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Agnese geht in den Tod
Agnese geht in den Tod
Agnese geht in den Tod
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Agnese geht in den Tod

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About this ebook

Ihre Tarnung ist ihre stärkste Waffe: Eine einfache Frau wird zur Partisanin.

September 1943: Italien atmet auf. Mussolini ist abgesetzt, das Waffenstillstandsabkommen mit den Alliierten unterzeichnet. Doch dann erklärt Italien Deutschland den Krieg und wird von den Nationalsozialisten besetzt. Als die alternde Wäscherin Agnese einen einheimischen Soldaten bei sich aufnimmt, verpfeifen die Nachbarn sie an die Besatzer. Ihr Mann wird abgeholt und stirbt noch auf dem Weg ins KZ. In einem Racheakt erschlägt Agnese einen Deutschen. Damit nimmt das Schicksal seinen Lauf: Agnese muss fliehen und schließt sich den Partisanen an. Als Botin auf dem Fahrrad übermittelt sie Nachrichten, transportiert Sprengstoff und Lebensmittel. "La Responsabile" heißt die fürsorgliche Agnese bei ihnen. Der Winter 1945 bringt schließlich die Katastrophe: Die Partisanen sind vom Eis eingeschlossen, und Agnese gerät in eine deutsche Kontrolle …

Renata Viganò zeichnet in ihrem hierzulande lange vergessenen Roman von 1949 einen Lebensweg nach, der den Leser mit seiner Geradlinigkeit und Kompromisslosigkeit zutiefst ergreift.
LanguageDeutsch
Publisheredition fünf
Release dateSep 10, 2014
ISBN9783942374668
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    4/5
    Nun j?hrt sich das Kriegsende zum 70. Mal und wenn wir heute nach Italien fahren, denken wir nicht wirklich an Partisanenk?mpfe und Krieg. Nur manchmal sieht man Denkm?ler, die an diesen Teil der deutsch-italienischen Geschichte erinnern.. Dieses Buch schildert recht eindr?cklich am Beispiel der alten Agnese die Partisanenbewegung nach 1943 (Teile Italiens wurden nach dem Waffenstillstand von Cassibile vom 3. September 1943 vom italienischen Faschismus und den Nationalsozialisten besetzt gehalten). Agneses Mann Palita wird von den Deutschen verschleppt und stirbt. Als ein deutscher Soldat dann einfach so spa?eshalber Palitas Katze erschie?t, erschl?gt sie ihn und schlie?t sich den Partisanen an. Sie hat nun nichts mehr zu verlieren- au?er ihrem Leben.Das Buch schildert glaubw?rdig und nachvollziehbar das Leben in dieser Zeit: Bei den Partisanen die st?ndige Angst vor Verrat und Entdeckung, die Willk?r deutscher Angriffe, die Belastungen durch Hunger, K?lte, Streitigkeiten, die Isolation von anderen Menschen und der Verlust anderer Beziehungen, das Unverst?ndnis gegen?ber jeglicher Art von Kollaboration. Alles Schlimme passiert fast nebenbei, so wie es wohl auch Agnese empfunden hat.

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Agnese geht in den Tod - Renata Viganò

erschienen:

Erster Teil

1

Als Agnese an einem Septemberabend einen Berg nasser Wäsche auf der Schubkarre vom Waschplatz im Dorf nach Hause schob, begegnete ihr auf dem schmalen Feldweg ein Soldat. Er war jung, klein und zerlumpt. Seine Schuhe waren zerschlissen, vorne schauten die schlammverschmierten Zehen heraus. Während Agnese ihn ansah, merkte sie, wie müde sie war. Sie blieb stehen und ließ die Holme los. Die Karre war sehr schwer.

Die Augen des Soldaten aber waren hell und fröhlich. Er salutierte und sagte zu Agnese: »Der Krieg ist aus. Ich gehe nach Hause. Ich bin schon viele Tage zu Fuß unterwegs.«

Agnese knotete ihr Tuch unter dem Kinn auf, schlug die Enden über den Kopf und fächelte sich mit der Hand Luft zu. »Es ist noch sehr heiß.« Und als fiele es ihr jetzt erst wieder ein, fügte sie hinzu: »Der Krieg ist aus. Ich weiß. Neulich Abend haben sich alle betrunken, als das Radio die Nachricht brachte.«

Sie musterte das Gesicht des Soldaten, und plötzlich huschte ein unbeholfenes Lächeln über ihr wettergegerbtes Gesicht. »Ich glaube, das Schlimmste kommt erst noch«, sagte sie mit der gefassten Ungläubigkeit der Armen.

Aber der Soldat rieb sich die Hände – er war ein sehr fröhlicher Mann. Agnese beugte ihren steifen, dicken Rücken und nahm die Schubkarre wieder auf.

»Bitte …«, sagte da der Soldat und stellte sich selbst zwischen die Holme. Er riss die Karre hoch, der Wäscheberg schwankte, aber der Soldat rief: »Hopp!«, und brachte alles wieder ins Gleichgewicht. Schnell und mühelos marschierte er los und schob das Rad in der tiefen Spurrille vorwärts.

Als sie durch die Lücke in der Hecke traten, sah Agnese auf dem Hof die zwei Töchter von Minghina. Sie fütterten die Hühner, aber sobald sie den Soldaten erblickten, hielten sie inne und tuschelten miteinander.

Das Haus war alt und hätte längst repariert werden müssen, aber keiner tat etwas, weil die beiden Familien, die darin wohnten, sich nicht einigen konnten. »Weibergeschwätz«, sagte Palita, Agneses Mann, dann und rauchte einträchtig mit Augusto, Minghinas Mann, eine Pfeife. Doch wenn die Frauen stritten und sich mit schrillen Stimmen anschrien, sahen sich auch Augusto und Palita böse an und beschimpften einander.

Agnese führte den Soldaten in die Küche. Palita saß am Fenster, die schwarze Katze hockte wie gewöhnlich auf der Anrichte und schnurrte. Beide schauten zu den Eintretenden, dann schloss die Katze die grünen Schlitze im glänzenden Fell und verharrte stumm und unbeweglich wie ein Stein.

»Schwarze Katzen bringen Glück«, sagte der Soldat.

Sie setzten sich zum Abendessen, als es noch hell war. »Iss, Soldat, greif zu«, sagte Palita. Er freute sich, einen von außerhalb zu sehen, der ihm Neuigkeiten berichten konnte. Tatsächlich aber ließ er sich gar nichts berichten, denn er redete die ganze Zeit selbst, so wie es Menschen tun, die viel allein sind. Palita verbrachte seine Tage damit, dass er im Torbogen oder im Haus am Fenster saß, Besen band, Körbe flocht und Weinflaschen mit Stroh umwickelte. Das waren die einzigen Arbeiten, die er tun konnte, denn als Junge war er schwer krank gewesen. In seiner Jugend war er jeden Tag mit dem Rad dreißig Kilometer in die Stadt zur Schule gefahren, damals hätte er sich ein solches Leben bestimmt nicht erträumt. Die Krankheit hatte ihn gezwungen, die Schule aufzugeben. Später hatte er in ein Sanatorium gemusst.

»Dort bin ich gesund geworden, behaupteten die Ärzte. Soweit man eben gesund werden kann, wenn man diese Krankheit hat. Mein Vater war Bauer, dieses Haus gehörte ihm und auch das Land. Aber wir mussten das Land verkaufen und das halbe Haus, weil ich das Feld nicht bestellen konnte. Trotzdem bin ich viele Kilometer mit dem Rad gefahren, um mich mit Agnese zu treffen.«

Er lachte. Er hatte einen großen, freundlichen Mund und gutmütige Augen und sah viel jünger aus als seine Frau.

»Sie hat mich genommen, weil ich gebildeter war als die andern«, sagte er. »Hübsch war sie, groß, weißt du, Soldat, nicht so dick wie jetzt.«

Agnese warf ihm einen strengen Blick zu, aber ihre Augen lachten. »Das kümmert ihn doch gar nicht«, sagte sie, wobei sie auf den Soldaten zeigte. »Hör auf mit diesen alten Geschichten.«

Der Soldat kaute und sprach kein Wort. Ihm war anzusehen, dass er lange gehungert hatte. Mit leerem Magen hatte er in Gräben und unter Bäumen gerastet, trockenes Brot war in diesen Tagen seine einzige Verpflegung gewesen. Er schien etwas müde, aber guter Dinge zu sein: Er fühlte sich wohl und war satt, diesen Menschen konnte er vertrauen und endlich die Füße unter dem Tisch ausruhen. Bald werde ich schlafen gehen, dachte er.

Agnese ging mit dem Eimer zum Brunnen und holte Wasser. Es war dunkel geworden, ein nachtschwarzer Sommerabend, an dem man den Krieg schon nicht mehr spürte, an dem man sich sicher fühlte.

»Sie ist immer tüchtig gewesen, die Agnese«, sagte Palita mit zärtlicher Stimme. »Sie arbeitet an meiner Stelle und wäscht für das Dorf. Sie umsorgt mich wie ein kleines Kind. Ohne Agnese wäre ich nicht mehr am Leben.«

Die Brunnenwinde quietschte, dann waren Agneses Schritte zu hören und das Plätschern des Wassers, das über den Rand des vollen Eimers schwappte.

In der Küche war es bereits stockdunkel. Palita beugte sich zu dem Soldaten hinüber. Er schämte sich plötzlich, dass er immer nur von sich gesprochen hatte. »Freu dich, Soldat«, sagte er, »der Krieg ist aus.« Er wollte ihn fragen, ob er noch eine Mutter habe und ob er froh sei, nun bald nach Hause zu kommen. Aber der Soldat schlief.

Jemand klopfte an die Küchentür. Agnese löschte das Licht und öffnete. Es war Minghina, keuchend und aufgeregt.

»Ihr müsst den Soldaten sofort wegschicken. Meine Töchter haben gesagt, dass viele Deutsche im Dorf angekommen sind. Wenn sie Deserteure finden, dann nehmen sie auch die mit, die sie versteckt haben.«

»Ach, Unsinn«, unterbrach Agnese sie. »In meinem Haus beherberge ich, wen ich will. Das geht die Deutschen nichts an.«

Von der Straße drangen das dumpfe Brummen von Fahrzeugen und das Dröhnen von Lastwagen herüber, die mit laufendem Motor anhielten. Laute Stimmen ertönten, scharf wie Peitschenhiebe.

»Hört Ihr?«, flüsterte Minghina. »Meine Töchter haben gesagt, dass der Faschismus wiederkommt, und alle, die am 25. Juli gejubelt haben, werden nach Deutschland gebracht. Schickt den Soldaten weg.«

Agnese wollte die Tür schließen, aber Minghina hinderte sie daran. »Sie gehen auch in die Häuser, die abseits liegen. Das ganze Land werden sie durchkämmen. Meine Töchter haben im Haus der Faschisten geholfen und die Deutschen mit Wein bewirtet. Sie sind hergelaufen, um mich zu warnen. Wir sind in großer Gefahr.«

Agnese zuckte mit den Schultern. »Eure Töchter wissen immer alles. Sie möchten gern bei andern Leuten kommandieren. Geht lieber schlafen.«

Sie lehnte ihren dicken Körper gegen die Tür und schob Minghina mit einem Ruck nach draußen. Dann machte sie wieder Licht und schaute eine Weile nachdenklich den Soldaten an, der auf einer Matratze schlief. Er hatte nur die Jacke und die Schuhe ausgezogen und lag auf dem Bauch, starr und steif wie ein Toter. Die schwarze Katze strich behutsamen um ihn herum und leckte eine Wunde an seinem Fuß. Agnese hörte Minghina von draußen leise rufen.

»Verschwinde«, rief Agnese, und die Katze flüchtete in das Schlafzimmer, wo Palita laut schnaufte.

Als es dämmerte, kleidete Agnese sich an, stellte das Frühstück auf den Tisch, weckte den Soldaten und sagte ihm, er müsse sofort weg, weil die Deutschen im Dorf seien. Er lief an den Brunnen, um sich zu waschen, unterdessen brachte Agnese Palita seine Tasse warme Milch. Die Tür zum Hof stand offen. Tiefe Stille lag über der Landschaft, ein bleiches Septemberlicht ohne Sonne. Jemand kam barfuß angerannt. Es war ein Junge, der weiter entfernt in der Nähe der Lagune wohnte. Ohne haltzumachen rief er: »Die Deutschen. Sie kommen her.«

Der Soldat wurde blass und schlüpfte rasch in Jacke und Schuhe.

Agnese gab ihm Brot. »Du gehst diesen Pfad entlang. Weiter vorn führt ein breiter Graben unter dem Deich hindurch. Dort versteckst du dich. Heute Abend kommst du wieder. Ich werde dir Zivilkleider besorgen.«

Während er wegrannte, kam das Brummen eines Motors immer näher. Ein kleiner Lastwagen tauchte auf dem Feldweg auf, bremste auf dem Hof, und die Deutschen sprangen herunter. Ihre mechanischen Bewegungen und ihr unmenschliches Aussehen verunstalteten den Hof, die Landschaft, die ganze Welt. Haut, Brauen, Haare, alles hatte die gleiche fahle Farbe. Die zusammengekniffenen Augen waren grausam und trüb wie schmutziges Glas. Die Maschinenpistolen schienen aus dem gleichen Stoff wie sie selbst und mit ihnen verwachsen zu sein. Es waren acht Soldaten und ein Unteroffizier.

Sie gingen auf das Haus zu. Der Unteroffizier hatte einen rosa Zettel in der Hand. »Ottavi, Paolo?«, fragte er, aber aus seinem Mund klang der Name verzerrt und wie ein deutsches Wort. Palita verstand ihn nicht. Er blieb in der Tür stehen und rückte sich die Hose zurecht.

»Antworten!«, brüllte der Unteroffizier. »Wo sein Ottavi, Paolo?«

»Das bin ich«, antwortete Palita. Hinter ihm tauchte Agneses starres und erschrecktes Gesicht auf.

»Hier Deserteure, italienische Soldaten?«, fragte der Deutsche. Er wollte ins Haus treten, aber Agnese stellte sich in die Tür. Im Vorbeigehen stieß er sie leicht mit dem Kolben der Maschinenpistole. Er sah sich in der Küche und im Zimmer um, die Soldaten durchsuchten währenddessen Heuschober, Hühnerhaus und Schweinekoben. Agnese und Palita drückten sich dicht an die Hauswand und folgten ihnen mit den Blicken. Ein Soldat ging auf die verschlossene Tür von Minghinas Wohnung zu.

»Nein«, sagte der Unteroffizier, und der Soldat machte kehrt.

»Ihr, Ottavi, Paolo, mitkommen«, befahl der Deutsche schließlich.

Da trat Agnese zu ihm. Sie war aus ihrer Starre erwacht, rasch und entschlossen ging sie auf ihn zu, wie immer, wenn sie sich zu einer außergewöhnlichen Anstrengung durchgerungen hatte. »Wo bringt Ihr ihn hin?«, fragte sie streng. »Was hat er Euch getan?«

»Arbeiten – lavoro«, erwiderte der Unteroffizier und drehte ihr den Rücken zu. Agnese packte ihn am Arm, aber der Mann wich zurück und riss sich los.

»Er ist krank«, sagte Agnese, »er kann nicht arbeiten.«

»Raus!«, befahl der Deutsche ungeduldig.

Palita nahm Jacke und Hut und ging zwischen zwei Soldaten zum Lastwagen.

Agnese stürzte ihm nach und schlang ihm die Arme um den Hals. Einer der Deutschen versuchte, sie von ihm wegzuziehen, aber sie stieß ihn mit einem Ruck zur Seite.

Da drückte der Soldat ihr den Lauf seiner Maschinenpistole in den Rücken und wiederholte barsch: »Raus!«

Blass und zitternd entfernte sich Palita. Er drehte den Kopf nach hinten und rief: »Schon gut, Agnese, schon gut. Sonst wird es nur noch schlimmer. Gib auf das Haus acht und pass auf, dass sie dir das Schwein nicht stehlen.«

Die Deutschen kletterten auf den Lastwagen und zogen Palita an den Armen hinauf. Agnese war mit erhobenem Gesicht mitten auf dem Hof stehen geblieben. Sie hörte, wie der Motor ansprang, der Lastwagen fuhr los, bog in den Feldweg ein und holperte über die Spurrillen. Sie rannte hinterher.

»Sie sagen, dass wir im Dorf an der Schule halten werden«, rief Palita, »bring mir Essen und Wäsche. Ich werde mich bei der Untersuchung ausmustern lassen …«

Atemlos und mit klopfendem Herzen schleppte Agnese ihren schweren Körper weiter. Sie wollte schreien: ›Addio, Palita!‹, aber sie schaffte es nicht. Sie sah der geliebten, jugendlichen Gestalt nach, die dort zwischen Gewehren und lachenden deutschen Gesichtern auf dem Lastwagen stand.

»Bleib stehen, Agnese«, rief er. »Pass auf die Katze auf …« Es waren die letzten Worte, die sie von ihm hörte. Die anderen verschluckte das immer lauter werdende Dröhnen des Motors.

Nach diesem wahnwitzigen Lauf keuchte Agnese noch eine ganze Weile heftig. Sie hatte Seitenstiche. Schlurfend kehrte sie zum Haus zurück und setzte sich in die Küche, damit das Herzklopfen verging. Sie schaute sich um und hoffte, es würde sein wie in manchen Nächten, wenn man von einem Berg zu fallen glaubt und dann im Bett aufwacht. Agnese schloss die Augen und öffnete sie wieder, um Palita über den Haufen aus Weidenruten gebeugt zu sehen. Doch sie sah nur die schwarze Katze, die aufrecht und wach an ihrem gewohnten Platz auf der Anrichte saß.

Agnese kochte in einem kleinen Topf Nudeln und machte einen Korb mit Lebensmitteln und ein Bündel Wäsche zurecht. Dann wechselte sie das Kleid und schlüpfte in die Schuhe. Schwitzend und bepackt kam sie im Dorf an. Alle beobachteten sie, doch keiner wagte es, sie anzusprechen. Auf der Piazza standen einige Frauen und weinten. Im verlassenen Schulgebäude stieß Agnese auf zwei Wachsoldaten.

»Männer abgereist«, sagte der eine, als er sie mit dem Korb eintreten sah.

»Wo sind sie hin?«, fragte sie atemlos.

»Ich nicht wissen«, antwortete der Deutsche.

Da ging sie wieder zurück. Vor dem Haus der Faschisten räusperte sie sich, sammelte Speichel im Mund und spuckte aus. Auf der Hälfte des Feldwegs stellte sie Korb und Bündel auf den Boden, setzte sich ins Gras und zog die drückenden Schuhe aus. Erst jetzt merkte sie, dass sie seit dem Morgen nichts gegessen hatte. Sie nahm den kleinen Topf und den Löffel und aß die Nudeln. Palita kommt nicht wieder, dachte sie. Palita stirbt. Palita ist tot. Sie fing an zu weinen, und die Tränen fielen auf jeden vollen Löffel.

2

Agnese wartete. Sie glaubte nicht mehr, dass Palita zurückkehren würde. Die Deutschen lassen keinen entkommen, dachte sie. Und wenn doch einer entwischen konnte, so war das gewiss nicht Palita, der schwach und unentschlossen war. Aber der Soldat, der sich im Graben unter dem Deich versteckt hatte, würde wiederkommen, um die Zivilkleidung zu holen, die sie ihm versprochen hatte, oder zumindest, um zu erfahren, was geschehen war.

Die schwarze Katze war ihr lästig. Sie strich im Hause herum, als suchte sie jemanden, und sprang ihr auf den Schoß, aber Agnese stieß sie unwirsch hinunter.

»Schschsch«, zischte sie und klatschte in die Hände. Die Katze machte einen Satz, lief auf die Wiese, hockte sich ins Gras und starrte Agnese, die auf der Türschwelle saß, aus weit geöffneten grünen Augen an.

Ein Dröhnen in der Luft durchschnitt die Mittagsstille. Es waren vier schnelle, funkelnde Flugzeuge. Kaum hatte Agnese sie erblickt, stießen sie mit irrsinnigem Heulen herunter, als stürzten sie ab. Sie bombardierten die Brücke. Drei, vier Einschläge waren zu hören, und dann aufs Neue das hellere Singen der Motoren, während die Flugzeuge wieder an Höhe gewannen. Auf der anderen Seite des Flusses zogen sie einen weiten Bogen und kamen im Sturzflug zurück. Agnese rührte sich nicht. Die Brücke haben sie nicht getroffen, dachte sie, gleich kommen sie wieder. Doch vorher vernahm sie Stimmen und Schritte von vielen Menschen, die angerannt kamen. Die Dorfbewohner flüchteten auf die Felder. Sie warfen sich in die Gräben und hinter die Hecken. Doch dann schien ihnen der Platz nicht sicher genug, sie rappelten sich hoch und rannten weiter. Viele hatten sich keuchend auf dem Hof zusammengedrängt und schauten nach oben. Die Jagdbomber kamen zurück, flogen eine weite Kurve, wobei sie einen weißen Streifen hinter sich herzogen, und heulten im Sturzflug heiser auf. Wieder krachten Bomben, ganz in der Nähe knatterten vier oder fünf übermütige Maschinengewehrsalven.

»Sie schießen!«, schrien alle und warfen sich auf den Boden, obwohl das zwecklos war, denn so ausgestreckt waren sie auf dem leeren Hof weithin sichtbar.

»Ins Haus, ins Haus!«, schrie einer.

Agnese ließ sie ein, und im Nu waren Küche und Zimmer gedrängt voll. Auch zwei deutsche Soldaten waren dabei.

»Keine Angst, keine Angst!«, sagte der eine.

Doch sein Kamerad war blass. Er hockte sich in eine Ecke, blickte zu Boden und wiederholte unablässig mit schüchternem, verzagtem Lächeln: »Krieg nicht gut.«

Die verspäteten Schüsse der Flak füllten den Himmel mit runden Wölkchen. Aber die Flugzeuge hatten ihren Angriff beendet und flogen davon. Ihr Dröhnen war bald nur noch ein undeutliches Gemurmel. Schließlich ertönte sechsmal das quälende Heulen der Sirene auf der Zuckerfabrik. Den Alarm schlugen sie immer erst, wenn die Bomber längst weg waren, weil sie auf die Warnmeldung aus der Stadt warten mussten. Daher betrachteten die Leute das Sirenengeheul als Entwarnung. Sofort liefen viele hinaus auf den Hof. Vom Dorf her hörte man Schreien und Jammern. Dort, wo die Brücke war, stand unbeweglich eine hohe Rauchsäule wie ein großer, weißer Baum. Offenbar waren einige Häuser getroffen worden.

»Hinaus, hinaus mit euch«, rief Agnese und stieß die Leute an den Schultern. Auch die beiden Deutschen drängte sie hinaus und drei oder vier Frauen, die gern geblieben wären.

Die eine drehte sich um. »Meinen Mann haben sie auch mitgenommen«, sagte sie, »und Ivo und Silvio, Cencios Sohn, und Ottavio aus der Mühle …« Bei jedem Namen zeigte sie auf eine der Frauen. Da brachen alle in Tränen aus und drückten sich die Taschentücher vor die Gesichter.

Agnese stand einen Augenblick still und sah die Frauen an, dann holte sie Stühle. »Setzt euch.« Eine Woge aus Jammern, Klagen und flehenden Rufen erhob sich, wie der Chor einer griechischen Tragödie.

Agnese blieb stumm und starrte die Frauen mit leerem Blick an. »Unsere Männer kommen nicht wieder«, sagte sie unvermittelt. »Könnte man doch nur alle Deutschen töten.«

Während des Luftangriffs waren auch Minghina, ihr Mann und ihre Töchter wieder aufgetaucht. Sie sprachen aber mit niemandem und schlossen sich in ihrer Wohnung ein. Die Leute brachen auf und kehrten ins Dorf zurück. Es war der erste Luftangriff, den sie mitgemacht hatten, und alle liefen zur Brücke, um die getroffenen Häuser anzusehen. Als die Letzten, die von den Feldern kamen, vorbeigezogen waren, trat Augusto bei Agnese ein. Er wollte offenbar über Palita sprechen, aber er wusste anscheinend nicht, was er sagen sollte. So blieb er unentschlossen stehen und zog nur kräftig an seiner kalten Pfeife. Agnese dachte daran, wie oft er und Palita mit ihren Pfeifen zusammen auf der Gartenmauer gesessen hatten, und ihr kamen die Tränen.

»Palita lässt Euch grüßen«, sagte sie und ging sofort hinaus, wobei ihre müden, dicken Füße in den ausgetretenen Pantinen schlurften.

Agnese folgte dem Weg auf dem Deich bis zum Graben, der darunter hindurchführte. Der Soldat war nicht mehr da. An dem niedergedrückten Gras erkannte sie die Stelle, an der er viele Stunden lang gesessen und voller Angst vor den Deutschen zu dem Haus hinübergesehen haben musste. Er ist aufgebrochen, dachte Agnese, trotz der Uniform, nur um nach Hause zu kommen. Er ist in sein Dorf zurückgekehrt. Denn bei all den Flugzeugen und dem Durcheinander auf den Straßen wird ihn keiner beachtet haben. Und jetzt ist er zu Hause bei seiner Mutter. Er klopft an die Tür, seine Mutter öffnet und erkennt ihn. Und unterdessen haben die Deutschen Palita mitgenommen.

Der Abend senkte sich kühl auf die dunkle Feuchtigkeit der Landschaft, der erste von vielen Abenden ohne Palita. Die Welt schien fremd und verändert. Eine neue Welt, in der es keine Arbeit mehr für Agnese gab: Ihre alte Bauernkraft war zu nichts mehr nütze. Aber sie verfluchte den verschwundenen jungen Soldaten nicht, der den Weg nach Hause suchte, und sie bereute es auch nicht, ihm geholfen zu haben. Es war nicht seine Schuld. Er hatte im Krieg gelitten, er war hungrig und müde gewesen, und es war richtig, ihm Essen und Unterkunft zu geben. Allerdings stieg in Agnese ein ausgewachsener Hass, zwar gezügelt, aber erbarmungslos, gegen die Deutschen hoch, die sich als Herren des Landes aufspielten, und gegen ihre faschistischen Diener, die untereinander verfeindet waren, aber geschlossen gegen arme Leute wie sie vorgingen, die ein mühsames und schutzloses Leben führten.

Sie kehrte rechtzeitig ins Haus zurück, um das Schwein zu füttern. Auf dem ungemachten Bett fand sie die Katze; sie hatte sich auf Palitas Hemd zusammengerollt und schlief.

Agnese machte weiter, niedergedrückt von ihrer Unfähigkeit zu hoffen. Nach einigen Tagen kam ein Brief von Palita, nur ein paar mit Bleistift geschriebene Zeilen. Agnese konnte nur wenig davon lesen, die Worte waren fast verwischt, und sie verstand nicht genau, was das alles bedeuten sollte. Sie faltete das Blatt zusammen und steckte es in die Geldbörse, ohne es jemandem zu zeigen. Oft betrachtete sie es und weinte: Die Schrift verschwand immer mehr unter den Tränen, die darauftropften.

Eines Abends besuchten drei Männer Agnese. Toni und Mingúcc, die in der Nähe des Dorfes wohnten und alte Freunde von Palita waren, und ein ihr unbekannter junger Mann. Sie traten in die Küche, als Agnese gerade eine Jacke flickte, um sie in die Kommode zu Palitas anderen Kleidungsstücken zu legen, die sie bereits in Ordnung gebracht hatte.

»Guten Abend«, sagte einer der beiden Alten. »Wir wollten Euch besuchen.«

Agnese bot ihnen Platz an, und der Jüngere legte rasch die Sicherheitskette an der Tür vor.

»Ihr wisst bestimmt, dass Palita in unserer Partei ist«, sagte Mingúcc. Er zeigte auf den jungen Mann, der am Tisch saß und ein nettes, knabenhaftes Gesicht hatte. »Ihr könnt ruhig sprechen. Der da ist auch ein Genosse, einer der führenden Genossen aus der Stadt. Er kennt Palita und weiß, wie tüchtig er ist.«

Agnese sah sie an, einen nach dem anderen, und in ihrem runden, verwirrten Gesicht stand aufmerksame Verwunderung, als strengte sie sich an, genau hinzuhören und aus diesen Worten das Echo von Palitas ferner Stimme zu vernehmen.

»Mein Mann hat davon erzählt, aber Politik und Partei, das ist Männersache. Ich habe mich nie darum gekümmert. Ich weiß nur, dass er die Faschisten immer gehasst hat und später auch die Deutschen. Er sagte, dass die Kommunisten sich um alle kümmern, auch um die Herren, die uns ausbeuten, und dass sie reinen Tisch machen würden.« Der kaum sichtbare Schatten eines Lächelns huschte über ihre Augen. »Genau das hat er gesagt: reinen Tisch machen.«

Die drei nickten. »Dafür müssen wir arbeiten«, sagte der Jüngste. »Palita ist ein guter Genosse. Er hat viel für die Sache getan …«

»Wenn es etwas gibt, was ich tun kann …«, unterbrach Agnese ihn. Sie wurde rot, als hätte sie sich zu viel herausgenommen, und knotete das Kopftuch unter dem Kinn fester. »Wer weiß, ob ich dazu tauge«, fügte sie hinzu.

Da erklärten sie ihr, was sie tun sollte, und Agnese sagte Ja, erstaunt, dass es so leicht war. Man sah, dass sie sich freute und allen Mut zusammennahm. Sie wagte sogar, ihre eigene Meinung zu äußern, und die Genossen stimmten ihr zu.

»Also, wir haben uns verstanden«, sagte der Jüngste, alsalles besprochen war. »Aber seid vorsichtig. Wenn die Euch erwischen, ist es aus mit Euch.« Er lächelte mit seinem Knabengesicht. »Palita soll Euch doch antreffen, wenn er zurückkommt.«

Agnese holte eine Flasche und Gläser. »Ich werde mich von denen schon nicht erwischen lassen, aber Palita kommt nicht wieder«, sagte sie, während sie den Wein einschenkte. Die Tränen zeichneten zwei Streifen auf ihr rundes, starres Gesicht. Sie wischte sie mit den Zipfeln ihres Kopftuchs weg, verärgert, dass sie vor den anderen geweint hatte. Die Genossen klopften ihr auf die Schulter und schimpften sie wegen ihrer Worte aus. Dann zeigten sie dem Unglück lachend die Hörner, um es zu vertreiben.

Die drei Männer brachen auf. »Wer, glaubt Ihr, hat den Faschisten den Namen Eures Mannes verraten?«, fragte Toni, bevor er die Tür öffnete. Dabei zeigte er mit dem Daumen auf die Wand, hinter der Minghinas Wohnung lag.

»Ja«, antwortete Agnese, »das habe ich mir gleich gedacht. Wenn ich es genau wüsste …« Sie drückte ihre großen, abgearbeiteten Hände heftig gegen die Tischkante. Ein volles Glas fiel um.

»Prost«, sagten die Genossen, als sich der Wein über den Tisch ergoss. »Seid unbesorgt, wir finden es heraus. Und wer es war, den machen wir fertig.«

Und der Jüngste

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