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Lindas Entscheidung
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Ebook354 pages4 hours

Lindas Entscheidung

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About this ebook

Wolfsburg 1995. Linda steht mit beiden Beinen fest auf der Erde. Sie und Jan führen eine harmonische Ehe. Ihr Sohn Erik ist ein Wunschkind. Dann bekommt Jan die Chance, für zwei Jahre beruflich nach China zu gehen. Linda unterstützt ihn in seiner Entscheidung und genießt die Zeit als »Single«. Sie geht in ihrer Arbeit als Lehrerin auf, beschäftigt sich mit ihrem Sohn, trifft sich mit ihren Freundinnen.
Eines Tages taucht eine neue Kollegin an der Schule auf: Katharina. Die beiden Frauen werden Freundinnen. Katharina wird für Linda immer wichtiger. Linda muss sich schließlich fragen, was ihre Gefühle für die andere Frau zu bedeuten haben. Und dann kündigt Jan seine Rückkehr an ...

Band 1 der »Linda«-Trilogie, die mit »Neue Zeiten für Linda« und »Lindas Ankunft« fortgesetzt wird. - Entspannungslektüre mit Tiefgang!
LanguageDeutsch
Release dateDec 1, 2014
ISBN9783944576466
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    Book preview

    Lindas Entscheidung - Manuela Kuck

    FRAUEN IM SINN

    Verlag Krug & Schadenberg

    Literatur deutschsprachiger und internationaler

    Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

    historische Romane, Erzählungen)

    Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

    rund um das lesbische Leben

    Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de.

    Manuela Kuck

    Lindas Entscheidung

    K+S digital

    Für Dich, Christina.

    Wenn sich Träume erfüllen …

    Ich danke Gabriela, Laura und Ellen.

    Für den Mut, den Ihr mir gemacht habt.

    Für unzählige Anregungen.

    Für Eure Zuneigung und Anteilnahme.

    Ich danke Andrea und Dagmar.

    Ich habe viel von Euch gelernt.

    1

    Der Schnee lag hoch. Jedenfalls für Wolfsburger Verhältnisse. Linda stand am Küchenfenster und beobachtete, wie Jan vorsichtig in die Garagenauffahrt bog. Sie lächelte ihm zu, als er ausstieg und zum Fenster hochblickte. Jan stiefelte durch den Schnee, und Linda genoß für einen Moment den Anblick seiner kräftigen, breitschultrigen Gestalt, bevor sie sich umwandte und den Kaffee einschenkte. Das letzte spärliche Licht eines späten Januarnachmittags kroch durch die halbhohen Gardinen und verbreitete eine ruhige und beschauliche Atmosphäre. Sie hörte, wie Jan den Flur betrat und seinen Mantel aufhängte, und eine Woge von Zuneigung und Optimismus stieg in ihr empor. So könnte es immer weitergehen, dachte Linda plötzlich, und dieser unerwartete Gedanke ließ sie lächeln.

    Jan kam herein. Sein kaltes Gesicht streifte ihre Wange, als er ihr einen Kuß gab.

    »Du hast die Auffahrt nicht freigeschaufelt«, sagte er in gespielt vorwurfsvollem Ton und fuhr ihr durch die dunklen Locken, bevor er nach seiner Kaffeetasse griff.

    Linda tippte sich an die Stirn. »Jede Stunde fallen drei Zentner Schnee – da wäre ich ja den ganzen Tag beschäftigt gewesen! Im übrigen bricht der Herr Ingenieur sich auch keinen Zacken aus der Krone, wenn er mal zur Schaufel greift. Du bist doch sonst so sportlich.«

    Sie machte eine abwehrende Geste, bevor sie merkte, daß Jan sie necken wollte. Dann erwiderte sie seinen schmunzelnden Blick und ließ die Hände wieder sinken. Einen Moment lang sah es so aus, als würde er sie in die Arme ziehen und küssen, aber dann verdunkelten sich seine blauen Augen plötzlich um einige Nuancen, und das Spielerische und Fröhliche darin verschwand.

    »Wo ist eigentlich unser Sohn?« fragte er in sachlichem Ton und nahm am Küchentisch Platz.

    »Claudia hat ihn heute mittag vom Kindergarten abgeholt. Die beiden sind zum Rodeln gefahren. So konnte ich in aller Ruhe einen ganzen Stoß Klassenarbeiten korrigieren«, antwortete Linda und setzte sich zu Jan.

    Claudia war ihre drei Jahre jüngere Schwester. Erik und sie waren ein Herz und eine Seele, und Claudia holte den Jungen häufig ab, um ein paar Stunden mit ihm zu verbringen. Linda war Grundschullehrerin, und wenn sie einen halben Tag lang mit Kindern zu tun gehabt hatte, die ihre ganze Aufmerksamkeit und Zuwendung forderten, genoß sie es sehr, mal einige Stunden Ruhe zu finden.

    Jan nickte.

    »Mußt du nicht ins Sportstudio?« fragte Linda und betrachtete ihren Mann aufmerksam.

    Jan war seit vielen Jahren begeisterter Bodybuilder, und es verging kaum ein Tag, an dem er nicht für ein, zwei Stunden im Studio war. Linda sah, wie sich plötzlich eine tiefe Falte von seinen Augenbrauen bis zur Nasenwurzel zog. Jan fuhr sich mit beiden Händen durch sein kurzes dunkelblondes Haar.

    »Ich gehe heute nicht«, gab er knapp zurück.

    Linda beugte sich ein Stück zu ihm vor. »Ist irgend etwas, Jan? Du wirkst plötzlich so ernst. Gibt es Ärger im Werk?«

    Jan war Diplomingenieur im Volkswagenwerk und mit seinen sechsunddreißig Jahren bereits einige Stufen auf der Karriereleiter nach oben geklettert. Er war sehr ehrgeizig, manchmal nahezu verbissen.

    »Ärger? Nein, Ärger gibt es nicht. Aber … ich muß etwas mit dir besprechen.«

    Plötzlich schaute er sie direkt an, und seine Augen schimmerten. Linda hatte das Gefühl, daß er sich nicht entscheiden konnte, ob er nervös oder aufgeregt und fröhlich sein sollte. Sie nickte ihm zu und spürte auf einmal verwundert, wie wichtig sie für ihn war. Wieviel Halt und Bestätigung er durch sie fand.

    »Du machst es aber spannend«, sagte sie.

    »Es ist auch spannend«, gab er zurück und atmete tief durch. »VW will mich im Frühjahr für mindestens zwei Jahre nach China schicken.«

    Eine Weile blieb es ganz still. Linda hörte nur den Wind ums Haus pfeifen, und sie spürte den Druck, sich in diesem Augenblick richtig verhalten zu müssen, wie eine schwere Last auf den Schultern. Sie wußte, was ein solches Angebot für Jan bedeutete. In den vergangenen Jahren hatten sie nicht nur einmal über die Möglichkeit eines Auslandsaufenthaltes gesprochen, und Linda hatte Jan immer versichert, daß sie ihn in seinen Entscheidungen unterstützen würde. Bei diesen Gesprächen war auch klar geworden, daß sie nicht gemeinsam umsiedeln würden. Hauptsächlich wegen Erik und ihrer Arbeit, aber auch weil Jan langfristig ohnehin eine hohe Position im Wolfsburger Werk anstrebte. Aber China? Sie würden sich höchstens zwei- oder dreimal im Jahr sehen können.

    Linda schluckte. »Das ist aber sehr weit weg.«

    Jan griff nach ihren Händen. »Ja, sehr weit. Aber es ist eine Riesenchance für mich. Wenn ich zurückkomme, stehen mir in Wolfsburg alle Türen offen.«

    Linda nickte. »Ich weiß. Du kannst das gar nicht ablehnen.«

    Jan stand auf, zog sie von ihrem Stuhl hoch und nahm sie in die Arme. »Tapferes Mädchen«, sagte er leise. »Es wird schwer werden, aber wir schaffen das. Oder was meinst du?«

    Sie erwiderte seinen fragenden Blick mit einem leisen, zustimmenden Lächeln und strich über seine schmalen Wangen. Jan brauchte ihre Unterstützung und die Gewißheit, daß sie voll und ganz hinter seinen Plänen stand. Sie sah, daß er tief gerührt und erleichtert war, und in seinen Augen blitzte es freudig auf. Er drückte sie fest an sich.

    »Ja, natürlich schaffen wir das«, sagte Linda. »Aber es kommt so plötzlich, und zwei Jahre ohne dich sind eine lange Zeit.«

    Die nächsten Wochen vergingen schneller, als es Linda lieb war. Jans Abflugtermin war auf den 18. April festgelegt worden, und in der Zwischenzeit gab es jede Menge zu erledigen. Sowohl ihre als auch Jans Eltern hatten freudig überrascht reagiert. Es hatte Linda einen kleinen Stich versetzt, als sie sah, wie Jans Vater seinem Sohn auf die Schultern geklopft hatte und Jan sich verlegen, aber mit glänzenden Augen durch das kurze Haar gefahren war. Er hatte es immer noch nicht verwunden, daß sein jüngerer Bruder Christoph in die Fußstapfen des Vaters treten und in einigen Jahren die Wirtschaftsberatungsfirma übernehmen sollte, während er mit seiner technischen Begabung so ganz aus dem Familienrahmen fiel. Sein Verhältnis zu Christoph war kühl und häufig sehr angespannt. Jan genoß es, daß nun zur Abwechslung einmal er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand.

    Lindas Vater war einer der angesehensten und erfolgreichsten Anwälte Wolfsburgs. Seine Kanzlei hatte sich im Laufe der Jahre zu einem florierenden Unternehmen entwickelt, und Linda war von klein auf damit vertraut, daß die Familie auf geschäftliche und berufliche Interessen Rücksicht zu nehmen hatte. Dennoch gab es in all der Aufregung und Hektik viele Momente, in denen der Abschiedsschmerz bereits an ihr nagte und sie mit einigem Bangen an die Zukunft dachte. Ihre Mutter hatte ihr geraten, Haltung zu bewahren und ihre persönlichen Gefühle zurückzustellen, worauf Linda nur ein säuerliches Lächeln hatte aufsetzen können. Elisabeths Haltung imponierte ihr keineswegs, sie empfand sie eher als steif und gefühllos.

    Jan brach am Nachmittag auf. Ein Kollege, der im VW-Werk in Hannover zu tun hatte, würde ihn zum Flughafen mitnehmen. Linda war erleichtert, daß der Abschied nicht in einer Abflughalle stattfand, und sie hatte den Eindruck, daß es Jan ähnlich erging. Er umarmte Linda und Erik und schien sie gar nicht mehr loslassen zu wollen. Sein Lächeln war zärtlich und warm, aber seine Unterlippe zitterte ein wenig, und Linda wollte es ihm nicht unnötig schwer machen. Sie schluckte ihren Kloß im Hals herunter und küßte das Zittern weg.

    »Sei vorsichtig«, flüsterte sie, »und vergiß uns nicht.«

    »Paßt auf euch auf«, gab er zurück, dann drehte er sich um und ging.

    Am späten Abend, als Erik längst tief und fest schlief, wanderte Linda durchs Haus, räumte auf und horchte in sich hinein. Die Stille in den Räumen hatte sich verändert. Linda holte sich einen Becher Kaffee und ging nach oben in ihr kleines Dachzimmer. Dort standen ein kleiner Schreibtisch und ein altes Plüschsofa. Hohe Kiefernregale reichten bis unter die Decke und waren dicht gefüllt mit Büchern und Ordnern. Selbst auf dem Boden stapelten sich in kunterbuntem Durcheinander Zeitschriften, Taschenbücher und Notizhefte. Linda genoß es, hier alles nach Belieben stehen und liegen lassen zu können und betrachtete diesen Raum als ihr ganz privates Reich. Sie mochte es nicht, wenn Jan oder Erik sie hier störten. Lediglich Claudia war willkommen. Und natürlich Anna.

    Linda streckte sich auf dem Plüschsofa aus und lächelte. Anna war die ältere Schwester ihrer Mutter, und sie konnte sich kein ungleicheres Geschwisterpaar vorstellen. Sie schüttelte den Kopf. Was für eine Familie, dachte sie, und plötzlich spürte sie, wie bleischwere Müdigkeit durch ihren Körper kroch. Es war ein angenehmes Gefühl. Sie zog eine dicke Wolldecke über sich und kuschelte sich mit angezogenen Beinen ein.

    Der Alltag mit seiner gleichmäßigen Routine half Linda über den Abschiedsschmerz hinweg. Im Grunde hatte sich nicht viel verändert. Sie verließ frühmorgens das Haus, brachte Erik in den Kindergarten, eilte in die Schule, holte ihn am späten Mittag wieder ab und seufzte erleichtert, wenn er eine Stunde schlief. Nachmittags war sie mit dem Kleinen unterwegs, kümmerte sich um ihren Haushalt und erledigte Einkäufe. Die Abendstunden waren neu, anders, ungewöhnlich. Sie spielte wieder regelmäßig Volleyball und traf sich mit Claudia oder ihrer Kollegin Bettina, während Erik von Tanja, einer Studentin, die ihn regelmäßig betreute, gehütet wurde. Manchmal lag sie am späten Abend entspannt auf dem Sofa im Wohnzimmer und hörte sich alte Musikstücke an. Sie trug verwaschene Jeans und weite Pullover, und die Melancholie, die sie hin und wieder überfiel, war sanft und fast angenehm.

    Die Traurigkeit über Jans Abwesenheit nahm immer weniger Raum ein, und schließlich war sie so winzig, daß Linda sehr genau hinschauen mußte, um sie überhaupt noch wahrzunehmen. An einem Nachmittag im Mai wurde ihr von einem Augenblick auf den anderen bewußt, daß sie ihr Leben mit einer bemerkenswerten Unbeschwertheit genoß. Und von diesem Moment an wurde alles anders – Schritt für Schritt, auch wenn es sie sehr beunruhigte, diesen Wandel zu akzeptieren.

    Ihre Mutter hatte sich zum Kaffee angemeldet. Da das höchstens dreimal im Jahr vorkam und ihr Verhältnis auch ansonsten eher distanziert war, hatte Linda ihrem Besuch innerlich tief seufzend, aber doch freundlich zugestimmt. Wahrscheinlich, schätzte Linda, war Elisabeth der Meinung, sie müsse sich nun mehr um sie kümmern. Der prüfende Blick, mit dem sie zunächst ihre Tochter und dann das Wohnzimmer betrachtete, entging Linda nicht. Sie entschloß sich, das Ganze mit Humor zu nehmen.

    »Setz dich doch, Mama«, sagte sie. »Wie du siehst, steht alles noch an Ort und Stelle, und ich räume auch regelmäßig auf.«

    Elisabeth nickte. Sie war eine elegante Erscheinung. Den Begriff Freizeitkleidung gab es in ihrem Wortschatz nicht. Sie trug hauptsächlich Kostüme, allenfalls mal einen Hosenanzug, und dazu immer eine passende Bluse. Linda spürte die Fremdheit zwischen sich und ihrer Mutter seit ihrer Kindheit, aber heute trat sie besonders klar hervor.

    Elisabeth nahm sich ein Stück Kuchen, und während Linda von der Schule erzählte, um keine längere Gesprächspause entstehen zu lassen, spürte sie die dunklen Augen ihrer Mutter forschend über ihr Gesicht tasten.

    »Und was gibt es bei euch Neues?« fragte sie schließlich.

    »Ach, nur das Übliche«, entgegnete Elisabeth. »Dein Vater ist fleißig wie immer.«

    Diesen Satz habe ich bestimmt schon hunderttausendmal gehört, dachte Linda.

    »Wie ich sehe, geht es dir sehr gut«, sagte Elisabeth plötzlich, und in ihrer Stimme klang Verwunderung mit.

    »Ja, es geht mir gut, Mama.«

    »Hast du schon von Jan gehört?«

    »Er hat bisher zweimal geschrieben, und wir telefonieren miteinander.«

    »Ich glaube, ich habe dich unterschätzt.« Elisabeth trank einen kleinen Schluck Kaffee, und wieder musterte sie ihre Tochter so eindringlich, daß es Linda unangenehm war. »Du hast diese neue Situation viel besser im Griff, als ich vermutet hatte, und ich habe nicht den Eindruck, daß du um Gelassenheit kämpfen mußt.«

    »Wie meinst du das denn?« Linda war verwirrt, und ein leises Unbehagen kroch in ihr hoch, ohne daß sie eine Erklärung dafür fand.

    »Liebes Kind«, Elisabeth lächelte, »ich will dir ein Kompliment machen. Schließlich ist es doch für eine junge Frau von zweiunddreißig Jahren nicht ganz einfach, ihren Mann nach China gehen zu lassen und ihn in zwei Jahren nur einige Male sehen zu können. Innerhalb weniger Wochen hast du dich umgestellt und bewältigst deinen Alltag ganz allein – mit Beruf, Kind und Haushalt.«

    Und ich fühle mich immer wohler dabei, fügte Linda in Gedanken hinzu. Sie erschrak und konnte nur mit Mühe ein unsicheres Lächeln auf ihre Lippen zaubern.

    »Nun«, entgegnete sie, »ich bin erwachsen, und Jan und ich wußten doch immer, daß er irgendwann mal ins Ausland muß.«

    Ihre Stimme klang ein wenig brüchig. Elisabeth lächelte herzlich und verabschiedete sich kurz darauf. Linda begleitete sie zur Tür und blickte ihr nach. Dann wandte sie sich abrupt um und holte Jans letzten Brief, der in der Küche an der Pinnwand hing. Sie las ihn zwei Mal. Und noch ein drittes Mal. Das beigelegte Foto zeigte Jan in einer großen Fabrikhalle. Er lächelte verschmitzt in die Kamera. Linda lächelte zurück. Dann holte sie ihren Sohn aus dem Sandkasten im Garten und steckte ihn in die Badewanne. Erik quietschte vergnügt und so laut, daß Linda zusammenzuckte. Was für ein Unsinn, dachte sie plötzlich, warum sollte ich mich nicht wohl fühlen? Ich bin seit zehn Jahren mit Jan zusammen, wir sind seit sieben Jahren verheiratet, da tut eine Veränderung durchaus gut, und es wird doch wohl niemand von mir erwarten, daß ich den ganzen Tag mit hängenden Schultern in der Ecke sitze und Trübsal blase! Der Gedanke hatte etwas Erfrischendes.

    Kurz nach sieben war Erik endlich eingeschlafen. Linda saß mit einer Schüssel Salat und einem großen Baguettebrötchen vor dem Fernseher, als es klingelte. Sie wischte sich eilig den Mund ab und öffnete die Haustür.

    »Ich komme unangemeldet – hoffentlich störe ich nicht«, sagte Anna und lächelte ihre Nichte strahlend an.

    »Aber natürlich nicht«, rief Linda und bat sie herein. »Ich freue mich sehr, dich zu sehen.«

    Anna war eine außergewöhnliche Frau, und Linda kannte keinen Menschen, der so aufmerksam und offen war wie sie. Ihr Lächeln war unwiderstehlich, und wenn sie zuhörte, ließ sie sich durch nichts ablenken. Oftmals bekam sie Zwischentöne mit, die Linda gerne verborgen hätte. Seit mehr als zwanzig Jahren war sie Inhaberin einer kleinen Buchhandlung, in der Linda sich schon als Kind häufig aufgehalten hatte. Anna war groß und kräftig gebaut, und doch strahlte sie Weiblichkeit und Anmut aus. Man konnte sich vorstellen, wie sie behutsam die Seiten eines Gedichtbandes umblätterte oder Petersilie kleinhackte, aber auch wie sie ein Regal zimmerte oder den Garten umgrub. Ihr schmales Gesicht war von vielen feinen Linien durchzogen, und dem intensiven Blick ihrer dunkelgrauen Augen schien nichts zu entgehen.

    »Kann ich dir auch etwas zu essen anbieten?« fragte Linda.

    Anna winkte ab. »Nein, nein, vielen Dank – aber vielleicht hast du noch einen Kaffee?«

    Linda ging in die Küche und erzählte durch die geöffnete Tür von dem Besuch ihrer Mutter, während sie eine Tasse aus dem Schrank holte und Kaffee einschenkte. »Stell dir vor, sie hat mich gelobt, daß ich meinen Alltag ohne Jan so gut im Griff habe!«

    Anna blickte ihr aufmerksam entgegen, als Linda mit dem Kaffee zurückkam und sich zu ihr setzte. »Das ist in der Tat ungewöhnlich. Was genau meinte sie denn damit?«

    Linda strich sich die Haare aus dem Gesicht. Auf einmal bereute sie es, dieses Thema angeschnitten zu haben. »Na ja, sie denkt wohl, daß ich mich tapfer halte«, erklärte sie.

    »Und wie denkst du darüber?«

    »Ich komme gut klar. Jan braucht sich um Erik und mich keine Sorgen zu machen, und unsere Ehe wird diese Trennung verkraften.«

    »Vermißt du ihn sehr?« Anna hielt ihren Blick unverwandt auf sie gerichtet.

    Linda wollte lächeln, doch plötzlich hatte sie das bestürzende Gefühl, irgend etwas tief in ihr wollte sich mit Gewalt einen Weg nach oben bahnen und rückhaltlos aus ihr herausbrechen. Sie öffnete den Mund, ohne zu wissen, was sie sagen sollte, dann hörte sie zu ihrer großen Erleichterung Erik weinen und sprang auf.

    »Bin gleich wieder da«, sagte sie und eilte nach oben.

    Erik hatte nur schlecht geträumt. Linda nahm sich viel Zeit, ihn liebevoll zu beruhigen und zuzudecken. Sie spürte, daß ihre Fingerspitzen vibrierten. Als sie wieder nach unten kam, sah sie über die fragenden Augen ihrer Tante hinweg und erkundigte sich nach Robert, Annas Freund. Eine halbe Stunde später brach Anna auf. Linda lehnte den Kopf an die Haustür und schloß für einen Moment die Augen.

    Äußerlich blieb alles, wie es war. Aber die Unbeschwertheit war fort. Sie war einer verstörenden Unruhe gewichen und dem Bemühen, halbherzige Erklärungen zu finden für ein Lebensgefühl, das ihr nicht passend schien. Die Suche nach der Traurigkeit, nannte sie diesen Zustand, und eine Stimme in ihr wies mit spitzem Unterton darauf hin, daß sie Sehnsucht nach ihrem Mann empfinden müßte. Seelische und körperliche Sehnsucht. Aber Jan hatte sich in eine schemenhafte Gestalt verwandelt, und das Bild, das sie von ihm hatte, wurde zusehends blasser. Wie ein altes Foto, auf dem die Konturen immer unschärfer werden, ohne daß dieser Verlust aufgehalten werden kann. Manchmal beschwor sie angstvoll sein Gesicht herauf und lachte erleichtert, wenn es so nah vor ihr stand, daß sie es hätte streicheln können.

    Wenige Tage nach den Gesprächen mit ihrer Mutter und Anna wachte Linda mitten in der Nacht aus einem Alptraum auf, von dem sie nur wußte, daß er aufwühlend und beängstigend gewesen war. Sie ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Ihre Hände zitterten. Sie schaute in die dunkle Nacht hinaus. Ja, dachte sie unvermittelt, so einfach ist das. Ich vermisse ihn nicht mehr, ganz im Gegenteil, ich bin inzwischen froh, daß er fort ist! Der Gedanke war so schockierend, daß sie einen Moment lang die Luft anhielt und dann ihren Tränen freien Lauf ließ. Zwei Nächte später träumte sie zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder von Julia. Und von Jan, der sich wutentbrannt auf sie stürzte. Die Vergangenheit hatte begonnen, sie einzuholen. Genau davor hatte sie Angst gehabt.

    Linda schaute seufzend auf die Uhr, als die Tür leise ins Schloß gefallen war. Sie konnte diese Elternsprechstunden nicht ausstehen. Meist kamen Mütter zu ihr, die entweder nur Lobgesänge auf ihre Kinder hören wollten oder aber von der Klassenlehrerin Erziehungsmaßnahmen erwarteten, für die Linda sich ganz und gar nicht zuständig fühlte. Manchmal wurde ihr angst und bange, wenn sie mitbekam, wie verunsichert und hilflos Eltern auf ihre acht-, neunjährigen Kinder reagierten und mit welchen Problemen sich manche Familien befassen mußten. In ihrer vierten Klasse gab es ein Mädchen, das regelmäßig Alkohol trank, in der zweiten rauchten bereits einige Schüler eifrig.

    Linda schreckte hoch, als es klopfte. Bettina, ihre Kollegin und Freundin, schaute herein. »Fährst du gleich nach Hause oder kommt noch jemand?«

    »Eine Mutter steht noch auf meiner Liste. Üble Geschichte. Ich denke, das dauert länger.«

    »Okay – dann fahre ich schon.«

    Bettina winkte ihr kurz zu und wollte die Tür schließen. Dann öffnete sie sie weit und nickte freundlich. Eine ältere Frau stand neben ihr und trat dann zurückhaltend lächelnd ein.

    »Frau Baum?« fragte sie leise.

    Linda lächelte ihr herzlich zu. »Ja. Nehmen Sie doch bitte Platz. Sie sind Frau Schneider, die Mutter von Sonja?«

    »Ja.«

    Frau Schneider war eine ungewöhnlich blasse Frau. Sie vergrub ihre Hände im Schoß, und Linda erschrak über den tieftraurigen Blick, mit dem sie zunächst zum Fenster hinausschaute, bevor sie sich ihr zuwandte.

    »Sie haben mich hergebeten, Frau Baum«, sagte sie und bemühte sich um eine feste Stimme. »Ich kann mir denken, daß es zur Zeit mit Sonja nicht so ganz einfach ist, aber glauben Sie mir, ich habe im Moment andere Probleme.«

    Das glaubte Linda ihr aufs Wort. Dennoch war die Veränderung, die mit Sonja im Laufe eines knappen Jahres vor sich gegangen war, so auffällig, daß sie handeln mußte. Als sehr junge Lehrerin war sie noch voller Idealismus gewesen und hatte angenommen, daß gut vorbereitete Schulstunden, viel Geduld und Aufmerksamkeit ausreichten, um Kinder auf den richtigen Weg zu bringen. Inzwischen war ihr längst klar geworden, daß ihr Einfluß und der Einfluß der Schule bei weitem nicht so groß und oft nicht mal gewünscht war.

    »Frau Schneider«, begann Linda, »Sonjas Entwicklung ist sehr besorgniserregend. Sie war zu Beginn des Schuljahres eine lebhafte und interessierte Schülerin. Sie hat ihre Hausaufgaben gemacht und gute Klassenarbeiten geschrieben. Mittlerweile beteiligt sie sich überhaupt nicht mehr am Unterricht, sie fehlt häufig, und ihre Leistungen sind so schwach geworden, daß ihre Versetzung gefährdet ist. Was mich jedoch am meisten beunruhigt, ist die Tatsache, daß sie sich so verändert hat. Es fällt mir schwer, sie überhaupt noch wiederzuerkennen. Ihre Fröhlichkeit ist wie weggeblasen. Sie wird schnell aggressiv oder sagt überhaupt nichts. Meinen Sie nicht, daß ich da als ihre Klassenlehrerin mal nachhaken sollte?«

    Frau Schneider lächelte müde. »Mag sein«, gab sie zu, »doch ändern wird sich dadurch auch nichts.« Sie hob kurz die Hände und ließ sie dann wieder in den Schoß sinken. »Ich möchte Sie mit unseren Problemen verschonen.« Einen Moment schaute sie Linda direkt an. »Mein Mann ist seit Monaten arbeitslos«, erklärte sie dann mit abgewandtem Blick. »Mit seinen knapp fünfzig Jahren hat er auch keine Hoffnung mehr, wieder einen Job zu finden. Er … er ist am Boden zerstört. Er trinkt … Verstehen Sie …?«

    Linda nickte. »Ich glaube schon. Aber es geht auch um Sonjas Zukunft.«

    Frau Schneider zog kurz die Augenbrauen hoch und wandte sich ab. »Sonjas Zukunft. Ja, ich weiß. Ich werde sie darauf hinweisen.«

    Ihr leiser, doch plötzlich zynischer Ton ließ Linda zusammenzucken. Sie wußte, daß Sonja noch drei ältere Geschwister hatte. Auf einmal fühlte sie sich sehr hilflos und gleichzeitig beschämt. Was wußte sie schon von den Sorgen und Nöten einer Mutter von vier Kindern, deren Mann die Arbeit verloren hatte und der seinen Frust an seiner Familie ausließ? Sie persönlich hatte solche Probleme nie gekannt, und sie hätte strahlen müssen vor Glück, Zufriedenheit und Dankbarkeit.

    Als Frau Schneider gegangen war, stand sie einen Moment am offenen Fenster und atmete tief die frische Luft ein. Ich muß heute noch in die Stadt, dachte sie plötzlich, Anna hat nächste Woche Geburtstag, und ich habe noch kein Geschenk. Sie packte ihre Sachen zusammen. Kopfschmerzen kündigten sich an. Langsam und mit stechendem Druck krochen sie über den Hinterkopf zu ihrer Stirn vor und setzten sich dort fest. Es war kein guter Tag heute. Der Traum mit Julia brannte ihr noch auf der Zunge. Ein Geschmack wie Zucker und Essig, der sich nicht hinunterschlucken ließ. Linda ging eilig ins Lehrerzimmer, um einen Stoß Klassenarbeiten aus ihrem Fach zu holen. Sie war froh, niemandem zu begegnen. Ihr war nicht nach Reden zumute.

    »Hallo, meine Schöne, hast du Zeit für einen Geburtstagsgruß?«

    Anna drehte sich um, den Schlüssel, mit dem sie gerade ihre Buchhandlung zugesperrt hatte, noch in der Hand. Robert kam auf sie zu, strahlend und vergnügt und das Gesicht halb hinter einem riesigen Strauß roter Rosen verborgen.

    »Das ist ja eine Überraschung!« rief sie und lachte fröhlich, als er den Blumenstrauß kurzerhand auf den Boden legte, ihre Taille umfaßte und sie mühelos hochhob, um ihr einen Kuß zu geben.

    »Da staunst du, was?«

    »Ja, allerdings.«

    Sie standen jetzt dicht beieinander, und obwohl Anna eine hochgewachsene Frau war, ging sie Robert gerade mal bis zu den Schultern. Er war ein Bär von einem Mann – breit und massig und voller Kraft. Sein Blick war zärtlich und weich, als er ihr Haar berührte, und wie immer, wenn sie sich nach längerer Zeit wiedersahen, staunte Anna, daß ein so schwergewichtiger Mann so behutsam und sanft sein konnte.

    »In München ist alles glatt gelaufen, und außerdem: Du feierst heute deinen sechzigsten Geburtstag! Da darf ich doch nicht fehlen. Ich wünsche dir alles Liebe.«

    Er schloß sie fest in seine Arme, und in seinem Gesicht spiegelte sich unbändige Freude über die gelungene Überraschung wider. Robert war achtundvierzig Jahre alt und freischaffender Journalist und Fotograf. Er war ständig unterwegs, und Anna wußte, daß er dieses unstete Leben liebte, obwohl es bedeutete, daß sie sich höchstens zwei-, dreimal im Monat sehen konnten. Sie waren seit acht Jahren zusammen, und ihre Beziehung war innig und unkompliziert. Beide genossen ihr Zusammensein genau so sehr wie ihre Freiräume.

    »Was liegt denn an deinem Ehrentag an?«

    »Ich habe die Familie und einige Freunde zum Essen eingeladen.«

    »Machen wir uns einen Spaß daraus?« Robert lächelte verschmitzt.

    Ihre Beziehung bot insbesondere Annas Schwester Elisabeth immer wieder

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