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Gesichter der Geschichte: Schicksale aus Tirol 1914?1918 E-BOOK
Gesichter der Geschichte: Schicksale aus Tirol 1914?1918 E-BOOK
Gesichter der Geschichte: Schicksale aus Tirol 1914?1918 E-BOOK
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Gesichter der Geschichte: Schicksale aus Tirol 1914?1918 E-BOOK

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Anhand von 44 EINZELSCHICKSALEN erzählen Michael Forcher und Bernhard Mertelseder sowie eine Reihe von Co-Autorinnen und Co-Autoren, WIE TIROLERINNEN UND TIROLER DIE KRIEGSJAHRE 1914 BIS 1918 UND DIE ZEIT DANACH ERLEBTEN. Exemplarische Schicksale, Lebensumstände und die Erinnerung daran geben erschütternde Einblicke - FRAUEN, MÄNNER UND KINDER, Menschen mit deutscher, ladinischer oder italienischer Muttersprache, HERAUSGEHOBEN AUS DER ANONYMITÄT DER NAMENSLISTEN VON KRIEGERDENKMÄLERN und der trockenen Zahlen von Statistiken.
ZAHLREICHE FOTOGRAFIEN UND BILDDOKUMENTE gewähren Einsichten in den Alltag und das Leben an der Front. Neben den HISTORISCH BELEGBAREN FAKTEN stehen ergreifende, bedrückende und ERSCHRECKENDE AUSZÜGE AUS BRIEFEN UND TAGEBÜCHERN. So gibt dieses Buch den Blick frei auf das Leben und Sterben von Soldaten und Zivilpersonen in jenen Schreckensjahren und stellt eindrücklich dar, wie unsere Vorfahren ihr jeweils unterschiedliches, doch von derselben Katastrophe geprägtes Schicksal bewältigt haben.
Die vorgestellten Menschen und Einzelschicksale kommen aus allen Landesteilen des historischen Tirols, also auch aus dem Trentino. Sie stehen repräsentativ für die Soldaten Tirols, die als Mitglieder der Kaiserjäger, Landes- bzw. Kaiserschützen, Landsturm und Standschützen an den Fronten Galiziens, Serbiens, am Isonzo und an der Tiroler Grenze, aber auch bei der Artillerie oder in der Marine kämpften. Die Autoren erzählen auch von den Schicksalen der Kriegsgefangenen, etwa in Sibirien oder in den Lagern Italiens. Und natürlich schildert das Buch den ALLTAG UND ÜBERLEBENSKAMPF VON FRAUEN IM ARBEITSEINSATZ, VON WITWEN, VERWUNDETEN UND WAISEN, VON INTERNIERTEN UND EVAKUIERTEN in den Barackenstädten Ober- und Niederösterreichs, Mährens und Böhmens. Die LEBENSVERHÄLTNISSE DER EINZELNEN MENSCHEN, ihre persönlichen Erlebnisse und Erinnerungen, sowie zahlreiche Bilddokumente eröffnen unmittelbare und berührende Sichtweisen auf die Geschichte des Ersten Weltkriegs.
LanguageDeutsch
PublisherHaymon Verlag
Release dateMay 20, 2015
ISBN9783709936450
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    Gesichter der Geschichte - Michael Forcher

    Co-Autoren

    Mosaiksteine und Miniaturen des Ersten Weltkriegs

    Ein paar Dinge vorausgeschickt

    Wie kann man die Ungeheuerlichkeit eines Weltkriegs begreifen, wie kann man verstehen, was über 30.000 Tote bedeuten, die allein Tirol zu beklagen hatte? Was sagen uns Zahlen und Fakten in den Geschichtsbüchern, all die Namen an den Kriegerdenkmälern, die Sterbebildchen der Museen und Sammler? Vielleicht können wir mehr damit anfangen, wenn wir Zahlen und Daten mit den Fotos der Menschen verbinden, die dahinterstehen, wenn wir ihnen in die Augen schauen können und uns zugleich ihre Geschichte, ihr individuelles Schicksal erzählen lassen. Aus vielen Gesichtern bekommt der Krieg ein Gesicht.

    Diese Gedanken standen dem vorliegenden Buch Pate. Es geht auf den folgenden Seiten nicht darum, über die Gründe und Hintergründe des Krieges zu informieren, seine Ursachen zu diskutieren; auch der Kriegsverlauf soll nur am Rande und sozusagen als »roter Faden« eine Rolle spielen. Es geht vielmehr um Einzelschicksale, um solche, wie es sie dutzendfach, hundertfach gegeben hat, aber auch um solche, die Ausnahmen bilden, die ganz ungewöhnlich verlaufen sind. Wann immer möglich, lassen wir Menschen selbst erzählen, indem wir aus ihren Tagebüchern, aus ihren Briefen zitieren oder aus ihren aufgeschriebenen Erinnerungen. Bereits die Lektüre von wenigen solchen »Selbstzeugnissen« lässt erkennen, dass wir mit dieser Art von Quellen den Menschen in der Geschichte näher sind als in anderen schriftlichen Hinterlassenschaften. Sie ermöglichen einen Einblick in ihre Gedankenwelt, in ihre Probleme und Bedürfnisse, gleich ob sie an der Front waren, im Gefangenenlager oder am männerlosen Hof im Hinterland, am Herd einer verwitweten Mutter, im Büro eines unter dem Druck der Militärherrschaft ohnmächtig gewordenen Politikers.

    Wie ganz allgemein in der Geschichtsschreibung, so lässt sich auch im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg kein einheitliches Bild entwerfen, das allen Aspekten gerecht wird. Die Zeitgenossen hatten unterschiedliche Erfahrungen, ihre Einschätzungen und Wahrnehmungen können – auch wenn sie sich auf dasselbe geografische Gebiet im selben Zeitabschnitt beziehen – diametral entgegengesetzt sein. Ein Abbild der Gesellschaft, auch einer Kriegsgesellschaft, ist naturgemäß heterogen. Das zeigt dieser Band deutlich.

    Den Ersten Weltkrieg anhand von Einzelschicksalen zu erzählen, wie wir es versuchen, zielt daher zum einen darauf ab, die unterschiedlichen Erfahrungen sichtbar zu machen, zum anderen darauf, Einzelpersonen der Anonymität des Kollektivs zu entreißen. In den hier erzählten Geschichten ist daher selten zu erfahren, wie der Krieg war, sondern wie er erlebt wurde! Die Episoden bleiben Momentaufnahmen, Mosaiksteine und Miniaturen aus der Zeit, als die Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs Europa, die Welt und unsere Gesellschaft, aber eben auch die Lebensläufe vieler einzelner Menschen erschütterte und veränderte.

    So mögen diese »Gesichter der Geschichte« den unmittelbaren Blick freigeben auf das Leben und Sterben von Soldaten und Zivilpersonen in jenen Schreckensjahren, aber auch und nicht zuletzt den verzweifelten Mut und die unerschütterliche Opferbereitschaft ehren, mit der unsere Vorfahren ihr jeweils unterschiedliches, doch von derselben Katastrophe geprägtes schweres Schicksal bewältigt haben.

    Ein paar Dinge seien vorausgeschickt: Die Zitate aus Selbstzeugnissen sind buchstabengetreu mit allen orthographischen und grammatikalischen Fehlern transkribiert. Nur Satzzeichen sind zum besseren Verständnis fallweise ergänzt, was wieder (nach einem Punkt) einen Eingriff in die Groß- und Kleinschreibung zur Folge hatte. Desgleichen sind Abkürzungen in der Regel ausgeschrieben. Dies gilt für Auszüge aus handschriftlichen Originalquellen, die eigens für dieses Buch transkribiert wurden. Bei Zitaten aus (manchmal bearbeiteten) Druckausgaben ist dies im Anhang vermerkt.

    Ein zweiter Hinweis ist notwendig: Die Auswahl der dargestellten Personen und ihrer Schicksale im Zusammenhang mit dem Krieg ist zwar so erfolgt, dass sie möglichst aus allen Teilen des Landes einschließlich Welschtirol kommen und die wichtigsten Themenkreise von der Front bis ins Hinterland thematisieren: Die authentische Schilderung des Kampfgeschehens war uns genauso wichtig wie das Erleben von Gefangenschaft und Flucht, die Eingriffe des Militärs ins zivile Leben und in die Politik, die Not und der Hunger von Frauen und Kindern und andere Problemfelder. Dennoch mussten einige Facetten offenbleiben, weil es zum Konzept dieses Buches gehört, ein Schicksal nicht nur zu erzählen und die jeweilige Person erzählen zu lassen, sondern auch ihr Gesicht zu zeigen, um ihr in die Augen schauen zu können. Wo dies nicht möglich war, mussten wir verzichten. Vielleicht hilft dieses Buch, weitere Gesichter der Geschichte zu entdecken.

    Als Herausgeber und Hauptautoren bedanken wir uns bei allen, die beim Zustandekommen dieses Buches geholfen haben – sie werden im Anhang noch einzeln erwähnt –, in erster Linie den Kolleginnen und Kollegen, die uns auf erzählenswerte und erzählbare Einzelschicksale aufmerksam gemacht haben oder selbst Text und Bilder für ein Kapitel beigesteuert haben. Nicht zuletzt gehört unser Dank dem Landeshauptmann von Tirol, Günther Platter, der diese exemplarische Sammlung von Einzelschicksalen aus allen Teilen des alten Tirol, also auch aus dem Trentino, anregte, förderte und zu einem Teil der offiziellen Gedenkveranstaltung des Bundeslandes Tirol im Mai 2015 machte. Eine große Ehre für ein kleines Buch.

    Michael Forcher

    Bernhard Mertelseder

    Nach dem Schlachtenort »Uhnów«, wo Paul Ingruber am 28. August 1914 gefallen ist, benannte Albin Egger-Lienz sein symbolstarkes Schlachtengemälde, das den Kaiserjägern gewidmet ist.

    [ I ]

    Kriegsbeginn und Kampfgeschehen in Galizien und Serbien

    Am Dienstag, 28. Juli 1914, war überall in Tirol das kaiserliche Manifest »An meine Völker« mit der Kriegserklärung an Serbien angeschlagen. Nach Bekanntwerden der allgemeinen Mobilmachung am 31. Juli und 1. August strömten die Wehrpflichtigen vom 21. bis zum 32. Lebensjahr zu den Sammelpunkten ihrer Einheiten, hauptsächlich waren das die Regimenter der Kaiserjäger und der Landesschützen. Die älteren Jahrgänge (32 bis 42 Jahre) hatten sich beim Landsturm zu melden. An die 45.000 Tiroler wurden in den ersten Augusttagen aus dem Zivilleben gerissen und an die russische Front geschickt. Der überall in Europa ausgebrochene Rauschzustand nationaler Begeisterung schwappte auch über Tirol. Dieses sogenannte »Augusterlebnis« war ein Phänomen der Städte, am Land ist davon wenig zu spüren. Auch war es eine Begeisterung der Massen. In privaten Äußerungen drängen sich Sorgen und Ängste in den Vordergrund.

    Was die Tiroler in Galizien erwartete, war tatsächlich die Hölle. Eine ehrgeizige Anfangsoffensive brachte zwar einige kleine Siege, forderte jedoch derart große Opfer an Menschen und Material, dass sie in Niederlagen und im Rückzug bis nach Krakau und auf die Pässe der Karpaten endete. Nach harten Winterkämpfen konnte im Mai 1915 eine großangelegte Offensive mit deutscher Hilfe die Russen auf ihr eigenes Territorium zurückdrängen.

    Wie gegen Russland nach ersten kleinen Siegen das große Desaster folgte, gingen auch die eroberten Gebiete Serbiens mit der Hauptstadt Belgrad schon im Dezember 1914 wieder verloren. Erst im Herbst 1915 gelang – nachdem auch Bulgarien den Serben den Krieg erklärt hatte – der so leicht geglaubte Sieg über den Balkanstaat. Die k.u.k. Armee hatte die erbitterte Gegenwehr der Serben mit Repressalien gegen die Zivilbevölkerung beantwortet.

    Sterbebildchen des Schneidermeisters Paul Ingruber

    Von der Schneiderwerkstatt aufs Schlachtfeld

    Paul Ingruber fällt im ersten Gefecht in Galizien

    Paul Ingruber gehórte zu den ersten Tirolern, die im Ersten Weltkrieg ihr Leben lassen mussten. Er fiel am 28. August bei Uhnów in Galizien, nahe der russischen Grenze, wo das 1. Tiroler Kaiserjägerregiment, die Flanke der Hauptmacht absichernd, seine Feuertaufe erlebte. Über Gebühr feierte die Tiroler Presse diesen Erfolg an einer Nebenfront. Als »schönen Sieg« bejubelte ihn auch noch die spätere österreichische Militärhistorie, obwohl Hauptmann Karl von Raschen in seinem 1935 erschienenen Buch »Die Einser-Kaiserjäger im Feldzug gegen Russland 1914 –1915« zugibt, dass sich am Abend »am Platz der eroberten 16 Geschütze« um die Fahne und den Regimentskommandanten »kaum tausend Mann« eingefunden haben. Das heißt nichts anderes, als dass mehrere tausend Mann verwundet oder gefallen oder vermisst waren. »Mit entblößtem Haupte, Gott dem Allmächtigen für den schönen Sieg dankend«, schreibt Raschen in seinem fast zynisch klingenden Rückblick, »gedenkt jeder seiner lieben Kameraden, die durch ihren Heldentod zu diesem schönen Erfolg beigetragen haben.«

    Paul Ingruber wurde das Opfer einer veralteten Taktik des sturen Vorwärtsstürmens, als ganze Bataillone von ehrgeizigen Kommandanten ohne vorbereitendes Feuer eigener Feldgeschütze und ohne ausreichende Deckung rücksichtslos ins feindliche Feuer getrieben wurden. Uhnów war der Ort, nach dem Egger-Lienz sein erstes Schlachtengemälde benannte, das er den Kaiserjägern widmete und das trotz seiner über den Anlass hinausgehenden Symbolkraft auf realistische Details nicht verzichtet.

    Ein knappes Jahr vor Kriegsausbruch war der junge Schneidermeister Paul Ingruber von seinem elterlichen Hof in Schlaiten bei Lienz nach St. Lorenzen im Pustertal gezogen, um dort eine Werkstatt zu eröffnen. Der ältere Bruder Josef, ebenfalls gelernter Schneider, hatte sich ihm angeschlossen. Schwester Antonia half den beiden beim Einrichten und führte vorerst den Haushalt, der jüngere Bruder folgte ebenfalls und wurde in St. Lorenzen Gehilfe bei einem Sattler.

    Pauls Vater Ignaz, Witwer seit der Geburt des letzten Kindes im Jahr 1911, heiratete 1913 noch einmal, übergab den Hof dem ältesten Sohn Anton und übersiedelte nach Innsbruck, wo er eine Stelle beim Bauernbund annahm, an dessen Gründung er beteiligt gewesen war. Er fühlte sich aber nicht wohl in der Landeshauptstadt und erreichte bald nach Kriegsbeginn, dass ihm Bauernbundobmann Josef Schraffl die Möglichkeit bot, bei der Bauernsparkasse in Lienz zu arbeiten.

    Den Kriegsausbruch Ende Juli 1914 erlebte Ignaz Ingruber auf dem Weg nach Lienz, wo er sich von seinen Söhnen verabschieden konnte. In seinen nach dem Krieg niedergeschriebenen Erinnerungen schildert er die Szene: »Am 31. Juli (Samstag) frühmorgens kam ich nach St. Lorenzen, wo ich zwei meiner Söhne, den Josef und den Paul, mit einer Reihe dortiger Kameraden bereits abmarschbereit fand. War das hin und hin eine Aufregung! Vom Arbeiten keine Rede; dafür aber Weinen, Fluchen und daneben ›Gott erhalte …‹ und dgl. Schwer kam es auch meinen Söhnen an, ihr aufblühendes Geschäft mit Warenlager im Stich zu lassen und einer gefahrvollen Zukunft entgegen zu gehen. Nur die Hoffnung, dass der Tanz in wenigen Monaten vorbei sein werde sowie das unerbittliche ›Muss‹, half ihnen über die schweren Abschiedsstunden hinweg. Obwohl ich diese Hoffnung nicht teilen konnte und ebenso wie viele andere Eltern fürchtete, dieselben vielleicht heute zum letzten Male heil und gesund zu sehen, musste ich ihnen dennoch Mut zusprechen, wenn auch mein Herz vor Wehe zerspringen wollte.«

    Ein Monat später dann die schreckliche Nachricht: »Anfangs September erhielt ich schon zwei Feldpostkarten mit der Mitteilung, dass mein lieber Sohn Paul auf dem Schlachtfelde bei Unov [Uhnów], Galizien, an den Folgen eines Halsschusses verblutet sei, während der Seppl aus einem Wiener Spitale schrieb, dass er verwundet dort liege. Diese Nachrichten erschütterten mein Gemüt noch mehr, obwohl ich vorher glaubte, dass meine Aufregung bereits den Höhepunkt erreicht haben müsse und ich auf einen solchen Ausgang stets gefasst war.« Seppl überlebte und wurde mit einem Streifschuss am Kopf nach mehreren Zwischenstationen in das zu einem Notlazarett umgewandelte Institut der Englischen Fräulein in Brixen eingeliefert, wie der Vater nach Wochen erfuhr. Nach dem Krieg führte er das Schneidergeschäft in St. Lorenzen weiter.

    Paul aber sollte nicht der einzige Sohn sein, den Ignaz Ingruber im Ersten Weltkrieg verlor. Zwei Monate vor Kriegsende, am 4. September 1918 verstarb der 24-jährige Hubert im Feldlazarett von Caldonazzo an den Folgen einer schweren Verwundung. Nur ein Jahr älter war Matthias, der die italienische Gefangenschaft nicht überlebte. Er starb im April 1919 im Lager von Mira bei Venedig. Alois, der ebenfalls einrücken musste, überstand alle Gefahren und Entbehrungen. Der älteste Sohn Anton war – nicht als Hofübernehmer, sondern als »Postablageführer« – nach damals üblicher Diktion »vom Militärdienst dauernd enthoben«. Auch der Vater sah sich 1915 plötzlich beim Militär, als es zur Einberufung der Standschützen kam. In seinen Erinnerungen lässt Ignaz Ingruber durchblicken, dass er davon alles andere als begeistert war. »Auch ich musste gehen, obwohl ich seit mehr als dreißig Jahren auf keine Scheibe mehr gezielt hatte und gar nicht wusste, dass ich jemals immatrikuliert war.« Tatsächlich hatte er sich früher einmal beim Schießstand St. Johann im Walde einschreiben lassen und wurde nun zum Bataillon Lienz einberufen, wo er sogleich dem Stab zugeteilt wurde.

    Die Familie Ingruber vom Gruberhof in Schlaiten (1912/13). Hintere Reihe von links: Alois, Hubert (gefallen 1918), Josef, Paul (gefallen 1914), Matthias (gestorben in Gefangenschaft 1919) und Alfred. Vater Ignaz (Mitte) rückte im Mai 1915 zu den Standschützen ein.

    Giovanni Pederzolli, Porträt aus der Vorkriegszeit

    »Ich verfluchte Gott und den Teufel ...«

    Giovanni Pederzolli und seine aufwühlenden Kriegserinnerungen

    Er war nur ein Tischler, allerdings nicht ein ganz gewöhnlicher, denn er war auch »lucidatore di mobili«, also ein Möbelpolierer, ein Kunsttischler könnte man sagen. Giovanni Pederzolli, 1879 in Sacco geboren, heute ein Stadtteil von Rovereto, schrieb auch Gedichte und hinterließ eine der beeindruckendsten Beschreibungen des Krieges in Galizien. Sie ist nicht bruchstückhaft in einem Tagebuch festgehalten, aber auch nicht rückblickend Jahre danach entstanden. Das Erzähltalent Pederzolli brachte den ersten Teil bereits ein Jahr nach seiner schweren Verwundung und Gefangennahme in einem Spital in Nischni Nowgorod noch ganz unter dem Eindruck des Geschehens zu Papier und beendete die Niederschrift im November 1916 im Lazarett der Wiener Stiftskaserne. Eine zentrale Stelle daraus: »Die Russen flohen. Die nicht rechtzeitig davonkamen, nahmen wir gefangen. Es war höchste Zeit. Es fehlte wenig und wir wären zu erschöpft dazu gewesen. Als endlich alles vorbei war, schaute ich über das Schlachtfeld. Mein Gott, welches Blutbad! Die Toten in seltsamen Stellungen übereinandergehäuft, die Verwundeten röchelten um Hilfe, wir alle voller Blut wie die Schlächter, über allem jetzt eine Stille, die nach so viel Lärm umso drückender war. Ich sah die Toten und Verwundeten, hob die Hände und floh wie ein Wahnsinniger, nur weg von diesem verfluchten Bild, die Gedanken bei den vielen unverschuldeten Opfern und bei Gott, der diese Grausamkeit zulässt. Es kam mir wie ein Wunder vor, dass Bennoni und ich heil geblieben waren, ausgerechnet wir beide. Aber warum gerade wir zwei und die anderen zehn von unseren Freunden tot oder schwer verwundet. Ausgerechnet wir zwei! Warum? Ich verfluchte Gott und den Teufel, verfluchte alles, und ich dankte Gott nicht, dass er mich errettet hatte. Ich war zu aufgebracht. Aber warum sollte ich Ihm auch danken, Ihm, der ein solches Gemetzel an armen Unschuldigen zuließ.«

    Giovanni Pederzolli hatte sich als Wehrpflichtiger sofort nach Bekanntgabe der Mobilmachung bei seinem Kaiserjägerregiment in Trient gemeldet, war aber nicht unter den ersten, die nach Galizien geschickt wurden. Seinem leichtsinnigen Temperament schreibt er es später zu, dass er sich in angetrunkenem Zustand auf eine Rauferei mit einem Unteroffizier und einem Offizier einließ, die beiden bedrohte und beschimpfte, und das Vaterland gleich noch dazu. Dass ihn deshalb ein Militärgericht im Castello del Buon-consiglio zu vier Monaten schwerem Kerker verurteile, betrachtete Pederzolli »als wahrhaft mildes Urteil in jenen Zeiten des Krieges«. Noch dazu begnadigte ihn der General schon nach neun Tagen und schickte ihn zurück zur Truppe.

    Wieder bei seiner Einheit, erkrankte Pederzolli und brauchte Monate, bis er wieder einsatzbereit war. So wurde er erst am 2. Mai 1915 mit einem Marschbataillon nach Galizien einwaggoniert. Dort setzt seine Niederschrift ein. Es sind die Tage nach der siegreich geschlagenen Durchbruchschlacht von Gorlice-Tarnów. Immer wieder kommt es bei der Verfolgung der Russen zu blutigen Kämpfen; einmal Rückzug, dann erneuter Angriff. Nahkampf mit Bajonetten.

    Pederzolli erzählt von Hunger und Durst, die sie zu erleiden hatten, weil der Train nicht rasch genug folgen konnte. Schlimmer noch als der Hunger sei der Durst gewesen. Und der wurde ihm schließlich zum Verhängnis. Es war am 7. Juli 1915. Seit drei Uhr morgens war die Hölle los. Artillerieduelle über die Köpfe der Kaiserjäger hinweg, die in ihren für die Nacht gegrabenen Löchern steckten. Ein wolkenloser Tag. »Die Sonne brannte auf unsere Köpfe, der Durst fraß uns auf. [] Der Mund voll Dreck, die Augen vom Staub und Rauch fast blind, und der Magen leer seit drei Tagen. Gegen 8 war es nicht mehr auszuhalten.« Da rief der Kommandant Pederzolli zu sich und befahl ihm nicht, sondern bat ihn (»Wenn Du Dich nicht imstande fühlst dazu, dann bleib«), mit ein paar Freiwilligen im nahen Dorf Wasser zu holen. Dazu mussten sie unter russischem Feuer ungefähr 600 Schritte über freies Gelände laufen, bis ihnen ein kleiner Wald und dann das Dorf Schutz boten. »Wenn ein Offizier bittet, statt zu befehlen, gilt das Leben nichts mehr für mich.« Zu fünft liefen sie um Wasser und um ihr Leben. Zwei schafften es nicht, drei kamen im Wald an und erreichten das Dorf, füllten so viele Flaschen mit Wasser, wie sie tragen konnten, und machten sich auf den Weg zurück. Wieder im Wald angekommen, lag das freie Gelände davor derart unter Feuer, dass an ein Durchkommen nicht zu denken war. Was tun? Da sahen sie die eigene Kompanie in überstürzter Flucht, verfolgt von den Russen. »Wenn wir nicht hinüber zur Kompanie kommen, geht’s in die Gefangenschaft. Ein Hügel lag zwischen uns und nahm uns die Sicht auf einen guten Teil des Schlachtfeldes. Wer weiß, dachte ich, wenn wir da hinauf kommen, müssten wir die Fliehenden erreichen. Vorwärts, schrie ich. In zehn Minuten waren wir auf dem höchsten Punkt. Großer Gott! Was für ein Schauspiel bot sich unseren Augen. Voll Entsetzen sah ich es: Der Hang auf der anderen Seite war bedeckt mit Verwundeten und Leichen. Im Hintergrund sah man die Unseren Hals über Kopf davonrennen, und die Russen, mindestens vierfach überlegen, folgten in Schussweite. Ich sah herum: Russen, überall Russen. Wir waren umzingelt. Was ich jetzt tat, war Wahnsinn. [] Ich nahm alle Munition, die mir noch geblieben war, und schoss wie ein Wahnsinniger. [] Plötzlich, ich kann es mir selbst nicht erklären, verspürte ich einen Schlag gegen den Kopf, der wie von innen kam. Ich fiel wie vom Blitz getroffen. Jetzt bin ich tot, dachte ich. Ich wartete, doch der Sensenmann ließ sich zu lange Zeit. Ich öffnete die Augen. Sah uns. Ich war also weder tot noch blind. Nur der Kopf tat höllisch weh. Ich versuchte, ihn mit der Hand abzutasten. Bis zur Nase herunter war ich unverletzt. Ich suchte den Mund. Großer Gott! Es war ein Klumpen aus Fleisch und Brocken von Knochen; die ganze rechte Kinnlade hing herab, und aus dem schrecklichen Riss quoll das Blut in Wellen. Das Kinn lag auf der rechten Schulter. Gut zwanzig Zähne lagen verstreut über die Wiese, zusammen mit Knochen, Zahnfleisch und Kieferstücken. Ich versuchte aufzustehen, aber auch die rechte Schulter war unbrauchbar. Das verfluchte Schrapnell hat mir nicht nur den halben Mund weggerissen, sondern auch die Schulter zermalmt.« Es war ein hünenhafter russischer Soldat, der Giovanni Pederzolli das Leben rettete, indem er ihn verband und unter dem Feuer der Kanonen vom Hügel hinunter an eine sichere Stelle trug. Danach holte er Pederzollis Kameraden, rief die Sanitäter und verschwand. »Ich sah den guten Russen nie wieder.« Pederzolli war dem Tode näher als dem Leben, als man ihn ins nächste russische Feldspital brachte.

    Giovanni Pederzolli (links) als Kaiserjäger zusammen mit einem namentlich nicht bekannten Kameraden

    »Hier begann mein wahrer Kreuzweg.« Er bestand aus grässlichen Schmerzen in überfüllten Lazaretten, auf endlos langen Fahrten kreuz und quer durch Russland bis nach Sibirien, während er nur durch ein Röhrchen oder mit kleinen Löffelchen Schluck für Schluck mühsam ernährt werden konnte, und aus mehreren Operationen, deren erste in Minsk ein russischer und ein österreichischer Arzt gemeinsam vornahmen. Im Zuge einer Austauschvereinbarung über verwundete Kriegsgefangene wurde Giovanni Pederzolli im Juni 1916 zusammen mit vielen Leidensgenossen ins neutrale Schweden überstellt und von

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