste es, was es wolle …

    2

    Berlin 1936

    Die angrenzende Schillingstraße war für Überfälle auf jüdische Bürger berüchtigt, man hing dort Plakate auf mit rassistischen Parolen und verprügelte ab und zu einen von ihnen, auch wenn sie nur unauffällig oder gar auf Zehenspitzen auf dem Gehsteig dahingingen. Es genügte allemal für eine Ladung faule Eier oder einen harten Schlag in die Magengrube. Selbst die Einheimischen verhielten sich auf der Straße aggressiv, antisemitisch, daneben und schonten keine Mittel, um den jüdischen Mitbürgern Leid zuzufügen. Darius Lovejoy war integriert worden, zumindest unter Intellektuellen gab es noch einen winzigen Hauch von Ehrgefühl und Respekt vor dem Leben. Er gab Unterricht in Kunstgeschichte und war bei vielen Schülern sehr beliebt, ebenso der Chefintendant, Friedrich Zucker, der die Treppen immer auf und ab ging, um Brotkrümel aufzuheben. Er wirkte manchmal neurotisch, vor allem dann, wenn man die dunklen riesigen Ringe unter seinen Augen sah, die weniger von zu wenig Schlaf herrührten als vielmehr von Eisenmangel und falscher Ernährung, denn Zucker war verwitwet. Er hatte seine Frau bei einer Gasexplosion in den Stadtwerken verloren, in denen sie arbeitete. Er war sehr kleinlich, beinahe übergenau, stammte aus strengem patriarchischem Elternhaus, die selbst in ihrem Schtetl bekannt waren für ihre harten Erziehungsmethoden. Seine Familie stammte ursprünglich aus der Ukraine, dort war Zuckers Vater Tischler und Mutter Zucker sorgte sich voll und ganz um den großen Nachwuchs – über zwölf Kinder hatten die Zuckers, drei von ihnen starben kurz nach ihrer schweren Geburt am plötzlichen Kindstod.

    Friedrich Zucker hatte zwei ältere Schwestern, die immer noch in Lemberg lebten. Dort gab es genug Arbeit, um zu bleiben. Sein einziger Bruder lebte in Norwegen, in Trondheim, dort besaß Gustav Zucker einen kleinen Fischerladen, der zwar nicht gerade gut lief, jedoch über eine treue Stammkundschaft verfügte. Friedrich Zucker war ein gescheiter Mann mit einem scharfen Intellekt. Er stotterte zwar ab und zu, aber dies war ein Signal für Hyperintelligenz. Zucker hatte viele einflussreiche Freunde, darunter auch Deutsche, die ihn warnten, wenn etwas gegen die jüdische Bevölkerung im Gange war. Darius besuchte jeden Tag Zuckers Antiquariat, indem seine Frau, Irmgard Zucker-Lemprecht, Schirmherrin war und immer zuckersüß lächelte, wenn die Ordnungspolizei der SS hereinplatzte.

    Irmgard Zucker-Lemprecht war eine Deutsche aus gutbürgerlichem deutschen Hause, die zwar nichts von Literatur verstand, doch sie war bemüht der Kundschaft nachzukommen und verfügte überraschend über das nötige Grundwissen in dieser Branche. An einem sonnigen Maitag besuchte Darius den Buchladen, Irmgard war nicht aufzufinden.

    „Irmgard? Ich bin’s Darius. Ich habe ein Buch für dich, ein Buch ohne Anfang, ohne Ende. Wo bist du?"

    Misstrauisch schaute er sich um. Es war normal, dass Buchhändler die Angewohnheit pflegten, sich minutenlang in ihrem eigenen Laden nicht blicken zu lassen, doch er schauderte und erschrak und erzitterte, als er das Blut auf dem Fußboden hinter dem Tresen entdeckte. Es war frisches Blut und eine Blutspur führte die alte Holztreppe hinauf zu den Geschichtsbüchern. Lovejoy folgte langsam und gespannt und doch fassungslos der blutigen Spur zu Boden. Er gab sich alle Mühe, keinen unnötigen Lärm mit den Holzabsätzen seiner Wildlederschuhen zu erzeugen, die Treppe knarrte an vielen Stellen, die Darius kannte und sie geschickt umging.

    Auf dem Teppichboden lag eine Walther PPK, direkt am Ende der Treppe. Darius hob sie auf, er wusste um die Waffe, die Polizisten und Kriminalbeamte Ende der Zwanzigerjahre trugen. Sie gehörte Irmgard Zucker. Sie hatte sie unter dem Tresen versteckt.

    „Zur Sicherheit, man weiß ja nie", konnte Lovejoy sie scheu sagen hören. Diese Waffe war alt und produzierte viel Lärm, aber ihre Durchschlagskraft war enorm, doch das Magazin war noch gänzlich voll. Sie wurde überrascht und erschossen. Er kannte auch Feldwebel Ulrich Gräder, Stabsoffizier des Hauptamtes der Ordnungspolizei und somit Teil von Himmlers SS-Apparates. Ein mieser Typ, dem das Böse ins Gesicht geschrieben stand, sadistisch und cholerisch. Wahllos schoss er nachts auf leere Bierdosen und verwechselte sie manchmal mit Menschen, wirres Lachen, zerzauste Haare, clownhafte Körperhaltung, das war Gräder, zusammen mit seinem Unteroffizier, Kommandant der Schutzpolizei, Karl Reuther. Lovejoy ahnte, dass die beiden es auf Zucker abgesehen hatten, und wusste auch um den grundlosen Hass der beiden Offiziere auf Zuckers Stelle an der Hochschule.

    Darius wurde stutzig, und als er sich umdrehte und zum Fenster hinausspähen wollte, erblickte er den leblosen Körper von Irmgard Zucker. Ein Loch in der Stirn, aus dem das Blut geronnen sein musste – das Werk eines Teufels, entschied er. Entsetzen, Empörung, Sprachlosigkeit. Rachegelüste kamen in ihm hoch, die Lust auf Vergeltung, einen brutalen Gegenschlag, doch er wusste um die Falschheit der Rache und versuchte diese zu ignorieren, so gut er konnte, denn auch er und vor allem er war ein Mensch, ein Mensch, der sich auch nicht von religiösem Geschwätz manipulieren und mitreißen ließ und schon gar nicht von dem dummen und leeren Kollektiv-Geplärre der Nazis.

    Darius Lovejoy war kein Mann der Religion, er war ein Mann des Glaubens. Plötzlich stieß jemand knallend die Eingangstüre des Ladens zu und Darius eilte, hechtete die Treppe hinunter, übertrat sich beinahe, sprang die letzten Stufen mit der Walther PPK im Anschlag und schrie wütend: „Ihr Scheusale, ihr grässlichen Scheusale!"

    Wutentbrannt rannte er ziellos auf die offene Straße. Keuchend schoss er wild in die Luft und rief warnend hinaus: „Ihr werdet weinend und zitternd vor den Toren knien!" Sein hysterisches, zorniges Geschrei machte sich breit und war melodramatisch nicht zu überbieten. Worte. Entfernt, aber sich gefährlich nähernd kamen Nazis auf ihn zu.

    „Ein bewaffneter Jude, nieder mit ihm!, ertönte es bedrohlich durch die engen Gassen. Und schon eilte ein bewaffneter Militärtrupp praktisch aus dem Nichts herbei. Feldwebel Gräder war ihr Anführer und er befahl eiskalt und hasserfüllt und doch mit diesem sadistisch-irren Lächeln auf seiner teuflischen Fratze: „Hebt an! Feuer frei!

    Als würde es ihm großen Spaß bereiten endlich herumzuballern. Zuckers Antiquariat wurde von Patronen durchlöchert Einzelne Seiten flatterten in der kalten Luft umher und daraufhin hörte er einen erneuten Befehl aus Gräders Maul schreien: „Brennt das verfluchte Judenhaus nieder! – nichts blieb übrig, selbst der Leichnam der Irmgard Zucker nicht. Darius kam davon, er kannte alle Gassen sehr gut und rannte so schnell er nur konnte zur Hochschule. Er stolperte die breiten Steintreppen hoch, hielt sich schützend vor herumfliegenden Gewehrkugeln die Arme hoch und schrie unter Schock warnend: „Friedrich, die wollen unseren Tod!

    Niemand verfolgte Darius, er war zu schnell. Zucker saß im Sitzungszimmer und besprach das kommende Maifest, dass die Institution jedes Jahr für alle Angehörigen und Lehrkräfte veranstaltete. Darius riss die Türe auf, stürmte in die ruhige Atmosphäre der Sitzung. Er war außer sich, geladen und entrüstet und polterte drauflos: „Irmgard, sie haben sie erschossen und deinen Bücherladen niedergebrannt."

    Zucker stand gelassen auf und beruhigte ihn: „Darius, setz dich! Alles ist gut. Du hattest wahrscheinlich einen bösen Traum, das kommt vor."

    Dann erblickte Darius Karl Reuther, der leger auf einem der Ledersessel saß. Darius zog die Walther PPK und zielte auf den Kommandanten und schrie: „Steh auf, du Nazi! Bete zu deinem vergänglichen Gott, denn dies wird deine letzte Stunde sein. Fassungslos und doch überrascht forderte ihn einer auf, der zur Betriebskommission zu gehören schien: „Waffe runter! Sind Sie verrückt geworden, Professor Lovejoy? Sie sind Engländer, kein Jude, legen sie die Waffe nieder, sofort!

    Alle schauten ihn jetzt an, entsetzt und ängstlich zugleich. Darius’ Puls sank wieder und er knallte die Walther PPK auf den Sitzungstisch, dass die Gläser auf dem lackierten Eichentisch klirrten.

    „Dieses Land ist des Teufels. Ihr seid Marionetten in einem diabolischen Spiel geworden. Es wird nicht lange gehen, so werden sie alle Juden zusammentrommeln und vernichten."

    Reuther lächelte schief, rieb sich die Hände und stand langsam auf, um zum Fenster zu schlendern.

    Mit zu ihren gewandtem Rücken sagte er: „Ihr seid nicht des Todes, Professor, ihr seid des Lebens. Ihr seid ein großer Philosoph, vielleicht der größte Europas, ein großer Denker unserer Zeit vielleicht. Sie wird man nicht umbringen lassen, sie sind zu wichtig für dieses Reich."

    Da war es, dieses Wort. Großer Denker. Schrecklich.

    „Wichtig? Das Deutsche Reich ist bereits besiegt, denn der Krieg ist ein unkosmisches Ding, ein Fehler, der Krieg ist der Feind dieses Reiches, der Frieden wäre der Freund", verdeutlichte Lovejoy mit fuchtelnden Händen.

    Da platzte Gräder mit einem Papier in der Hand in den Raum und brüllte lauthals: „Nun, werter Herr Doktor Lovejoy! Ein edler Nachname, er könnte blaublütig sein, von königlicher Abstammung, ein blaublütiger Hund unser Doktor. Hier ist ein Formular, eine umgehend auszuführende Ausweisung aus dem Deutschen Reiche! Sie haben Irmgard Zucker ermordet mit dieser Waffe hier. Sieh mal einer an, eine Walther PPK, herrlich diese schwere Pistole!"

    „Sie haben sie ermordet, Sie Gräder, Sie und ihr Nazi-Pack."

    „Was ist das denn? Der Versuch einen Stabsoffizier der SS des Mordes zu bezichtigen? Eine Frechheit! Eine gefährliche Frechheit, Jude."

    „Das Einschussloch stammt aus einer anderen Pistole als meiner hier. Einer Handfeuerwaffe der neuen Generation, eine verdammte Handfeuerwaffe wie Sie sie tragen, Stabsoffizier Gräder", erklärte Lovejoy eingehend und er hätte mit seinem fixierenden Blick Gräder durchlöchern können. Stille. Fassungslosigkeit. Verwirrtheit.

    Zucker durchbrach die unangenehme Stille: „Ich wusste es, ihr habt sie kaltblütig abgeknallt."

    Er resignierte. Da erwiderte Gräder völlig gelassen und an den Türrahmen anlehnend: „Nein, er war es, ihr bester Freund. Meine Waffe ist eine Gustloff-Pistole. Das Einschussloch war durch eine Walther PPK entstanden. Wie es scheint, ehrenwerter Herr Kollege Zucker, ist Professor Darius Lovejoy der Mörder."

    „Es gibt keine Beweise für diese Tat, Feldwebel Gräder. Es wird auch keine Untersuchungen geben, wie ich sie kenne", entfuhr es Zucker und Gräder lief langsam rot an.

    Er schien trotz seiner Kälte die Nerven zu verlieren. Jetzt kam er näher und gestikulierte wild mit den Händen und schrie gleichzeitig: „Ruhe! Ihr Juden, ihr seid Abschaum, unvollkommen, ihr stinkt einen Kilometer gegen den Wind. Noch ein Wort von ihnen, Zucker, und sie werden durch meine Gustloff ins Jenseits befördert, durch eine Kugel, die schnell eindringt in ihr entartetes Gehirn."

    Zucker schwieg und schloss seine Augen. Das Ausweisungsformular war echt und Darius musste unterschreiben.

    „Mit besten Grüßen vom Hauptmann der Ordnungspolizei", stichelte Gräder und lutschte sich den Finger.

    Darius Lovejoy hätte nie gedacht, so früh nach London zurückzukehren, doch es machte ihm nichts aus, ihm taten nur seine Freunde leid, die ihm in einem Reich des aufsteigenden Terrors so geholfen hatten. Darius blickte traurig und zugleich dankend zu Friedrich, der verständnisvoll nickte. Zucker wusste, dass Darius nach Berlin zurückkehren würde. Die Frist betrug auf dem Formular nur ein Jahr, das beruhigte Zucker, denn er wusste auch, dass er Darius in Zeiten der herannahenden Unruhen dringendst brauchen würde.

    Schon wieder saß Darius auf dem Schiff. Er hatte zwei Jahre zuvor alles in England aufgegeben, sein ganzes Hab und Gut. Es gab nur eine Möglichkeit: Derek Altman aufzusuchen und ihn um Asyl zu bitten.

    3

    Das Jahr der Forschung

    Nirgends auf der Erde gab es so viele und umfangreiche Bibliotheken wie in dieser Zeit zu London. Darius hatte tatsächlich Altman aufgesucht, doch der lehnte das Gesuch um Asyl dankend und schmunzelnd ab. Darius zog in ein möbliertes einfaches Zimmer ein. Er hatte ein Pärchen auf dem wöchentlichen Flohmarkt kennengelernt, die McEthans, die ihm einen Unterschlupf boten. Es genügte seinen vernünftigen Ansprüchen, einen Schreibtisch, ein Stuhl und ein Bett benötigte er zum Leben, Kleider besaß er nicht viel, und wenn er was brauchte, lieh ihm der spitznasige und rotwangige McEthans etwas Passendes.

    Das meiste stapelte er auf dem Fußboden, er hatte mehr Bücher als Kleider, das verblüffte die McEthans keinesfalls. Sie bewunderten den jungen Mann, den minimalistischen Unbekannten. Darius hatte Gefallen gefunden an dem okkulten Atlantisstoff, den er auf dem Dachboden der geselligen Familie aufgespürt hatte, auf der Suche nach einer lästigen fetten Maus, die sich zwischen den Holzwänden eingenistet hatte und die ihn nachts terrorisierte und unnötig Lärm produzierte.

    Er verfolgte sie, ging dem akustischen Signal des klugen Tieres nach und landete auf dem Dachboden. Mit einem abgebrochenen Ziegel in der Hand wanderte er auf der Suche nach diesem kleinen dickfelligen Terrorist über den dreckigen staubigen Dachboden, abgelenkt durch antike Möbelstücke, einer massiven Wanduhr aus Schieferstein gefertigt, einem Haufen vermoderter Erste-Weltkrieg-Uniformen und einer Truhe aus Nussbaum. Etwas ganz Kleines schimmerte ihn an, es leuchtete förmlich. Er ging hin. Es waren winzige eingerahmte Edelsteinchen auf dem Verschluss der Kommode. Er brach sie mithilfe einer Kleiderstange auf. Lovejoy fand geheimnisvolle Dokumente, gut erhalten, Landkarten, utopische Gegenstände aus einem ihm unbekannten Material. Er war verblüfft, geistig erregt, sein Herz raste. Da war ein Duft. Undefinierbar, irgendwie süßlich, mild, ähnlich dem Duft einer Orchidee. Er plumpste zu Boden, rang nach Sauerstoff. Sein Unterbewusstsein assoziierte etwas – eine Erinnerung!

    Tiefste Sehnsucht durchdrang seine Psyche, er zitterte am ganzen Körper. Dieser Duft, dieser verdammte Duft! Ging es ihm durch den Kopf. Er kannte ihn, er begehrte ihn. Dann beruhigte er sich langsam. Er strich seine schweißnassen Hände an den modrigen alten Uniformen ab, rieb sich den Kopf, schloss die Augenlider und summte einen tiefen Grundton vor sich hin. Dies beruhigte ihn sehr, katapultierte ihn zurück in seine Mitte. Jetzt konnte er sich wieder den mysteriösen Gegenständen, Dokumenten und Karten widmen. Jetzt zischte ihm ein Gedanke durch den Kopf – Atlantis! Aber es war nicht sein Gedanke, es war als hätte eine Stimme, eine weibliche Stimme ihm dieses eine magische Wort ins Ohr geflüstert. Beinahe konnte er ihren Atem spüren, ihre verheißungsvollen Lippen, ihren Duft riechen und er bekam augenblicklich Gänsehaut. Der Duft – es war der Duft dieser herrlichen Luft, dieses Blütenzaubers, der Duft einer speziellen Blüte, einer längst ausgestorbenen Blüte. Aber woher kenne ich diesen Duft?, fragte er sich und betastete gleichzeitig einen dieser geheimnisumwitterten Gegenstände. Ein Dreieck aus einem glasähnlichen Material, plastisch, aalglatt, biegsam, aber robust. Lovejoy war fasziniert und zugleich elektrisiert, er spürte Liebe, innere Wärme, Sanftheit, Demut. Diese glasige Pyramide strahlte eine Art Energie aus, dessen war er sich bewusst. Jemand klopfte an den hohlen Balken hinter ihm, der das Zentrum des Dachbodens darstellte – es war Donald McEthan. „Guten Abend, Herr Lovejoy! Meine Frau hat das Glöckchen geläutet, doch wie es scheint, haben sie es nicht gehört", erklärte der kleine pummelige Mann errötet, als würde er sich vor ihm schämen. Lovejoy dachte kurz nach, weil ihn die plötzliche Anwesenheit des Mannes verwirrte.

    „Sie wissen schon, das Abendessen, es gibt Gans", teilte ihm McEthan heiter mit. Wie es schien, mochte der pummelige rotwangige gebürtige Ire Gans. Lovejoy winkte mit der Begründung dankend ab, überzeugter Vegetarier zu sein.

    „Ich dachte nur, naja, vielleicht hätten sie Lust auf was anderes, ä-ähm, zum Beispiel …", der Satz endete in einem peinlichen schrillen Lachen.

    McEthans Kopf sah aus, als würde er jeden Moment explodieren, derart rot war der Mann, errötet vor Scham.

    „Schatz? Wo bleibt ihr denn nun?, hörte er Miss McEthan rufen, in ihrem Ton schwang Ungeduld mit. „Mister McEthan, es tut mir leid, aber ich bin da an was Interessantem dran, ehrlich und offen gesagt, am Stoff meines Lebens.

    „Ach wirklich? Darf ich mal sehen, ich meine schließlich gehört das Inventar hier mir, nicht wahr?", stotterte der Ire und näherte sich Lovejoy mit Bedacht.

    „Sicher, antwortete Darius Lovejoy selbstverständlich und erklärte geheimnisvoll, „es handelt sich um die mystische Stadt Atlantis, die verschollen scheint.

    Lovejoy sagte dies, obwohl er nicht sicher wusste beziehungsweise keinen Beweis dafür hatte, dass es sich bei den Gegenständen und Karten und Zeichnungen wirklich auch um Atlantis handelte, doch wie so viele Male, verließ sich Lovejoy auf sein Bauchgefühl.

    „Oh, ich verstehe, verschollen", sprach der Mann orakelhaft, wobei er das Wort verschollen mit einem gewissen Nachdruck aussprach, sodass es nach Doppeldeutigkeit klang. „Was meinen sie damit Donald?"

    „Nichts ist verborgen. Vieles scheint verborgen und verschollen zu sein, aber glauben sie mir, gewisse Mythen existierten tatsächlich und sind weder untergegangen noch der Welt abhandengekommen. Nichts kommt der Welt abhanden, Herr Lovejoy, nichts."

    Der Mann schwitzte ganz plötzlich und in seinen Mundwinkeln schäumte er. Der Mann ist besessen von diesem Stoff. Er ist fröhlich, ein Schauspieler. Doch er ist auch gefährlich, entschied Lovejoy und zeigte ihm die aalglatte glasige hochenergetische Pyramide. Wie ein kleines Kind schreckte der Mann zurück und schrie gellend auf.

    „Berühren Sie sie", forderte nun Lovejoy den unmittelbar zitternden Iren auf, doch der schüttelte nur den Kopf und presste seine schäumenden Lippen zusammen.

    „Von wem haben diese Truhe?", wollte Lovejoy wissen, doch McEthan zuckte nur ratlos mit den Achseln.

    „Die Karten, sie zeigen Orte. Energieorte."

    „Energieorte, plapperte der Ire schwachsinnig nach und rollte die Augen wirr herum, als schien er sich an irgendetwas plötzlich zu erinnern. „Diese Truhe, ja, ja, ich weiß es noch. Einmal, vor langer Zeit, bevor Beth und ich dieses romantische Häuschen ergattert hatten, hauste hier ein geheimnisvoller Mann, einer der immer einen Zylinder als Hut und altmodische Kleidung trug. Ich erinnere mich an seine goldene Sackuhr, ja, die hatte er mir mal gezeigt. Er sagte, er würde gewisse Einrichtungsgegenstände hierlassen und später abholen kommen, doch er kam nie.

    Er sagt die Wahrheit. „Kann ich die Gegenstände behalten? Sofern dieser Mann, ich denke er wird nicht mehr vorbeikommen", argumentierte Lovejoy und dachte, wer er auch immer war, er wollte nichts mehr damit zu tun haben.

    „Meinen Sie? Hm. Also gut. Nehmen Sie, was Sie wollen, aber seien Sie vorsichtig, Herr Lovejoy."

    „Wieso sagen Sie das?„Ach nichts, stotterte der Ire und schlich weg, doch bevor er die steile schmale Holztreppe betrat, flüsterte er Lovejoy zu: „Kein Wort zu meiner Frau und bitte kommen Sie jetzt, es gibt Gans."

    Er studierte diese Dokumente und Bücher, doch gab es kaum welche, die genug Aufschluss gaben, ihm erschien dieser Stoff nebulös, schleierhaft, als läge ein Zauber darauf, ein uralter Zauber, der darauf wartete entschlüsselt zu werden. Es wurde Zeit, einen alten Studienkollegen aufzusuchen, also begab er sich zu einem ganz besonderen Medium – Arthur Siemssen-Pepusch. Arthur Siemssen-Pepusch war ein Unikat, ein Einsiedler, aber ein großer Visionär und erfahrener Seemann und ein Mythenkenner. Er selbst überquerte viele Meere, um nach dem verlorenen Kontinent Atlantis zu suchen, doch er stieß immer nur auf neue Fragen, die das Rätsel immer noch spannender, unwirklicher, kolossaler und undurchdringlicher machten.

    Dieser Mann war ein Zufall der Zeit, er gehörte nicht in diese Epoche, irgendwie schien er damals schon anders zu sein. Und er war verwirrt und Lovejoy fragte sich, ob er einen alten Studienkollegen überhaupt noch erkennen, geschweige denn ihm seine Erfahrung anbieten würde. Doch er kannte Lovejoys Arbeiten über die Antike und war ein Verehrer dieser Werke. Pepusch hatte den höchsten Lehrstuhl an der Westminster University inne und wurde von allen Seiten her beneidet und manchmal sogar gefürchtet und in den meisten Fällen eben belächelt. „Ich habe auf diesen Tag lange gewartet, Darius", sprach Arthur. Er schien über Darius’ Besuch nicht überrascht zu sein.

    Scheu, voller Ehrfurcht und Hochachtung antwortete ihm Lovejoy: „Die Freude ist ganz meinerseits und gestatten Sie mir zu äußern, dass Sie es beruflich weit gebracht haben." Pepusch nickte und lächelte verschmitzt, als ob er diese Worte erwartet hätte.

    „Willkommen zurück! Sie sind gekommen, um mit mir zu reden, um zu forschen, zu studieren, stimmt’s?" Darius nickte ebenfalls und lächelte. Er zog seinen Hut ab und schüttelte ihm die Hand.

    „Wir werden die Meere durchkreuzen und Atlantis finden. Ich träumte davon und ich sah sie vor mir strahlend – die Stadt der Städte."

    Pepusch ballte Fäuste aus seinen Händen: „Ja, wie schön wäre es, endlich diese Turmanlagen zu studieren, die Umgebung zu kartografieren."

    Schwärmend ließ Pepusch sich in seinen struppigen Sessel fallen.

    „Ich bin an mehr interessiert als am Kartografieren des Kontinents. Ich bin an der Spiritualität dieses einst großen Volkes interessiert, an der Kraft der Einheit, entfuhr es Lovejoy spontan, aber von sich überzeugt wie noch nie, „mich interessiert, warum sie untergegangen sind? Was haben sie getan, um ihren Schöpfer zu verärgern?

    Lovejoy stand kribblig da und kratzte sich nervös am Hinterkopf. „Hm", äußerte sich Pepusch.

    Er wirkte nachdenklich, nahezu philosophisch. Ein großer Denker.

    „Diese Seekarte hier, sie könnte der Schlüssel sein zu diesem Orte, platzte es aus Lovejoy heraus, er verhaspelte sich jetzt fast vor Nervosität. Ein Mann stand in einem dunklen, unüberschaubaren Eck des Raumes und sprach plötzlich und Darius erschrak. „Sie haben das getan, was wir heute tun.

    „Und was tun wir heute?, entgegnete ihm Darius aufgeweckt. Der Mann kam nicht aus der Dunkelheit heraus, sondern bemerkte nur: „Wir spielen Gott, wir haben das Gefühl auf einem goldenen Thron zu sitzen und alles rund um uns herum zu versklaven, die Tiere, die Pflanzen, einfach alles. Wir stehen nicht oberhalb der Natur, wir sind ein Teil dieser Natur.

    Die tiefe weise Stimme hatte ironischerweise etwas Gottähnliches.

    „Die kosmische Isolation. Ich verstehe Sie, Mister, Mister, Darius wollte unbedingt wie ein kleines energisches Kind seinen Namen wissen, doch der Mann antwortete ihm nur: „Mein Name ist nicht wichtig, wichtig ist die Zukunft.

    „Was ist in der Zukunft?", hakte Lovejoy nach.

    „Das Licht."

    Darius war gerührt und plötzlich hundemüde, als würde diese ominöse Person Energie von seinem Körper abzapfen. Lovejoy setzte sich auf einen der Sessel. Pepusch rieb sich die Hände, er ließ sich nichts anmerken. Komisch – dachte Darius. Es schien, als würde Pepusch gar nicht zuhören, er wirkte abwesend, schlimmer noch, er plauderte mit ihm, als ob er die dritte Person, die ominöse Schattengestalt gar nicht wahrnehmen würde. Darius stand ruckartig auf und zeigte schwankend auf die dunklen Ecken.

    „Wer ist das, Arthur? Wer ist das da hinten im Dunklen?, Arthur lächelte geheimnisvoll und formte seine Hände zu einer Kugel. „Atlantis, Darius, erklärte Pepusch nickend mit plötzlich geschlossenen Augenlidern.

    „Ich verstehe nicht, Arthur, entgegnete ihm Darius hilflos und desorientiert. Arthur stand jetzt ebenfalls auf und schlenderte gediegen zu Darius hinüber, der bereits mit wedelnden Armen am Fenster stand und fügte im Flüsterton hinzu: „Du hast dich gehört, mein Freund. Du warst es in naher Zukunft, mein Lieber. Pepusch umarmte jetzt Lovejoy, der versteift und immer noch vollkommen verwirrt dastand und sich nur sachte lockerte.

    „Ich denke, du solltest erfahren, wer du wirklich bist", meinte Pepusch ernst. Darius kam in leichte Panik, denn er war einen Moment lang überfordert. Pepusch führte Darius nun in seine Schatzkammer, in der er wertvolle und historische Objekte aus allen Epochen der Menschheitsgeschichte gesammelt hatte.

    „Wenn diese Stadt oder Teile der Stadt noch existieren, dann in den Tiefen des Ozeans", erklärte Pepusch beiläufig, während er ein paar verstaubte Bücher auf einen Kupfertisch wuchtete. Er schlug eines der Bücher etwa in der Mitte auf. Lithografien wurden sichtbar. Diese Bilder offenbarten eine unbeschreiblich titanische Katastrophe.

    „Oh", stöhnte Pepusch wehmütig. Eine Träne purzelte über seine rundlichen Wangen, offenbar berührten ihn diese alten Bilder immens.

    „Was in aller Welt ist das?", Lovejoy deutete auf eine riesige Welle, dahinter protzte ein böses, bärtiges Gesicht, das die Welle durch Pusten antrieb.

    „Das ist Gott, der aus lauter Zorn Atlantis niedermäht, indem er in das Meer bläst und dabei eine Riesenwelle auslöst", enthüllte Pepusch begeistert. Darius war fertig, einfach am Boden zerstört, er ließ sich zu Boden fallen, riss den halben Tisch mit sich, eines der Bücher stürzte zu Boden. Diese tiefe Sehnsucht!, durchfuhr es ihn wieder, Zuckungen am ganzen Körper. Ihm wurde klar, dass er in dieser gegenwärtigen Welt nichts verloren hatte, er gehörte nicht hierher. Ein Leben lang suchte er nach Etwas. Etwas, dass ihn innerlich zu Ruhe bringen würde, seine innere Heimat. Meine Heimat. Jahre später brach er hoffnungsvoll zusammen mit Pepusch auf. Ein ganzer Kontinent wollte entdeckt werden, nicht von irgendjemandem, von Darius Lovejoy und Arthur Siemssen-Pepusch …

    4

    Paxos, Griechenland, 1992

    Düsternis umgab das Taucherteam – die Fischschwärme vereinzelten sich. Es gab jetzt nichts mehr als die totale Finsternis. Der poröse Felsen bröckelte an schwachen Stellen. Das Ganze war eine einzige Gefahr. Dmitri Laubenthal zitterte trotz seiner Tapferkeit vor Angst. Es war einfach zu riskant. Zu seiner Rechten hielt er das Funkgerät fest umklammert, das mit einem Navigationssender ausgestattet war. Laubenthal knabberte an seinen Unterlippen, irgendwie beruhigte ihn dies, schließlich war er der Obermacker des ganzen zweifelhaften, wankenden Projekts.

    „Wir können ein grelles Licht erkennen! Es leuchtet aus dem Innern eines gewaltigen Gesteins!", brüllte einer der Taucher aus Laubenthals Funkgerät.

    Sie befanden sich jetzt direkt unterhalb der Insel Paxos, die ein monumentales Geheimnis in sich barg, zumindest ging man davon aus. Laubenthal war Chefwissenschaftler, Hauptverantwortlicher des umstrittenen und kostspieligen Rebirth-Projekts. Ein Hardliner par excellence. Null Toleranz, kein Pardon, keine Kompromisse.

    „Ich gebe ihnen jetzt noch zehn Minuten, dann geht’s zurück an die Oberfläche", befahl er mit bebender Stimme, nicht etwa, weil er ein mieser Typ war, sondern aus Verantwortung.

    Ein Licht glitzerte den Tauchern entgegen, gerade eben noch schien die Aktion in die Hosen zu gehen.

    Einer von ihnen funkte Laubenthal an: „Wir können ein grelles Licht erkennen! Es leuchtet aus dem Innern eines gewaltigen Gesteins!"

    Darauf folgten undeutliche Worte dieses arroganten Typen, den niemand leiden konnte. Jetzt wurde das Licht größer und heller, es blinkte unheimlich wie ein Signallicht – ein Rücklicht eines Wagens in dunkler Nacht.

    „Mit dem Messer geht es vielleicht", erklärte einer der Taucher, der gerade eben sein Tauchmesser gezogen hatte, um an der Oberfläche des Gesteins zu schaben.

    „Ich gebe ihnen noch zehn Minuten, dann geht’s zurück an die Oberfläche", knisterte Laubenthals ernsthafte und Macht einflößende Stimme durch das Funkgerät, dessen Akku ganz plötzlich keinen Saft mehr hatte. Etwas nahm der Elektronik die Energie.

    Selbst die starken Halogenlampen erloschen urplötzlich. Finsternis umgab das Team wieder, nur das grelle immer größer werdende blinkende Licht war da in dieser gruseligen Gegend voller giftiger Pflanzen. Die Taucher glotzten einander gegenseitig verständnislos an und zugleich überrascht.

    „Da ist irgendwas Leute", brach einer der Sechs aufgeregt das geisterhafte Schweigen. Da! Ein Sog! Was es auch war, es hatte gewaltige Saugkraft und verschlang vorerst die wunderlichen kunterbunten hochgiftigen Hydrophyten der stockdunklen Umgebung, der felsig-höckerige Boden war übersät von vielen Arten dieser Wasserpflanzen, von denen einige sogar Fleischfresser waren. Einer der Taucher kicherte aus lauter Angst, ein anderer griff nach einer glitschigen Felsplatte direkt oberhalb der des einbrechenden Felsens.

    Die Saugkraft wurde immer stärker und das Blinken endete und wandelte sich um in gleißendes Licht, das sich in Violetttönen zu verfärben begann.

    „Laubenthal! Etwas saugt uns in dieses verdammte Licht!", schrie der Alphataucher verzweifelt, der die Verantwortung der Gruppe hatte, doch Laubenthal konnte ihn einfach nicht hören.

    Laubenthal marschierte ungeduldig unter den üppigen Schatten der vereinzelten Pinien hin und her. Der Funkkontakt war abgerissen, selbst dieses Unding von Navigationsgerät versagte auf unerklärlicher Weise.

    „Sehen Sie, Herr Laubenthal, murmelte seine Assistentin scheu, die enormen Respekt vor dem Mann hatte. Sie war gebürtige Isländerin, Karolin, eine erfahrene Vulkanforscherin, Gesteinsexpertin, die jetzt unmittelbar vor einem flimmernden Bildschirm der Übertragungskamera kniete und plötzlich wieder ein Signal von den modernen Mini-Unterwasser-Kameras hereinbekam, die an der Front des Alphataucherhelms angebracht waren. Laubenthal verzog die Stirn zu vielen Falten und gestikulierte mit den Händen und befahl zickig: „Zoomen Sie dieses leuchtende Ding da näher heran, bitte!

    Bitte? Hat dieser eingebildete Typ bitte gesagt?, hörte sie sich denken und griff nach dem winzig kleinen Joystick auf einer Computerkonsole. Laubenthal war durchdacht, immer wenn er auf Expeditionen ging, war er hervorragend ausgerüstet mit allen technischen Highlights, nichts überließ der Deutschrusse dem Zufall. Zufall? Nein. Nicht Dmitri Laubenthal. Nach mir die Sintflut vielleicht, aber während „ich" operiere die totale Kontrolle!

    Er war eben ein Kontrollfreak und vor einigen Jahren ernannte ihn ein geheimes internationales Gremium zum Chefwissenschaftler dieses schleierhaften Rebirth-Projekts. Dieses Projekt unterlag strengster Geheimhaltung. Die Teams wählte man nicht willkürlich aus. Wer zu Rebirth gehören wollte, musste schweigen können und einiges auf dem Kasten haben, körperlich wie psychisch und mental. Hier in dieser gottverlassenen Gegend, auf dieser sagenumwobenen griechischen Kleininsel tat sich was Großes, was es auch immer war – es war nicht von dieser Welt, dies war sich der großwüchsige Deutschrusse gerade eben bewusst geworden, als Karolin mithilfe des Joysticks die beängstigende und schauerliche Szene heranzoomte.

    „Was in aller Welt?", platzte es aus Laubenthal heraus. Die Kamera hing schief, eindeutig, aber was glänzte da?

    „Hilfe!", entfuhr es hysterisch und fürchterlich aus dem Munde des Alphatauchers, der sich mit aller Körperkraft an dem abbröckelnden Felsvorsprung festzuhalten versuchte, während der obskure, alles verschluckende Sog immer stärker wurde. Die Halogenlampen zersplitterten unter diesem immensen Druck, der sich jetzt aufbaute, eine Art voluminöses Kraftfeld sondergleichen. Ein tiefes Brummen ertönte so, dass die Frontscheiben der Helme barsten. Das infernale Beben zermalmte den Felsvorsprung, an dem sich der Alphataucher immer noch festhielt. Ganze Steinbrocken wirbelte es in das Epizentrum des Sogs. Jetzt zog es auch unabdingbar, unvermeidlich die sechs Taucher ins Verderben. Schreie, Deformierung, Zertrümmerung, Ruhe.

    Karolin drehte das Bild mithilfe des Cursors. Sie traute ihren Augen nicht. Da war kein Licht mehr, auch kein Wasser und auch keine Dunkelheit – auf einem Felsen stehend funkelte ein kathedralenähnlicher Bau aus purem Gold …

    5

    Gegenwart

    Stahlblauer Himmel hing über der zweitgrößten Schweizer Stadt, Basel nämlich, das Zentrum der europäischen Pharmaindustrie, wichtiger schweizerischer Eisenbahnknotenpunkt und Rheinstadt. Es war Tom Bischofbergs Haus gewesen, dass vor einigen Jahren durch einen schleierhaften Vorfall, man ging von Brandstiftung aus, bis auf die dicken Grundmauern niedergebrannt war. Dabei verlor Bischofberger sein Hab und Gut. Wie man später herausfand, war eine Gasexplosion schlussendlich der Auslöser gewesen. Zuvor, als hätte das Schicksal vorgehabt ihn in die Knie zu zwingen, verlor er auf schreckliche Weise seine Frau, Rebekka. Sie war als erfolgreiche Immobilienmaklerin europaweit unterwegs in Großstädten, chancenreich, gewinnbringend, selbstbewusst, gutherzig und darüber hinaus auch noch äußerst attraktiv.

    Tom, ein standhafter treuer loyaler Bär im wahrsten Sinne, ehemaliger Priester der reformierten Stadtkirche zu Basel, geschätzt und gelobt. Der entsetzliche Verlust und Schicksalsschlag katapultierte den mittelgroßen breitschultrigen Mann in tiefe Trauer. Er, der einst Kind und Bote Gottes war, traute sich jetzt nicht mal mehr aus seinen vier Wänden, einem 4-Zimmerreihenhaus an der Kanonengasse nahe des Leonhard-Gymnasiums. Verwahrlost und verlassen siechte er dahin, isoliert und geschafft von der harten Realität des irdischen Lebens. Tom Bischofberger verstarb. Die grelle Klingel erschallte. Das helle Läuten dröhnte bis hinunter in den modrig-feuchten Keller, indem er sich aufhielt, Tom Bischofberger, auf einem brüchigen Klapperkasten saß, umringt von leeren Kartons, vollgefüllt mit bis auf den letzten Tropfen ausgetrunkenen Weinflaschen. Frusttrinken, die maskuline Art Traumatas zu verarbeiten. Wieder ertönte die Klingel, der klirrende Klang schmerzte in den Ohren.

    Er fluchte: „Zum Teufel mit euch allen. Allein, allein will ich sein, einfach nur allein."

    Tom stocherte in den Essensresten herum, verschimmelte Resten, kaum mehr erkennbares Junkfood, aber er fand den Korkerzieher einfach nicht. Ist ja auch egal, keine volle Flasche mehr, weit und breit, Scheiß drauf! Nun, weit kam er auch nicht wirklich, wie festgenagelt kauerte er brummend und vor sich hin schimpfend auf diesem Kasten aus Sperrholz – brrrrr, brrrr! – die Hausglocke wieder, zum dritten Mal. Jetzt drang jemand in sein Zweitheim ein, eine männliche Stimme rief Toms Namen – es war Kurt, Kurt Schlemm, sein einzig wahrer Freund? Oder doch nur einer von vielen, den viel zu vielen.

    Toms Weltanschauung drehte sich um die eigene Achse.

    „Tom! Ich bin’s Kurt!", sang dieser Schlemm mit seiner weibischen Stimme, die klang wie die einer abgetakelten Operndiva. Widerlicher Kerl. Verdammter Wurm. Komm nur runter Kumpel, dann erlebst du das Gelbe vom Ei, dann kommt die finale Faust – blaffte Tom prahlend in seinen Gedanken, das konnte er gut, eigentlich war er friedfertig und verabscheute nichts mehr als Gewalt. Tatsächlich. Da stand Kurt, zuoberst auf dem Absatz, vor der steilen Kellertreppe. Er schaute mitleidend drein. Er räusperte sich und presste seine schmalen feinen Lippen zusammen, bevor er seinen Mund öffnete und vorsichtig fragte: „Wie geht es Ihnen, Tom?"

    Keine Antwort.

    Ehrlich gesagt hätte Schlemm die auch nicht erwartet von einem Mann, der sich aufgegeben hatte. Er sprach einfach weiter und holperte dabei ungeschickt die knarzende Kellertreppe hinunter zu Toms neuem Reich, ein Reich aus stinkenden Essensabfällen, feuchtschwüler Luft, die muffig stank, geleerten Weinflaschen, zerdrückten Bierdosen, zermalmten Fliegen und Mäusekadavern. Kurt erblickte einen blutverschmierten Hammer neben Toms einsturzgefährdeter Kiste.

    „Gott gütiger, nuschelte Schlemm fassungslos vor sich hin. Umso näher er ihm kam, desto ekelhafter und penetranter mischten sich die verschiedenen Duftnoten aus Wein, Bier, Erbrochenem und Fäkalien. Schlemm faltete die Hände, als wolle er beten, blinzelte mit den Augenlidern und versuchte eindringlich auf Bischofberger einzureden: „Das Leben wartet da draußen auf Sie, Tom. Wir, ihre Freunde, machen uns große Sorgen um ihren seelischen wie körperlichen Zustand. Das konnte Schlemm unvergleichlich gut, nahezu hervorragend, quatschen ohne Ende, quatschen wie ein Weltmeister, aber nie war sein Gequäke sinnlos oder gar oberflächlich, nein, viel eher zweckgemäß, wohlüberlegt und nützlich. Tom erhob leicht seinen verwilderten Kopf, die Kleidung war nur noch ein einziger Drecklumpen. Sein Gesicht mitgenommen und ausgepowert. Zitternd und schwach krächzte er: „Der liebe Gott hätte alles von mir haben können", dabei warf er seinen schmerzverzerrten Blick an die Decke, als ob er dies Gott persönlich sagen würde.

    Dann legte er gleich nach: „Alles! Hörst du, du Narr!"

    Schluchzend und bebend beendete er den Satz. Doch dann wendete er sich an Schlemm: „Mit den Menschen hatte ich abgeschlossen, ich war fertig mit ihnen."

    „Sie sagen dies bewusst in der Vergangenheitsform, wieso?, fragte Kurt vorsichtig den brummenden niedergeschlagenen Ex-Diener Gottes, der jetzt seine Arme ausstreckte und johlte, „aber du bist gekommen, nach Zeiten der Einsamkeit, Kurtchen.

    Er war immer noch leicht beschwipst. Sein Atem stank widerlich nach Alkohol und Fäulnis.

    „Sie sind ein großer Mann, Tom, für mich immer ein Vorbild. Kommen Sie, reichen Sie mir die Hand, wir gehen nach oben und waschen sie", plauderte Schlemm mit einer legeren gesunden Leichtigkeit und wich bewusst Toms Blicken aus. Jetzt sah er erst den Knebel und die gefährlich geschnitzte Lanze, die Bischofberger neben sich abgelegt hatte, um sich, ja um was eigentlich? Kurt verwarf den Gedanken wieder, er wollte sich nicht vorstellen, vor allem nicht hineininterpretieren, was Tom mit den Waffen alles anstellte und beim Anblick der zertrampelten Fliegen und erschlagenen unschuldigen Mäusen wurde ihm mulmig.

    „Lieber Freund, Kurt, ich war ein Jahr hier in Dantes Hölle! Habe geschmort, habe abgebüßt, gelitten, gestritten, kam es ungebremst und theatralisch aus Toms Mund, dabei gestikulierte er wild mit den Armen, als ob er auf einer Bühne stehen und ein Werk von Shakespeare darbieten würde. Kurt konnte sich ein verschmitztes Lächeln nicht verkneifen. Es war typisch Tom, dieses Drama, diese Show und doch litt er stark. „Tee oder Kaffee, Monsieur?, witzelte Schlemm kichernd, während Tom nach seiner Schallplattensammlung sah. „Kaffee, Kurt. Schwarz und heiß, ohne Zucker, ich mag das Essenzielle", kasperte Tom zurück, dabei ahmte er einen seiner früheren Priesterkollegen nach, Piotr, ein Russe, der streng katholisch war, todernst und humorlos. Schlemm, der deutsche Physiker, das Superhirn des Rebirth-Projekts, stierte unbeholfen die Filterkaffeemaschine an, er konnte mit einem Ionengetriebe umgehen, doch nicht mit einer einfachen Filtermaschine für Kaffee.

    „Ähm, T-Tom", stotterte Schlemm, als urplötzlich ohrenbetäubende Musik den Raum erfüllte. Schlemm, nicht ohne Kultur, erkannte die Passage, die aus Mahlers Achten Symphonie stammte. Der Dramatiker Bischofberger war in seinem Element.

    „Die achte Sinfonie in Es-Dur ist eine Sinfonie mit Sopran-, Alt-, Tenor-, Bariton- und Basssolisten, zwei großen gemischten Chören und Knabenchor, sprudelte es aus Tom heraus wie aus einem ausbrechenden Feuer spukenden Vulkan, „sie, die achte Sinfonie entstand größtenteils im Sommer des Jahres 1906. Im ersten Halbjahr 1907 wurde sie vollständig orchestriert und ins Reine geschrieben. Mahler versah das Werk bei der Veröffentlichung 1910 mit einer Widmung an seine Frau Alma Mahler, schäumte er beinahe und ruderte wieder wild mit den Armen.

    Es sah aus, als würde Bischofberger das Orchester selbst dirigieren, gab Einsatzzeichen ins Nichts und verzog seine sonst so ernste Miene in ein verzücktes Lächeln, um gleich wieder streng zu wirken. Schlemm genoss die Szenerie, er hatte es geschafft, Tom von den Toten auferstehen zu lassen. Er war stolz auf sich.

    6

    Die Auserwählten

    Das ausgedehnte Faltengebirge im Nordosten der USA war eine wichtige Ausbildungsstätte des Rebirth. Hier wurde hart trainiert für den bevorstehenden Auftrag und gerade der schien erbarmungslose Anforderungen an die beiden Frauen zu stellen, die unterschiedlicher nicht sein konnten, obwohl ihr Temperament vergleichbarer Natur war. Die mächtigen und imposanten Rockys waren wohl eines der vielfältigsten und abwechslungsreichsten Bergmassive der Welt, das sich vom Norden Alaskas bis hinunter ins zentrale Neumexiko erstreckte.

    Hier trainierten die Italienerin, Gabriela Stella Giani und ihre tschechische Kollegin, Ivana Nemec, Ausdauer und Geschicklichkeit an den heterogenen Anordnungen der Bergketten – eine majestätisch aufragende Felsbarriere. Der Klettergurt mit den Karabinern hielt. Gabriela meisterte die abschüssig-steile Bergwand ohne Mühen, Ivana hingegen rutschte versehentlich auf einer Kante aus, sackte abwärts, verlor den kompletten Halt und hing in der Luft, schaukelte heftig in den blasenden Bergwinden hin und her. „Hovno!", hörte sie

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