Bürgerkrieg in der Ukraine: Geschichte, Hintergründe, Beteiligte
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Ost-Experte Reinhard Lauterbach holt die überhitzte Debatte auf den Boden der Tatsachen zurück. Wohltuend nüchtern skizziert er in knapper Form die jüngere Geschichte der russisch-ukrainischen Beziehung, er analysiert in sachlichem Ton die Entstehung des gegenwärtigen Krieges, ohne Schwarz-weiß-Malerei erklärt er die Interessenlagen der Großmächte und charakterisiert die handelnden Kräfte sowie deren Ziele. Entgegen der einseitigen Berichterstattung in hiesigen Medien kommt er in einem Ausblick zu einem differenzierten Blick auf das Geschehen und liefert somit einen unparteiischen Beitrag zu einem der wichtigsten Themen unserer Zeit.
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Book preview
Bürgerkrieg in der Ukraine - Reinhard Lauterbach
Reinhard Lauterbach
Bürgerkrieg in der Ukraine
Geschichte, Hintergründe, Beteiligte
© privat
Reinhard Lauterbach, Jahrgang 1955, absolvierte ein Studium der Geschichte und Slawistik in Mainz, Kiew und Bonn. Er war viele Jahre als Redakteur bei verschiedenen öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten tätig, davon drei als Auslandskorrespondent für die Ukraine und Weißrussland. Seit 2013 ist er freier Osteuropakorrespondent für Print- und Onlinezeitungen und lebt in Polen.
eISBN 978-3-95841-509-6
3., aktualisierte und erweiterte Auflage
Alexanderstraße 1
10178 Berlin
Tel. 01805/30 99 99
FAX 01805/35 35 42
(0,14 €/Min., Mobil max. 0,42 €/Min.)
© 2014 by BEBUG mbH / edition berolina, Berlin
www.buchredaktion.de
Inhalt
Prolog
Einleitung:
Von der »Europäischen Wahl« zum Krieg
Von Teilung zu Teilung
Die Frühgeschichte der Ukraine
Gegen Polen, Juden und Russen
Die Geschichte des ukrainischen
Nationalismus
Die ukrainische Sowjetrepublik
20 Jahre auf der Schaukel
Die unabhängige Ukraine von 1991 bis 2013
»Regime Change« in Aktion
Der Euromaidan 2013/14
Eine Wegwerfgegend wehrt sich
Das Donbass und sein Aufstand
Ausblick
Anmerkungen
Prolog
Im Oktober 1999 stand in der Ukraine die Präsidentenwahl an. Amtsinhaber Leonid Kutschma bewarb sich um eine zweite Amtszeit. Ich war damals ARD-Hörfunkkorrespondent in Kiew und bekam vielfache Berichte über Wählerbeeinflussung und zweifelhafte Praktiken mit. Im strengen Sinne nachprüfbar waren sie selten, doch unplausibel waren sie auch nicht. Die zahlreich ins Land gekommenen OSZE-Beobachter aber berichteten zwei Tage nach der Wahl, die Abstimmung sei alles in allem ordentlich abgelaufen. Auch das Auswärtige Amt äußerte sich in diesem Sinne.
Einige Tage später traf ich bei einem Empfang die Presseattachée der Deutschen Botschaft in Kiew. Ich fragte sie beiläufig, warum Berlin dieser erkennbar gefälschten Wahl sein Gütesiegel verpasst habe. Die Frau schaute mich groß an: »Ja, was wäre denn die Alternative gewesen? Wäre Ihnen ein Sieg des Kommunisten lieber gewesen?« Sie bestritt die Fälschungen also gar nicht; nur waren sie für sie offenbar zugunsten des Richtigen passiert.
Die Doppelzüngigkeit der westlichen Argumentation war aber nur der eine Aspekt. Kutschma täuschte sich, wenn er glaubte, der Westen decke ihn. Das war nur die halbe Wahrheit. Kutschma, ein Mann, der die ukrainische Politik des Lavierens zwischen Moskau, Washington und Brüssel zur Meisterschaft brachte, hatte sich in die Hand seiner dortigen »Freunde« begeben, und die begannen, ganz im Stillen an seinem Stuhl zu sägen. Im Winter 1999/2000, drei Monate nach Kutschmas Wiederwahl, war ein Nachwuchsjournalist namens Georgij Gongadze, der Sohn eines georgischen Nationalisten und Kämpfer in den diversen Bürgerkriegen der frühen 1990er Jahre, dem in seinem eigenen Land der Boden zu heiß geworden war und der sich nach Kiew abgesetzt hatte, in Washington. Er wollte Geld für ein kleines Radio und eine Internetseite und bekam es. Das Radio hieß »Kontinent« und betrieb bei den im Jahr darauf anstehenden Parlamentswahlen nichts als das Kolportieren von Wahlfälschungsvorwürfen. Endlose Call-In-Shows dienten dazu, dass jeder, der Lust hatte, wirkliche oder angebliche solche Vorfälle in der letzten Dorfschule in den Karpaten melden konnte; Gegenchecks und Recherchen vor Ort waren nicht vorgesehen. Man kann auch sagen: der Sender hetzte. Gleichzeitig entstand in Kiew ein »Wählerkomitee der Ukraine«, das sich angeblich der Wahlbeobachtung widmete. Hinter dem Schreibtisch des Vorsitzenden hing eine US-Fahne, auf dem Tisch stand ein Foto von Margaret Thatcher.
Die von Gongadze mit amerikanischem Geld begründete Internetseite bekam den Namen »ukrainskaja pravda« und erwarb sich Verdienste darum, Korruptionsfälle in den Reihen der ukrainischen Staatsmacht zu enthüllen. Im Herbst 2000 war es Kutschma offenbar zu blöd mit diesen Kritikern; er erteilte höchstwahrscheinlich den Auftrag, Gongadze zum Schweigen zu bringen. Sein Geheimdienst nahm die Aufgabe wörtlich, entführte den Georgier, dessen enthaupteten Körper man einige Wochen später in einem Straßengraben fand. Wenig später begannen Radio »Kontinent« und »ukrainskaja pravda« mit der Veröffentlichung von Abhörprotokollen aus Kutschmas Amtszimmer. Daraus ging die Verantwortung des Präsidenten und seiner Entourage für das Verschwinden Gongadzes hervor. Die Wanzen angebracht hatte ein Mitglied von Kutschmas Leibwache, Major Melnitschenko. Als die Enthüllungen begannen, saß er schon im sicheren tschechischen Exil und steuerte über den in Prag ansässigen US-Propagandasender »Radio Liberty« seine Kommentare bei. Der Abhörskandal gebar die Bewegung »Ukraine ohne Kutschma«, und aus dieser ging zwei Jahre später die »Orange Revolution« hervor. Ganz zufällig.
Einleitung: Von der »Europäischen Wahl« zum Krieg
Dieses Buch beschreibt einen Prozess, der im Frühjahr 2015 weitgehend abgeschlossen scheint: sehr verkürzt gesagt, den Wechsel der Ukraine aus der russischen in die europäisch-amerikanische Einflusszone. Es wird Gelegenheit sein, beide Elemente dieser Formel zu differenzieren, denn weder war die Ukraine unter Wiktor Janukowytsch das, was die radikalen Nationalisten über sie behaupteten: eine Halbkolonie Russlands, noch sind die Vorstellungen von EU-Europa und den USA über die Zukunft des Landes identisch. Karikaturen, die ja immer vereinfachen, würden ein Stück Fleisch mit der Aufschrift »Ukraine« und darum herum drei Hunde zeigen, die sich um dieses Stück balgen. Jeder dieser Hunde gönnt dem anderen den Brocken nicht, und zwei davon sind deutlich größer als der dritte. Diese Karikatur wäre nicht völlig falsch, aber sie unterschlüge einen Punkt: die ukrainische Gesellschaft ist kein willenloses Objekt dieser geopolitischen Konkurrenzen, sondern sie und die in ihr herrschenden politischen, ökonomischen und mentalitätsbezogenen Gegensätze werden für diese Konkurrenz instrumentalisiert. Um das Bild ein letztes Mal zu bemühen: bei dem Gerangel hat das Stück Fleisch geringe Chancen, vollständig im Magen eines der drei Hunde zu landen.
Die Auseinandersetzung um die Ukraine hat nicht erst im Spätherbst 2013 begonnen. Wann die geopolitische Konkurrenz um die Beherrschung des Landes einsetzte, hängt davon ab, wie weit man zurückblickt. Man kann sie ins Mittelalter oder ins 17. Jahrhundert zurückprojizieren; das ist eine Sichtweise, die unter prowestlichen Ukrainern beliebt ist. Sie läuft zwar große Gefahr, ahistorisch zu werden, weil Auseinandersetzungen feudaler Imperien mit den Kriterien moderner Nationalstaaten gemessen werden; aber ihr geschichtspolitischer Nutzen liegt darin, der Ukraine einen wie auch immer umkämpften Platz unter den Ländern des »lateinischen Kulturkreises« zu unterstellen. Sie erscheint in diesem Diskurs als etwas von Anbeginn anderes als Russland.
Eine andere Sichtweise könnte mit den deutschen Kriegszieldiskussionen im Vorfeld und im Verlauf des Ersten Weltkrieges ansetzen. In ihr kommt die Ukraine im Ausgangspunkt als Besitzstand des Russländischen¹ Imperiums vor, die im Interesse konkurrierender Hegemonieansprüche des deutschen Kaiserreichs von ihr losgerissen werden müsse und letztlich losgerissen worden sei. Gut und Böse sind in diesem Diskurs ebenso eindeutig verteilt wie in demjenigen, der die Ukraine, die zu diesem Zeitpunkt ein nicht näher definiertes Territorium war, als Staat im Wartestand definiert, der seiner Befreiung entgegenkämpfte.
Das kaiserliche Deutschland oder die »Ostraum«-Strategen in Alfred Rosenbergs Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete waren allerdings nicht die einzigen, die Überlegungen über die Zerlegung des Russländischen Imperiums in seine nationalen Bestandteile anstellten. Der Gedanke findet sich ebenso bei angelsächsischen Geopolitikern des frühen 20. Jahrhunderts wie bei polnischen Emigranten der Zeit zwischen 1945 und 1990 – und bei amerikanischen Sicherheitsberatern und Geostrategen wie Zbigniew Brzezinski. An dieser Stelle hat der deutsche Faschismus klassisch imperialistische Ziele, und nicht einmal nur solche des deutschen Imperialismus, verfolgt. Die Idee, das im westlichen und zentralen Europa so erfolgreiche Konzept des Nationalismus gegen ein multinationales Imperium in Stellung zu bringen, lag einfach zu nahe, als dass irgendein Gegner Russlands an ihr hätte vorbeigehen können. Die Zweckliaison, die der ukrainische Nationalismus eine Zeitlang mit dem deutschen Militär und dem deutschen Faschismus einging, lag in der Konstellation nach dem Ersten Weltkrieg begründet; Michailo Hruschewskyj, der Begründer der ukrainischen nationalen Historiographie, hatte seine Thesen allerdings als Professor an der k.u.k.-Universität Lemberg entwickelt und sich als Lohnschreiber für die österreichische Propaganda einspannen lassen. Diesen Verbindungen wird ein eigener Abschnitt gewidmet sein.
Ein letzter Periodisierungsschnitt in der Betrachtung der geopolitischen Auseinandersetzung um die Ukraine müßte mit der Unabhängigkeitserklärung des Landes im August 1991, die im Dezember desselben Jahres in einem Referendum bestätigt wurde, einsetzen. Erst seit diesem Zeitpunkt ist die Ukraine formal ein eigener Staat, der sich äußeren Begehrlichkeiten ausgesetzt sah und gut 20 Jahre lang versucht hat, diese in seinem eigenen Überlebensinteresse gegeneinander auszubalancieren. Es brauchte von da an 13 Jahre, bis die »prowestlichen« Kräfte das erste Mal die Machtfrage in Kiew stellten. Die »Orange Revolution« von 2004/05 scheiterte innerhalb einer Legislaturperiode an inneren Konflikten und verlor im harten politischen und wirtschaftlichen Alltag schnell den »Zauber«, der jedem Neuanfang innewohnen soll. Was wir seit 2013 in der Ukraine sehen, hat aus der Perspektive derer, die diesen Neuanfang angestrebt haben, alle Merkmale eines wesentlich härteren Vorgehens gegen den innenpolitischen Gegner – um die Auseinandersetzung nicht wieder zu verlieren. Dasselbe gilt für die äußeren Protektoren der »proeuropäischen« Option. Es ging den Beteiligten erkennbar diesmal darum, Fakten zu schaffen und die für die ukrainische Politik der Zeit nach 1991 charakteristischen Ambivalenzen gleich zu Beginn zu zerschlagen. Man kann darin wohlwollend die geistigen Spuren Macchiavellis sehen, der seinem »Fürsten« riet, die notwendigen Grausamkeiten sofort zu begehen, oder auch – und wahrscheinlich realistischer – die des deutschen Staatsrechtsprofessors Carl Schmitt und seiner Lehre von der Schlüsselrolle des Ausnahmezustands für die Begründung einer politischen Herrschaft.
»Prognosen sind immer schwierig, zumal, wenn sie die Zukunft betreffen«, hat Winston Churchill einmal gesagt. Dieses Buch erhebt nicht den Anspruch, die Zukunft der Ukraine oder die Perspektiven des Konflikts um das Donbass voraussagen zu können. Die Analyse kann einzig versuchen, das bereits Geschehene in die Zukunft zu extrapolieren und auf dieser Grundlage zu sagen, welche Entwicklungen wahrscheinlich und welche aufgrund dessen, was schon geschehen ist, weniger wahrscheinlich sind. Auf der anderen Seite hätte niemand – auch der Autor nicht – Anfang 2014 erwartet, dass in Kiew die Faschisten das große Wort führen, dass Russland die Krim übernehmen und in