Zur Strafe und als Belohnung
Von Anna Zonová
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Über dieses E-Book
Rezensent Volker Strebel auf Literaturkritik: "Anna Zonová entfaltet in ihrem Roman 'Zur Strafe und als Belohnung' einen ungewöhnlichen Mäander von Schicksalen und Begebenheiten im Herzen Europas."
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Buchvorschau
Zur Strafe und als Belohnung - Anna Zonová
Jozef
1 / Lise
Wir haben zweieinhalb Millionen Deutsche ausgesiedelt. Feinde. Sie reden von Vertreibung. Und auch von Unrecht. Sie wissen nicht, dass ständig jemand jemanden anderen aussiedeln und vertreiben wird.
Viel vom Feind hingegen wissen mein Mann und ich. Das heißt, mein toter Mann. Oder vielmehr gehenkter, um genau zu sein.
Sie wollten das Gebiet hier nicht verlassen. Sicher werden sie auch noch fünfzig Jahre später protestieren. Von Ungerechtigkeit, von Liebe zu den Orten, wo sie geboren wurden oder wo sie hätten geboren werden können, sprechen. Ich befinde mich auf ihrem Gebiet. Ich weiß nicht, was es hier zum Nachtrauern gäbe. Es ist kalt. Schrecklich kalt. In der Verbannung herrscht immer Eiseskälte. Obwohl mein Mann nicht Verrat beging. Wirklich nicht. Ich weiß nicht, wie das alles passieren konnte. Es ging uns doch nur ums Wohl. Für fast alle. Für den Feind natürlich nicht. Ich sehe, ich habe mich geirrt. Auch die anderen verdienen dieses Wohl nicht.
Zum Beispiel mein Meister.
Fünfzehn Minuten lang palavert er schon, die Morgenschicht beginne um sechs. »Punkt sechs. Das heißt, dass du die Kontrolluhr beim Kommen um fünf Uhr fünfundvierzig stichst. Spätestens. Kapiert? Spätestens. Und nicht um fünf Uhr fünfzig, wie bei dir üblich.« Als ob ich in den fünf Minuten was weiterbringen könnte. In fünf Minuten.
Dann erklärt er mir das Bohren. Was ich angeblich beherrsche. Wie er sagte. Das Du überrascht mich längst nicht mehr. »Duzen« sagen die Deutschen. Jeder Umsturz bringt es mit sich. Jene, die oben waren, zieht es zeitweilig nach unten. Und schmutzige manuelle Arbeit geht damit einher.
»Hier in diese Schablone schiebst du es«, zeigt er mir. »Den Hebel drückst du hinunter. «
Vor zwei Jahren hätte er mein Chauffeur oder Pförtner sein können.
»Hineinschieben, hinunterdrücken.«
Zweitausendfünfhundert Mal pro Tag.
»Dass du uns halt nicht die Normen versaust«, sagt Magda. »Mit deinen feinen Händchen«, und zeigt mir ihre Pranke.
Dann unterhielten wir uns über die Materialausgabe, wo ich die Ersatzbohrer aushebe. »Damit ziehst du ihn fest«, zeigte er mir einen kleinen Metallhebel. Oder was. Wie sagt man französisch zu Bohrer? Ich sehe, dass meine Erzieherin mich nicht hinreichend ausgerüstet hat. Die Wörterbücher sind in der versiegelten Wohnung geblieben. So dass ich es nicht einmal mehr herausfinden kann.
Die Frauen an den benachbarten Maschinen sehen aus, als erfüllten sie die Norm mit großem Enthusiasmus, und dabei flanieren sie augenblicklich nach Abgang des Meisters durch die Werkstatt. Oder sind in der Höhle, wie sie die Garderobe nennen, die gleichzeitig auch Kulturraum ist. Die Kultur besteht darin, dass die Reihen der schmalen Blechschränke mit Plakaten beklebt sind. Einige davon haben mein Mann und ich genehmigt. Ich meine die Serie mit den landwirtschaftlichen Sujets. Ich erinnere mich, wie schwierig es war, bei uns in der Hauptstadt eine Sichel aufzutreiben. Auf dem Bild sieht sie etwas merkwürdig aus. Vielleicht ist es auf eine gewisse Unprofessionalität des Malers zurückzuführen. Die Schatten auf dem Stahl sind grau, die auf dem Gesicht der Arbeiterin rosa gemalt. Darf das denn sein? Aber sie werden es lernen. Diese Burschen haben erst vor kurzem ihre Schulen verlassen. Und sie strengen sich an. Die großen Meister der bourgeoisen Malerei wollten vom Sozialistischen Realismus anfangs nicht einmal etwas hören. Na, und wie ihnen das heute von der Hand geht. Natürlich nicht allen.
»Kommst du zum Striptease?«, schreit mich Božena Kroščenová an. Neben einer Drehbank, die größer ist als sie. Hinter dem Schleier einer sich ständig zerstäubenden Emulsion. Božena riecht sogar noch nach drei Duschen nach Solvax. Sie duscht ständig, allein schon wegen dieser Entkleidungsaktionen, die sie in jeder Pause für uns veranstaltet. Einen Romastriptease.
Einen schönen Körper hat sie. Mit sechzehn oder siebzehn ist das auch kein Verdienst. Da sind wir alle schön.
»Seeetzen!«, brüllt Božena schon wieder. »Wir fangen an.«
»Hör auf«, sage ich ihr. »Wozu musst du dich ständig ausziehen. Und noch dazu vor Weibern!«
»Soll ich hier verrecken? Zwischen lauter Maschinen?«
Befasst man sich sozusagen abstrakt mit der Frage der Arbeiterklasse, stellt sich alles nicht so grauenhaft dar wie in Wirklichkeit. Für die da haben wir uns derart aufgeopfert?
Die Vidmuchová in ihrem grauen Kittel, in etwas anderem sah ich sie nie, holt eine kleine Blechkanne und ein Brot aus ihrem Spind. Was sich in der Garderobe abspielt, nimmt sie nicht wahr. Anfangs dachte ich, sie wäre ideologisch so bewusst. Aber sie hört einfach schlecht und sieht nur die Hand vor den Augen.
Božena entkleidet sich.
»Tut was dagegen«, würde ich am liebsten Meldung erstatten. Sie kümmert das aber nicht. Was von der Frau eines Verräters kommt. Sittsamkeit hin oder her.
Schlussendlich, sie zieht sich nicht vor Männern aus. Und sie könnte es.
Darf sich denn in der heutigen Zeit jemand einfach so produzieren? Und ohne Genehmigung. Alles muss unter Kontrolle sein. Auch Božena.
Erst hier, in den Sudeten, kam mir die Erkenntnis. Die Arbeit bringt keinerlei Befriedigung und Freude, sondern nur Qual, Mühsal und Belastungen. Sie bedeutet tagtägliche Abtötung des Körpers und auch dessen, was von der Seele übrig ist, sofern man eine hat. Beflügelt werden kann niemand davon. Die von der Müdigkeit verursachte Hoffnungslosigkeit lässt sich kurze Zeit überlisten. Am besten mit Alkohol, Tabletten, Striptease. Oder mit der Vortäuschung einer Liebesbeziehung. So lange die Potenz währt, dauert die Liebe.
Mich betrifft nichts davon. Wir haben für eine Idee gekämpft, und dieser Abschaum hier hat damit wohl nichts gemein. Arbeiterabschaum. Wie allerdings kommt es, dass ich hier bin? Mitten unter diesen Menschen. An der vordersten Front der Arbeit. Nein, so hatte ich mir das wirklich nicht vorgestellt. Dass sie mich hierher vertreiben. So nicht.
2 / Jozef
Probieren sie doch, in dörfliches Milieu geboren zu werden und sich darüber auch noch zu freuen. Die endlose Zugfahrt ließ mich ahnen, dass Mama sich anschickte, ihre erste Entbindung bei ihr daheim durchzumachen. Ein paar Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, der außer Atlantis vielleicht die ganze Welt erfasste. Die ganze Welt vielleicht, den Dukla-Pass mit Nižný Komárnik aber sicher. Bei wem hätten wir Schadenersatz fordern sollen? Immerhin hatten sie volle zwanzig Jahre lang für ihr Häuschen gespart. Übrig geblieben war nur eine Brandruine. Damals also haben uns, mir zu der Zeit noch nicht, die Faschisten eine Kuh gestohlen.
»Sie hätte mindestens noch fünf Kälber haben können.« Und Oma versteht sich aufs Schätzen.
Für meine Ankunft hatten sie sich wirklich festlich gerüstet. Der Lehmboden war frisch verschmiert und sauber gekehrt. Großvater hatte sogar die Latrine im Garten unter dem Birnbaum extra gekalkt. Der Birnbaum trägt schon lange nicht mehr. Aber an den Geschmack der kleinen, innen ein wenig mostigen Birnchen erinnert sich Mama noch gut. Allerdings ist, seitdem die Faschisten ihre Pferde am Baum festbanden und den ganzen Stamm abschürften, einfach Sense. Keine Ernten. Keine Freuden. Aber Vergnügen und Freude hat für uns nie jemand vorgesehen. Mit uns rechnet man nicht sehr.
Auch wenn sie sich oft bemühen, uns vorzutäuschen, wir wären die Wichtigsten. Ein Vorteil wiederum ist, dass sie uns nicht mehr verkaufen oder erschießen können. Wenigstens nicht öffentlich. Andererseits haben sie bessere Finten ausgeheckt. Zum Beispiel, dass wir die Arbeit brauchen, dass sie uns vermenschlicht, dass wir unsere Verwirklichung in ihr finden. Na, wer denkt sich so was aus?
Die Geburt ließ sich wirklich nicht mehr aufschieben. Ich wusste genau, was folgen würde.
Drei Tage lang Gebete – Pomiluj mja, Bože, po velicij milosti Tvojej, i po množestvu ščedrot Tvojich očisti bezzakonije moje. Najpače omyj mja ot bezzakonija mojeho, i ot hricha mojeho očisti mja … – und Räuchern mit einer geweihten Kerze. Alles, damit ich einen Schrei ausstieße, und sei’s aus dem Schlaf. Dazu unaufhörliches Wehklagen der Frauen.
»Ich ergebe mich!«, womit ich nach drei Tagen zu mir kam. Mama hatte keine Sekunde lang daran gezweifelt.
Uli und Gudža sehen ein bisschen enttäuscht aus. »Joj, das hätte ein so schönes Begräbnis werden können. Von einem Engelchen, getauft und ganz in Weiß, ohne eine einzige Sünde, außer seiner Geburt. «
Dass das Kind drei Tage nicht zu sich kam, wäre die Vergeltung für diesen Deutschen, behauptete Gudža. Musste die alte Haňa ihm auch das Bein abbinden? Damals im Krieg? Einem Faschisten. Tatsache ist, dass meine Oma auch Pinochet das Bein abbinden würde, hätte eine Mine ihn erwischt. Und das ist schon ein Mordsschwein. Ich meine, dieser Pinochet.
An die Folgen denkt sie erst nachher. Als ihr der fast wieder genesene Deutsche und seine Mitkämpfer nämlich das Haus anzünden und die Kuh wegschleppen. Kriegsbedingte Konfiskation angeblich. Eine Kuh war die Viola, was für Konfiskation denn.
Gleich nach dem ersten Bad bestrich mich Mama mit der Nachgeburt. Der Fachausdruck lautet Plazenta, das stellte ich aber erst später fest, als ich nachforschte, warum die Nachgeburt nicht gewirkt hatte. Ich hätte weder einen einzigen Fleck noch ein Muttermal am Körper haben sollen. Während ich unter dem rechten Ohr ein ganzes Nest von Muttermalen habe. In Form eines Fischs. In vereinfachter Form. Aber Schwanz, Kopf und Körper sind deutlich sichtbar.
Und dazu banden sie mir auch noch eine dünne rote Schnur um die Hand, vielmehr das Händchen. Nicht der leichteren Identifizierung wegen, wie man es in Entbindungsstationen macht. Sondern »gegen den bösen Blick«, wie Mama sagte.
Hier weiß man nie.
Mama kann sich zufällig, und das sogar nach so langer Zeit, sehr gut an den Nachbarn Andrij Pisansky erinnern, der ihren Bruder erledigte. Er war erst vier Jahre alt gewesen.
Er kam einfach hereinspaziert. Ich meine, Andrij Pisansky. Oma zog gerade den Kübel aus dem Brunnen. Er war nicht sehr tief und hatte gutes Wasser. Der Kübel hing an einem an einer Holzstange befestigten Haken.
»Dass sie ihm damals auch keinen Schlag versetzt hat!«, sagte Mama zu mir.
Janko spielte mit einem Zicklein. Die beiden anderen hatte Großvater geräuchert, gleich nachdem die Ziege geworfen hatte. Das Fleisch der Zicklein war besonders zart.
»Haňa, dein Janko ist so lebhaft.«
»Er schaute seltsam«, sagte Oma später.
»Mein Bub dagegen! Nur mehr die Augen zudrücken kann man ihm«, und weg war er.
Mama sagte, er hätte eigentlich nichts gewollt. Sicher ist jedoch, dass Janko nach einer Woche schlapp machte. Er sprach nicht. Verlor die Farbe und gähnte und gähnte. Ein eindeutiger Fall von Behexung.
»Da hilft nur Räuchern«, sagte Oma. Nur war vom Pisansky-Sohn unmöglich das dazu notwendige Stück Stoff zu ergattern. Wie will man einem Kind einen Fetzen vom Hemd abreißen, ohne dass es einen Skandal gäbe? Und ohne den Stoff wirkt das Räuchern einfach nicht. Opa hatte Angst vor dem Skandal.
»Was heißt Skandal, wenn’s ums Leben geht«, sagte Oma zu Recht. Sie versuchten, Janko mit Omas Harn einzureiben. Aber das funktioniert nur manchmal. So dass Janko starb.
Und dann lassen sie jemanden in den Hof!
Auch ziemlich wund war ich nach der Geburt. Ich weiß nicht, ob es auf den heißen Sommer zurückzuführen war oder einfach mit meiner Männlichkeit zusammenhing. Weil bei uns Männern alles stärker ist. Nicht ahnen konnte ich allerdings, dass sie mich mit zerstampftem Ziegenkot einpudern würden. Trockenem. Von wegen »Johnsons’s Baby«. Obwohl man nicht weiß, woraus das eigentlich hergestellt wird.
Abgesehen von den aufgeriebenen Stellen fehlte mir nichts. Wahrscheinlich stand das auch in Zusammenhang mit jener Prävention am Ende des Wochenbetts. Als Mama mir nämlich dieses schädliche Haar herauszog. Es handelt sich um keine spezielle Prozedur. Sie knetete einfach aus Schmalz und Mehl einen Teig, und damit wiederum bearbeitete sie mich. Jemanden, der das nicht durchgemacht hat, erkennt man sofort. Weil dieses schädliche Haar aus ihm hervorbricht. Entweder in Form eines Geschwürs am Körper oder durch den Kopf. Na ja, nichts Angenehmes, und »dann soll es keine Kriege geben«, das habe ich von Mama. Es ist einfach das ungesunde Haar, das die Menschen beutelt und peinigt.
Entzündete Augen habe ich nicht und hatte sie auch nie, weil es bei Mama immer genug Milch gab. Was mich fast wunderte, weil sie so kleine Brüste hat. Sie spritzte mir diese Milch regelmäßig in die Augen. Am Morgen und am Abend. Anscheinend hat es seinen Zweck erfüllt. Seit der Zeit weiß ich auch, was man unter einem verschleierten Blick versteht. Probieren sie, Milch in den Augen und klare Sicht zu haben. Mama spritzte auch später nach mir, beim Stillen von Terezka, aber nur zum Spaß, weil ich ihre Brust nicht nehmen wollte. Also das möchte ich nicht. Obwohl mir das Stillen gefiel, wie ich gestehen muss, Terezkas an Mama festgesaugter kleiner Mund.
Die Nabelschnurknoten, die uns abfielen, hob Oma auf. In einer Truhe, in weißen Stoff gewickelt.
»Für später«, wie sie sagte.
»Was euch erwartet«, sagte Mama, als wir diese Knoten dann schon aufwickeln sollten. Zu dem Zeitpunkt waren wir bereits ziemlich groß. Wenigstens ich.
»Altweiberbräuche«, sagte Papa, schaute allerdings auch zu.
Ich kam mit dem Auflösen gut zurecht, wenigstens dachte ich mir das wegen der Geschwindigkeit, mit der es mir von der Hand ging.
»Joži, Joži«, sagte Oma und streichelte mir über den Kopf. Wohl als Lob.
Tereza hingegen kämpfte fast eine Stunde mit dem Knoten. Sie hat dünne Finger und überhaupt eine zarte Hand.
»Ich helfe dir«, bot ich mich an.
Was Tereza ablehnte. Daher ließ ich sie in Ruhe.
Oma streichelte auch sie. Sie wird wohl eine Langsame sein, dachte ich mir.
»Du wirst es schon schaffen«, sagte ich zu ihr.
Weder Oma noch Mama wollten mit Einzelheiten herausrücken.
Oma erwähnte nur was von einer einsamen Wölfin, liegt aber, falls sie Terezka damit gemeint hat, ziemlich falsch. Ich werde immer bei ihr sein, wenigstens sagte ich mir das.
3 / Lise
Dabei gingen mein Mann und ich es damals mit Begeisterung an. Durchdrungen von Glauben. Noch vor dem Krieg. Ein Muss bestand natürlich nicht. Aber für uns hatte stets die Idee den Vorrang. Sogar noch vor Ehe und Sex. Von allem Anfang an. »Ohne Verzicht kann man nichts aufbauen«, lauteten Renés Worte. Schon bei den ersten Anzeichen unserer Beziehung. Und ob das Liebe war! Nicht so eine naive, sabbernde, wie man sie aus Jungmädchenromanen kennt. Sondern eine echte. Wirkliche. Mit Verpflichtungen und Verantwortlichkeit. Zuerst die Partei, dann das Privatleben. Genauso, wie wir uns die neue Gesellschaft vorstellten.
Auch ich war gleich bei Kriegsausbruch in die Armee eingetreten. Obwohl ich nicht musste. Wir hatten schon Rudolf und Marta. Die blieben in der Hauptstadt. Es war gesorgt für sie. Daran zweifelte ich nicht.
Wir marschierten nach Westen. Unter normalen Umständen verband man den Begriff Westen mit Personen, die Verrat begingen, zum damaligen Zeitpunkt war es aber auch die Richtung, in der unsere Heimat lag. Wenn man das Gebiet, wo man geboren wurde, so bezeichnen kann.
Wir standen direkt im Kampf. Das bedeutet, dass wir sie töteten und sie uns.
Ich hatte nie geahnt, dass die Deutschen so gerne Katzen essen. In dem Dorf gab es keine einzige mehr. Die Katzenfelle waren auf Zaunlatten aufgespannt, zwischen den über einzelne Latten gestülpten Tonkrügen. Möglicherweise hat der Genuss von Katzenfleisch ja eine besondere Wirkung auf ihre Konstitution und ihre glorreiche Rasse. Katzen sind schließlich erhabene und kultivierte Tiere. Aber nicht fügsam. Letzteres scheint mir nicht zum Gehorsam der Deutschen und zu ihrem Hang zur Unterordnung zu passen. Hochmütig sind Katzen hingegen schon. Das muss ich bestätigen.
Ich wollte an Renés Seite sein. Und ihm behilflich. Außerdem gab es im Korps auch fast tausend Frauen. Da wollte ich kein Risiko eingehen. In einem Gefecht ist Wodka zwar das Beste. Aber nachher sehnt sich jeder nach Entspannung. Tausend Frauen, das ist viel. Besonders in stressigem Milieu. Obwohl es nicht so war, dass ich René nicht vertraut hätte. Bisher war immer Verlass auf ihn gewesen. Allerdings hatte ich (bei manchen sogar als Teilnehmerin) schon Orgien gesehen, bei denen auch die stärksten Charaktere mitmachten. Sogar Kommunisten, bei denen man so etwas nicht vermutet hätte. Überzeugte Kommunisten.
Ich hätte schon damals ahnen sollen, dass etwas nicht in Ordnung war. Am Abend war René Major und am Morgen bereits wieder nicht. Angeblich der großen Verluste wegen. Wo es bei einer Schlacht doch immer große Verluste gibt. Wer hätte mit dem Regen rechnen sollen. Was heißt Regen, mit Hagel, mit Sturzbächen von Wasser. Die Einheiten, die uns zur Hilfe kommen sollten, hatten den Hauptkampfplatz verfehlt. Ich glaube, sie hatten nur keine Lust, zu sterben.
»Ich mache mit«, hatte René mir erklärt. Ich bekam Angst. So eine gewöhnliche weibliche Angst, wenn man sich um sein Kind im Sandkasten fürchtet. Weil man nicht unmittelbar neben ihm sein kann. An direkten Kampfhandlungen durften sich Frauen nicht beteiligen. Ich weiß nicht, wessen Anordnung das war. Als wäre es um einen zerschossenen Penis weniger schade gewesen als um unsere Weiblichkeit.
»Es geht um viel«, sagte er mir noch. Und meinte damit die Macht.
Vielleicht hätte er die Kerle, die kehrt machten und aus der Schlacht flüchteten, abknallen sollen.
»Hier geblieben, Bastarde«, brüllte er ihnen nach. Einige, glaube ich, hat er sogar umgelegt. Dafür bekam er am ersten Tag einen Orden. Erschießen musste er aber wohl auch Männer, die zu heulen anfingen. Als die Deutschen sie gefangen nahmen. Die Anhöhe eroberten wir dann wieder zurück. Binnen ein paar Stunden. Über das feige Verhalten jener Soldaten haben die Tapfereren René informiert.
»Eine flennende Truppe, da stünden wir schön da«, sagte René. Und er hatte Recht.
Später rechneten sie ihm diese Erschossenen zu den entbehrlichen Verlusten dazu.
Bereits das hätte ihn, und eigentlich auch mich, warnen sollen. Wir analysierten die ganze Situation. Wo er einen Fehler gemacht hatte und so.
»Wir haben zu wenig erschossen«, sagte er.
»Genug«, antwortete ich. »Es waren mindestens zwanzig. Und dazu werden sie auch noch einen Orden bekommen.«
Für ihren Mut. Manche zum nicht erlebten zwanzigsten Geburtstag.
»Sie verdienen gar nichts,« das wieder meinte René.
»Man kann nie wissen«, beendete ich das Gespräch.
Wie immer, beschreibt man die Gräuel und Ungeheuerlichkeiten so, wie sie sich wirklich abgespielt haben – mit den austretenden Gedärmen, den abgerissenen Gliedmaßen, dem Gestank, dem Erbrochenen, dem irrwitzigen Gejammer und Schreien, wird alles weit weg und irgendwie unwahrscheinlich erscheinen. Weil der Mensch darauf eingestellt ist, nur eine bestimmte Menge Entsetzens zu verdauen. Würde er sich ein klein wenig mehr zumuten und akzeptieren, müsste er sich töten und auslöschen. So dass er über alles, was eine gewisse Grenze übersteigt, nur mehr lacht und es nicht glaubt. Im Rahmen des Überlebens.
»He, Kumpels, habt ihr hier irgendwo die Hand von Korporal Pařízka?«, rief jemand in der Nähe unseres Beobachtungspostens.
»Er hat meine Uhr gehabt.«
»Am rechten Arm.«
»Eine Scheißarbeit!«
»Und ein Scheißkrieg!«
»Warum hast du sie ihm auch geborgt! Wozu hat er die genaue Zeit gebraucht?«
Wie ist es möglich, dass sich auf einem so kleinen Gebiet plötzlich hunderttausende Menschen niedermetzeln? Die eigentlich nichts gegeneinander haben. Und am schlimmsten sind diese großen Buben oder kleinen Männer, wie ich sie nenne. In einem bestimmten Alter glaubt man nämlich, Sterben und Tod beträfen einen nicht. Bei der Vorstellung, man wäre vierzig, kommt es einem besser vor, tot als dermaßen alt zu sein. Sie spielen, sie glauben, es handle sich nur um ein Kriegsspiel. Sie fürchten nichts. Nicht einmal die größten Grausamkeiten, die sie anderen zufügen. Dann brüllen und heulen sie, wenn ihnen etwas weh tut oder abgerissen wird.
Nur weil jemand sie dorthin schickt. Unter anderen auch mein Mann. Er hatte es umso schwerer, weil auch noch andere Kommandant sein wollten. Und Sie kennen ja diese Intrigen. Besonders beim Militär, wo jeder eine Waffe bei der Hand hat.
Wir überquerten einen Fluss. Als Orientierungspunkte dienten uns Kreuze. Holzkreuze, jedes mit einem Christus. Aus Blech und bunt bemalt.
»Anders könnte er auch gar nicht sein«, dachte ich mir nach diesem Massaker.
An jenen Christus erinnerte ich mich noch einmal. Wir hatten uns, mitten unter der Woche, nach einem misslungenen Angriff in ein Dorf zurückgezogen. Befanden uns in einem Keller. Von den Häusern war nichts übrig. In diesem Keller begann ich zu verstehen, warum einer der Faschistenhäuptlinge die Ruthenen zusammen mit Lemken und Ukrainern der ersten Liquidierungswelle zugeteilt hatte. Primitive, wirkliche Primitive! Außer Ikonen hatten sie auch eine Uhr. Eine gemalte. Das bemerkte ich sogar im flackernden Kerzenlicht. Sie hatten die Uhr genauso aufgemalt wie den Christus. Die Zeit war ihnen total egal. So wie wir. Können Sie sich das vorstellen? Apathische Menschen!
»Begrüßt man so Befreier und Helden?«, wollte ich sie aufrütteln. Sie beachteten mich nicht. Sie hatten nicht den geringsten Respekt vor einer Uniform.
Fünf Monate lang hatten die Deutschen sie okkupiert. Ich begreife nicht, dass sie loyal zu ihnen waren. Das heißt nicht alle. Die, die nicht erschossen worden waren. Sie halfen ihnen sogar beim Kochen. An diesem Tag hatten sie Faschiertes gehabt. Das hätte nach unserem Sieg ausgewertet und bestraft gehört. Wie auch dieses Beten.
O Marie Mati Boža, Prečista!
Prosi za nas Syna Svojho Isusa Christa.
Svitla zornice, nebesnaja Carice,
Svjata, prečista Divo Marie!
Pomozi nam Divo Mati, Prečista – prosi za nas …
Ne dopusti na nas vojnu, Prečista – prosi za nas …
Wir strengen uns hier an und kämpfen um ein besseres Leben für sie, und sie singen. Zu jemandem irgendwo in den Wolken.
Ich begreife nur nicht, warum niemand die Holzkirche auf der Anhöhe am Ende des Dorfes hinweggefegt hat. Weder wir noch der Feind. Die Dorfbewohner haben sich daraus natürlich ein Wunder konstruiert.
»Nach dem Krieg lasse ich euch eine Ladung Wecker herführen«, sagte ihnen René. Und glauben Sie mir, es interessierte sie nicht im geringsten. Dass sie die Zeit mehr schätzen sollten. Ja ist es denn möglich, einfach so vor sich hin zu leben? Ohne Ideen, und nur nehmen, was kommt, und die Zeit nur mit der Zahl der Gebete messen?
4 / Tereza
Sie erhebt sich, sie hat zwei Stunden vor dem Bildschirm des Computers verbracht. Sie tritt ans Fenster. Der Kirchturm ist heute fast schwarz. Noch vor einem Jahr leuchtete er hellgold. Nur, was hält hier? Sie geht zum Schrank hinter dem Drucker und holt einen Kamm heraus. Ein Büschel Haare bleibt darin zurück. Alles geht den Bach hinunter. Haare, Lippen, Zähne, ihre Ehe. Knapp nach ihrem dreißigsten Geburtstag.
Sie nimmt einen mit Schriftstücken gefüllten Ordner und betritt den Nebenraum. Das Sitzungszimmer, wie die offizielle Bezeichnung lautet. In einer Behörde ist es das Wichtigste, eine leitende Stellung innezuhaben. Dann besitzt man ein eigenes Büro mit Schreibtisch, Telefon, Sekretärin. Dieser sagt sie soeben, sie wolle einen Kaffee ohne allem. Das heißt ohne Zucker und Milch. Man soll Geschmäcke nicht mischen, was auch bei Männern gilt. Wie will man sonst erkennen, ob einer der richtige ist.
Den Anschein von Aktivität schaffen regelmäßige Besprechungen und Aktionsberatungen. Wenigstens jeden zweiten Tag. Wesentlich ist stets die Sitzordnung am Hauptende des Tisches. Den Funktionen entsprechend.
Alle befinden sich auf für sie vorgesehenen Plätzen. Das heißt, die zwei Stellvertreter rechts und links, der Leiter der Fachabteilungen an einem senkrecht zu ihrem stehenden Tisch. Sie begrüßen sie mit einem herzlichen Lächeln. Die Zähne weit entblößt, die Mundwinkel dabei für über dreißig Sekunden mit Christbaumhäkchen fixiert. Je niedriger die Stellung, desto beflissener das Lächeln. Sie sind hier wirklich wie eine große Familie. Im Bereich der einzelnen Büros vertraut man einander alles an. »Das war ein phantastisches Abendessen beim ›Goldenen Löwen‹. Cinzano. Klar, dieser Salzrand tut meiner Paradentose nicht gut. Die gefüllten Wachteln waren eindeutig Klasse. Das Huhn würze ich mehr. Und am Morgen war es Spitze. Auch noch nach zwanzig Jahren. Und dabei hat Vilda erhöhten Blutdruck und Zucker. Wie ich sage: P-e-r-f-e-k-t.«
»Aufgabenkontrolle«, sagt Tereza.
Sie zieht ein weißes Notizbuch heraus und macht sich Notizen.
Jemand aus Kanzlei dreihundertfünfundzwanzig hat eine dringliche Mitteilung.
Tereza demonstriert Aufmerksamkeit. Sie kennt die Struktur der Mitteilung: Eine Katastrophe, eine weitere, noch größere Katastrophe, alle Kräfte und Fähigkeiten zu ihrer Bewältigung aufgeboten, Endlösung durch Verdienst des Vortragenden. Wie viele Leute machen sich das Verdienst zu eigen, eine Endlösung erzielt zu haben? Welche Zahl würde sich wieder anschließen?
»Was?«, fragt Tereza und zuckt leicht zusammen.
»Ob ich die neue Organisationsordnung genehmige?« Gleichzeitig betrachtet sie die silbrige Oberfläche ihres Kaffees.
»Plumps!«, wirft sie den Löffel hinein. Sie bespritzt den Stellvertreter zu ihrer Rechten. Dieser lächelt entschuldigend. Dann antwortet Tereza exakt sieben Minuten lang. Während dieser Zeit weiß mit Sicherheit bald niemand mehr, worüber sie spricht. Am Schluss nicken alle zustimmend und verständnisvoll. Sie drückt sich überzeugend aus, mit deutlicher Aussprache und etwas tieferer Stimme