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BENDER - Virtuelle Millionen
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BENDER - Virtuelle Millionen

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Benders 2. Fall: Friedwart Bender, der Rollstuhl fahrende Privatermittler will eigentlich nur einen Vortrag auf einem Kongress in London halten und anschließend ein paar Tage in der Stadt genießen. Aber Bender wäre nicht Bender, wenn er die Missgeschicke nicht magisch anziehen würde. So überlebt er knapp einen Sprengstoffanschlag. War es ein Terroranschlag, ein Unfall oder der Teil von etwas Größerem? Die Suche nach Antworten führt ihn erst zurück nach Deutschland und quer durch Osteuropa, von einer Panne zum nächsten Fettnäpfchen. Manchmal muss man eben die Datenautobahn verlassen und stellt entsetzt fest, dass das reale Leben auf der realen Autobahn nicht nur für Rollstuhlfahrer so manche schräge Situation versteckt.
LanguageDeutsch
Publisher110th
Release dateNov 12, 2014
ISBN9783958651876
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    BENDER - Virtuelle Millionen - Roberto Sastre

    werden.

    Kurzinhalt

    Friedwart Bender, der Rollstuhl fahrende Privatermittler will eigentlich nur einen Vortrag auf einem Kongress in London halten und anschließend ein paar Tage in der Stadt genießen. Aber Bender wäre nicht Bender, wenn er die Missgeschicke nicht magisch anziehen würde. So überlebt er knapp einen Sprengstoffanschlag. War es ein Terroranschlag, ein Unfall oder der Teil von etwas Größerem? Die Suche nach Antworten führt ihn erst zurück nach Deutschland und quer durch Osteuropa, von einer Panne zum nächsten Fettnäpfchen. Manchmal muss man eben die Datenautobahn verlassen und stellt entsetzt fest, dass das reale Leben auf der realen Autobahn nicht nur für Rollstuhlfahrer so manche schräge Situation versteckt.

    Der Autor

    Roberto Sastre ist in Deutschland geboren und führte als Computerspezialist ein einigermaßen geruhsames Leben, das nur von gelegentlichen Eskapaden des passionierten Rockmusikers unterbrochen wurde. Als ihn ein Kundenauftrag ins Ausland führte, packte ihn das Reisefieber. Einige Jahre lebte er in Lateinamerika, wo man seinen Namen kurzerhand verspanischte. Seit einem Unfall sitzt er querschnittgelähmt im Rollstuhl. Seine Abenteuerlust und den Spaß am Erzählen tobt er jetzt an der Tastatur aus.

    „Es ist nicht so, wie es aussieht", ist die Ausrede schlechthin.

    Was, wenn es keine Ausrede ist?

    Vorwort

    Dieses Buch ist wieder von vorne bis hinten erstunken und erlogen. Man sagte mir, bei Romanen sei so etwas absolut üblich. Nachdem ich in inzwischen drei autobiografischen Erzählungen berichtet habe, wie ich im Rollstuhl gelandet bin und wieder ins Leben zurückgefunden habe, hat mich die Lust am Schreiben gepackt. Die ersten beiden Erzählungen sind übrigens unter dem Namen „Rollender Donner" bei Chichili/Satzweiss erschienen. Der dritte Teil ist auch schon im Lektorat. Mal sehen, was schneller ist, die Gesamtausgabe vom Rollenden Donner mit allen drei Teilen, oder dieses Buch.

    Na ja – so aufregend ist mein Privatleben nun auch wieder nicht und mit drei Büchern habe ich meiner kleinen Lesergemeinde eigentlich genug Prosa angetan. Ob mir eine erfundene Geschichte übel genommen wird? Diese Frage hätte ich mir nicht stellen müssen. Friedwart Bender, der mit seinem Rollstuhl von Fettnäpfchen zu Abenteuer zu Schlamassel eiert und es irgendwie immer schafft, sich herauszuziehen, fand auf Anhieb seine Fans.

    Diesmal verschlägt es ihn nach London, der Hauptstadt der Kriminalromane. Sein rollendes Computerlabor musste er zu Hause lassen, sein Elektrorollstuhl ist defekt und Elsbeth, seine treue Assistentin – aber ich möchte die Spannung nicht vorwegnehmen. Wie es ausgeht, das weiß ich an dieser Stelle selbst noch nicht, aber ich bin sicher, dass der gute Bender auch diesmal durch die seltsamsten Abenteuer stolpern wird.

    Elsbeth ist tot!

    Ich habe sie umgebracht. Meine Elsbeth, die mich seit meinem ersten Fall begleitet, sie ist nicht mehr da. Kein reinquatschen beim Autofahren mehr. Keine Politessen, die zu zugeparkten Behindertenparkplätzen bestellt werden. Kein fröhliches „Sie haben Post" im ungeeignetsten Moment. Und ich bin schuld daran.

    Es war ein Unfall. Normalerweise kann man mit einem Elektrorollstuhl schon mal in den Regen kommen. Die Elektrik, wie auch die Elektronik sind spritzwassergeschützt und halten auch einen etwas kräftigeren Guss aus. Elsbeth ist in ihrem Versteck unter meinem Sitzkissen normalerweise gut geschützt. Aber hundertprozentigen Schutz gibt es eben nicht. Wir hatten im Kloster des Ordens den Abschluss eines ziemlich komplizierten Falles gefeiert. Ob es jetzt am Weißherbst lag oder an unserer ausgelassenen Stimmung, ich weiß nur noch, dass ich im Kneippbecken stand und Hamlet deklamierte. Also – mein Rollstuhl stand und ich saß darin. Tanja saß zu meinen Füßen und soufflierte mir. Lisa gab am Beckenrand die Uncoole. „Mensch, Bender, du benimmst dich wie ein kleiner Junge. Komm raus, du hast schon ganz blaue Lippen. Manchmal kann sie schon eine ganz schöne Glucke sein, aber diesmal hatte sie Recht. Ich schob den Joystick nach vorn, um wieder aus dem Becken zu rollen, aber der Rollstuhl gab keinen Mucks von sich. Das Display war tot. Das leise Pfeifen der Mikroturbine war erloschen. Weinselig rührte ich mit dem Joystick in alle Richtungen. Das Einzige, was ich erreichte, war ein Lachorkan der Umstehenden. Selbst Lisa wischte sich die Tränen aus den Augen. „Auf los jetzt, komm raus, du hast dich genug zum Affen gemacht. Warum müssen Frauen immer nur so vernünftig sein? So langsam merkte sie, dass da etwas nicht stimmte. Während ich immer noch kichernd den Joystick malträtierte, hatte sie ein paar Freiwillige mobilisiert, die mich mit vereinten Kräften aus dem Becken bugsierten. Die Schwestern hatten mich schnell wieder trockengelegt und in meinen Ersatzrollstuhl verfrachtet. Einen Aktiv-Rollstuhl ohne Antrieb. Den Rest des Festes durfte ich mit Muskelkraft absolvieren.

    Die Techniker des Ordens stellten am nächsten Morgen fest, dass das Wasser meinem Rollstuhl gar nicht gut getan hatte. Antrieb und Steuerung waren triefend nass. Allerdings sind die so robust ausgelegt, dass sie nach einer sorgfältigen Trockenlegung wieder funktionieren sollten. Nur Elsbeth konnten sie nicht mehr wiederbeleben. Die hatten diverse Kurzschlüsse endgültig zu ihren Altvorderen versammelt.

    Hatte ich erwähnt, dass Elsbeth ein Computer ist? War. Ein Notebook, genauer gesagt, dass unter meinem Sitz im Rollstuhl eingebaut war. Hatte ich? Tut mir leid, aber ich stehe immer noch unter Schock. Ja, in so einem E-Rolli kann man eine Menge Dinge verstecken. Vor Jahren hatte ich eine Zeit lang mit künstlicher Intelligenz herumexperimentiert. Steffen, ein begnadeter Tüftler, den ich in der Reha kennengelernt habe, hatte an meinen Algorithmen weitergearbeitet und sie so optimiert, dass wir ein älteres Notebook damit ausstatten konnten. Dieses Notebook steckte unter meinem Sitz und hörte auf den Namen Elsbeth. Im wörtlichen Sinne. Eine Sprach-Ein- und Ausgabe hatten wir mit als Erstes realisiert. Das Wasser im Kneipp-Becken hatte ganze Arbeit geleistet, dieses Notebook würde nie wieder einen Ton von sich geben. Kathrin Vollbarth, die IT-Leiterin des Ordens hatte die Festplatte schon ausgebaut und an Steffen geschickt.

    „Du bist mer vielleischt en Labbeduddel"

    Steffen konnte sich kaum halten vor Lachen. „Du Kapp, des waaßte doch selber, des mer en Kompjuder net mit ins Wasser nimmt. Aber mach der nix draus, isch hab noch e Backup. Bloß e neu Kist‘ die müsse mer einbaue. Aber isch hab da schon ´ne Ideesche."

    Virtuelle Millionen

    „Ladies and Gentlemen, British Airways welcomes you aboard of flight Bee Ay oh niner oh one from Fränkfört to London Heathrow." Die Stimme der Flugbegleiterin hatte diesen näselnd singenden Ton, den ich schon einige Zeit nicht mehr gehört hatte. Genauer gesagt schon einige Jahre, denn seitdem ich im Rollstuhl sitze, habe ich kein Flugzeug mehr bestiegen. Mein Haupt-Fortbewegungsmittel ist mein umgebauter Van. Da kann ich mit dem Elektrorollstuhl hinters Lenkrad rollen und selbst fahren. Hinten ist mein kleines Computerlabor eingebaut. Eigentlich bin ich ja unter vollen Bezügen in Rente und müsste nicht mehr arbeiten. Für einen ehemaliges Mitglied einer Spezialeinheit ist es aber nicht so einfach, von einem zum anderen Tag in Rente zu gehen. Ja, so eine Kugel, die sich mitten im Einsatz plötzlich in der Wirbelsäule breitmacht, kann einem schon den ganzen Tag versauen. Und so arbeite ich jetzt eben als freier Ermittler im Bereich Computerforensik gelegentlich wieder für meine alte Einheit.

    Seit einem Fall von illegaler Pornographie, in dem Tanja, die Tochter eines meiner Freunde unfreiwillig eine tragende Rolle spielte, ist mein Hauptkunde allerdings ein über 800 Jahre alter Orden. Der Orden Unserer Lieben Frau vom Rhein wurde zur Zeit der Kreuzritter von einer ehemaligen Trosshure gegründet. Sie wollte ursprünglich all diejenigen mit bleibenden Schäden heimgekehrten Kreuzzügler medizinisch versorgen, die nicht für einen der großen Ritterorden gekämpft hatten und für die sich niemand zuständig fühlte. In einer aufgegebenen Abtei baute sie eine Art Pflegeheim auf. Das Geld dazu hatte sie mit zwei Häusern verdient, in dem man sich der käuflichen Liebe hingeben konnte. Da sie darauf bestand, dass ihre Mädchen sich richtig pflegten und auch medizinisch versorgt wurden, erfreuten sich ihre Frauenhäuser eines sehr guten Rufes. Das Wort Frauenhaus ist übrigens schon älter, als so manche glauben. Nur die Bedeutung, die hat sich im Lauf der Jahre geändert. Jedenfalls entwickelte sich eine Organisation, die schon vor einigen hundert Jahren moderner aufgebaut war, als so manches heutige Unternehmen. Nur um überleben zu können, wurde der Orden immer größer. Heute betreibt er eigene Schulen, Kinder- und Pflegeheime.

    Seit einigen Jahren unterstützt er eine Universität, die Studiengänge für Hochbegabte anbietet. Tanja, mein Patenkind, die in den Schul- und später in den Semesterferien gerne bei mir jobbt, besucht diese Universität mit einem Stipendium des Ordens. Sie hat sich zu einer jungen Frau entwickelt, die man kaum beschreiben kann, ohne in Superlative zu verfallen. Tanja studiert Kriminologie und Informatik. Im nächsten Jahr will sie ein halbjähriges Praktikum im Bereich Computerforensik bei mir absolvieren. Da freuen wir uns beide heute schon drauf.

    Der Orden hat mir eine kleine Wohnung eingerichtet, die ich mir mit Lisette de la Montagne teile. Lisa, wie sie von allen genannt wird, war ebenfalls in Tanjas Fall involviert. Sie ist inzwischen in den Orden eingetreten und hat dort die Pflegedienstleitung übernommen. Unser Verhältnis ist etwas merkwürdig. Wir verstehen uns gut, haben fantastischen Sex, aber eine echte Beziehung hat für uns einen ähnlichen Stellenwert, wie Weihwasser für den Teufel.

    Meine beiden Pflegerinnen Melinda und Nikita sind nicht mehr so häufig bei mir. Sie haben im Orden andere Aufgaben übernommen und springen nur noch ein, wenn mal niemand sonst zur Verfügung steht. Zum Glück verstehe ich mich ja prima mit der Pflegedienstleiterin. Wenn ich im Kloster übernachte, dann werde ich von Pflegekräften aus dem Heim betreut, das auf demselben Gelände liegt.

    In meiner Wohnung in der Nähe des Frankfurter Huthparks mit dem herrlichen Blick über das Maintal bis zum Spessart habe ich ein Zimmer als Aufenthalts- und Rückzugsraum für meine 24-Stunden-Assistenz eingerichtet. Üblicherweise haben sich mehrere Pflegerinnen alle 12 oder 24 Stunden bei mir abgelöst. Momentan probieren wir ein anderes System aus. Eine Pflegerin wohnt mehrere Tage fest bei mir und wird von einer Kollegin abgelöst, die dann auch für mehrere Tage bleibt. In Regelfall bin ich aber 2-3 Tage pro Woche im Kloster. Seit ich den Rahmenvertrag mit dem Orden abgeschlossen habe, brauche ich mich über fehlende Fälle nicht zu beklagen. Die Mutter Oberin hatte wirklich nicht übertrieben.

    Caitlin, die Cathy genannt wird, ist momentan die meiste Zeit für mich zuständig. Sie teilt sich die Aufgabe mit Monika, die lateinamerikanische Vorfahren hat. Monis zarte Figur lässt nicht erahnen, welche Kräfte in ihr schlummern. Schließlich muss sie mich bei der Pflege öfter mal herumwuchten. Ihre Haut, die diesen Farbton hat, der wie Milchkaffee aussieht und den man bei den Südamerikanern als „Morena bezeichnet, macht den Gesamteindruck noch stimmiger – bis sie den Mund aufmacht. Sie ist in der Pfalz aufgewachsen und den Dialekt ihrer Kindheit kann sie nicht ganz abstreifen. Im ersten Moment wirkt das schon irritierend. Sie lässt keinen Moment der Trübsal aufkommen und ist ständig in Bewegung. Dabei ist sie von einer Sanftheit geprägt, eine Mischung, die nur die Latinas so hinbekommen. Monis sanftmütiges Wesen ergänzt sich gut mit Cathys burschikoser Art. Das Einzige, was an Cathy nicht typisch deutsch ist, ist ihr irischer Ururgroßvater. In ihrer Familie ist es üblich, den Kindern irische oder englische Namen zu geben. Cathy ist immer pünktlich, extrem sorgfältig und hat einen fast unzerstörbaren Humor. Der bekommt immer nur dann Risse, wenn ich sie scherzhaft „Käthe nenne. Das kann sie überhaupt nicht ab.

    Dass alle meine Pflegerinnen hochqualifiziert sind, ergibt sich aus dem Selbstverständnis des Ordens. Ich vermute mal ganz stark, dass sie auch beide zumindest Grundkenntnisse in der Selbstverteidigung haben. Die Mutter Oberin legt großen Wert darauf, dass sich ihre „Kinder" auch in unüblichen Situationen helfen können.

    Schwester Kathrin Vollbarth, die IT-Leiterin des Ordens wollte eine Tagung zum Thema Netzwerksicherheit im klerikalen Umfeld besuchen, zu der britische Jesuiten eingeladen hatten. Aber das Leben spielt uns gerne mal einen Streich. Gestern beim Transfer in ihr Bett hat ihre Pflege eine offene Stelle gefunden, dämlicher weise genau am Sitzbein. Dekubitus, der Albtraum aller Rollstuhlfahrer. Dagegen gibt es nur eine wirksame Behandlung, nämlich entlasten. Für die nächste Zeit wird Kathrin auf dem Bauch schlafen, bis der Hautdefekt wieder abgeheilt ist. Ihr war bei der Arbeit ein USB-Memory-Stick auf den Schoß gefallen. Viele von uns Querschnitten haben kein Gefühl in den unteren Körperregionen. So hat Kathrin nicht gemerkt, dass der Stick sich durch ihre Bewegungen auf dem Sitzkissen nach hinten gearbeitet hat. Abends hatte sie bereits ein tiefes Loch in der Haut. Das Loch hat man ihr sofort zugelasert. Jetzt braucht sie viel Geduld, bis alles wieder verheilt ist. Kathrin und Geduld sind nicht wirklich die besten Freunde, aber da muss sie jetzt durch. Durch die Laserbehandlung wird der Heilungsprozess erheblich beschleunigt, aber einige Wochen wird es wohl brauchen.

    So sitze ich im Flieger, neben mir schaut Cathy begeistert aus dem Fenster. In der Reihe vor uns hat sich Sylvia Vollbarth, Kathrins Schwester und Kollegin in ein Computermagazin vertieft. Neben ihr sitzt eine abenteuerlustige junge Rollstuhlfahrerin. Sie fliegt meistens alleine und war auch diesmal ohne Begleitung zum Flughafen gekommen. Viele Fluglinien bestehen darauf, dass Menschen, die sich nicht selbst evakuieren können, mit Begleitpersonen reisen. Deswegen wird man als Rollstuhlfahrer auch keinen Platz am Notausgang bekommen. Die Flugbegleiter haben im Notfall anderes zu tun, als die Behinderten rauszutragen. So heißt es für uns, entweder Begleitperson mitnehmen oder so lange sitzen zu bleiben, bis die Maschine komplett ausgebrannt ist. Sylvia hat sich auch gleich bereit erklärt, als Begleitperson zu fungieren. Die Dame am Check-in meinte doch glatt, sie wäre doch viel zu schwach dazu. Ohne ein Wort zu sagen, drehte Sylvia sich zu der Rollstuhlfahrerin herum und setzte sie ohne jede Mühe in einen bereitstehenden Kabinenstuhl um. Etwas Anatomie, dazu eine Prise Hebelgesetze, Kinästhetik nennt sich das Ganze und sieht aus wie eine Mischung aus Judo und Krankengymnastik. Auf die Art können Menschen, die fast das Doppelte der Pflegekraft wiegen, ohne Schwierigkeiten bewegt werden. „Äh, sie muss aber doch noch zum Flieger ..." Einen Wimpernschlag später saß die junge Frau wieder in ihrem Rollstuhl. Kleiner Nebeneffekt – für Begleitpersonen reduziert sich der Ticketpreis erheblich. Sylvia bekam den Mund nicht mehr zu, als man ihr den Differenzbetrag direkt in bar auszahlte und beim Übergepäck bloß abwinkte.

    Jedenfalls weiß ich, auf wen heute Abend das Stout geht. Ich kenne da ein Pub, die zapfen ein Porter, leicht malzig, aber nicht zu süß, schwarz wie eine Mondfinsternis. Das läuft von selbst die Kehle runter. Die Leute behaupten ja immer, das englische Bier wäre schal und warm. So ganz stimmt das nicht. Die Engländer haben bloß eine etwas andere Brautechnik. Ihr Bier entwickelt den besten Geschmack bei ungefähr 10-12 Grad und hat weniger Kohlensäure. Deswegen sind englische Zapfhähne auch viel größer. Das Bier wird nämlich aus den Fässern gepumpt und nicht mit Kohlensäure gezapft. Man hat zwar inzwischen auch Kohlensäurezapfanlagen, aber damit schmeckt das Bier irgendwie nicht richtig. Für einen deutschen Biertrinker wirkt das erste Glas vielleicht ein bisschen ungewohnt. Spätestens nach dem dritten Glas macht es einem aber nichts mehr aus. Durch die fehlende Kohlensäure kann man nämlich viel mehr trinken.

    Irgendwo unter mir im Bauch des Airbus ist mein Aktivrollstuhl zusammengefaltet und verstaut. Normalerweise würde die Crew den Rollstuhl in der Kabine mitnehmen, aber das Flugzeug ist bis auf den letzten Platz besetzt. Durch die Faltmechanik kann ich den Rollstuhl ein paar Zentimeter schmaler machen, ohne aus ihm auszusteigen. Will ich ihn wieder verbreitern, dann drücke ich mich auf den Schutzblechen hoch, während ein Helfer die Griffe auseinanderzieht. Gerade bei schmalen Toilettentüren ist das äußerst praktisch. Bei den Toiletten im Flugzeug klappt das aber auch nicht. Die sind so klein, dass ich auch mit dem Kabinenstuhl keine Chance habe, hinein zu kommen. Die Fluglinie wusste, dass ein Whisky Charly Hotel Charly kommt, ein Rollstuhlfahrer, der bis zum Kabinensitz gerollt werden muss. Deshalb stand ein Bordrollstuhl bereit. Ich wurde bis zur Maschine geschoben, dann haben mich zwei kräftige Arbeiter in den schmalen Kabinenstuhl gehoben. Mit zwei Griffen war mein Stuhl zusammengefaltet und verschwand im Bauch der Maschine. Mit einem Gepäcklift hob man mich zur Gangway hoch, klappte ein Stück Geländer weg und ich war drin. Normalerweise hätte man mich mit einem Lift zum Finger gebracht. Das ist dieser Schlauch, der von den Warteräumen zu den Maschinen geht. Dass der Lift genau zu diesem Zeitpunkt gewartet wurde, war mal wieder mein ganz persönliches Glück. Mit ratlosen Gesichtern stand man herum und überlegte. Im Scherz meinte ich: „Dann nehmt doch ´n Gepäcklift." Warum kann ich nie meine Klappe halten?

    Jetzt sitze ich in einem ganz normalen Passagiersitz und sehe aus wie jeder andere. Den Bordrollstuhl hat man wieder ausgeladen. Auch kein Platz. Irgendein Event, das mit der Königsfamilie zu tun hat. Da werden wieder alle Straßen verstopft sein, die Passkontrolle dauert Stunden und die Taxipreise explodieren. Mein Ticket hat schon das eineinhalbfache des regulären Preises gekostet. Spesen, die kann ich abrechnen. Meinen E-Rollstuhl haben die Techniker des Ordens in der Mache, von Steffen mit Argusaugen überwacht.

    „Mach der mal kaan Kopp, hat er mich beruhigt, „du kriehst e ganz neu Elsbeth. Die kann dann noch e ganz Eck mehr. Watts ab, die werd rischdisch guhd.

    „Sir", diesen leicht blasierten Ton bekommen nur die Flugbegleiterinnen von British Airways so hin. Irgendwie weiß ich nie, haben die jetzt einen Riesenrespekt vor mir, oder können sie bloß die Verachtung nur schwer unterdrücken. Vielleicht liegt‘s aber auch nur an der Sprache. Englisch richtig ausgesprochen klingt immer ein wenig, als wäre der Rest der Welt zur eigenen Belustigung da. Ob ich ein Frühstück möchte? Wir lassen uns eine große Portion Rührei mit Bratwürstchen schmecken. Als Rollstuhlfahrer ist es sinnvoll, nicht unbedingt Holzklasse zu fliegen. Club Class hat echte Vorteile. Knapp eineinhalb Stunden Flug, aber für ein richtiges britisches Frühstück muss Zeit sein. Das ist fast noch wichtiger, als der Fünfuhrtee.

    „Das sieht ja toll aus", Cathys Finger deuten zum Fenster. Ich recke mich. Hinter der Flügelkante ist ein Zentimeter Wasser vor der Küstenlinie Frankreichs zu sehen. Vor der Flügelspitze ist ebenfalls ein Finger breit Ärmelkanal, darunter liegen die weißen Klippen von Dover. Der Anblick fasziniert auch mich jedes Mal aufs Neue. Es ist schon ein irrwitziges Gefühl. Da sitzen wir in bequemen Sesseln, genießen ein frisch zubereitetes Frühstück mit Würstchen, Rührei und einem hervorragenden Tee. Ja der englische Tee. Wer je englischen Kaffee getrunken hat, kann die Begeisterung der Briten für Tee verstehen. Unter unseren Füßen sind ein paar Millimeter Aluminium, ungefähr 12 Kilometer Luft und dann Wasser. Ich konzentriere mich auf mein Frühstück und versuche, nicht daran zu denken, dass das Einzige, das die viele Tonnen schwere Maschine vor einem Sturz in den Ärmelkanal bewahrt, ein physikalisches Prinzip ist, nach dem sie an der umgebenden, ziemlich dünnen Luft hängt.

    Wir haben gerade genug Zeit für eine zweite Tasse Tee, da geht das „Anschnallen"-Licht wieder an. Lehnen senkrecht, Tisch einklappen, Landeanflug – ich hatte mich erst gar nicht abgeschnallt. Caitlin neben mir ist ganz aufgeregt. Sie ist das erste Mal eigenverantwortlich unterwegs. Ich bin ja kein Ordensmann, sondern nur Berater. Sylvia spielt die Rolle der Assistentin, die mir technisch zur Hand geht. Eine kleine Assistentin wird auch von Insidern gerne mal übersehen. Dass sie mir fachlich kaum nachsteht, muss ja keiner wissen. Ihr fehlt nur noch die Erfahrung, aber die kommt von selbst. So ist Cathy als diejenige, die für meine Pflege verantwortlich ist, auch gleichzeitig unsere Delegationsleiterin. Ihre Eltern hatten sich auch im Orden kennengelernt. Als sie geboren wurde, entschieden sie sich dazu, ihre Mitgliedschaft vorübergehend ruhen zu lassen. Die ersten Jahre wuchs sie in einer ganz normalen Familie auf. Sie kam dann in einen Kindergarten des Ordens. Bis zu ihrer Einschulung durften ihre Eltern nicht in den Orden zurückkehren.

    So tolerant er allen Aspekten der menschlichen Existenz gegenüber auch ist, bei der Kindererziehung geht der Orden keinerlei Kompromisse ein. Kinder sind unsere Zukunft und müssen sich einerseits frei entwickeln können, andererseits aber auch verstehen, dass das Zusammenleben von Menschen nur funktioniert, wenn sich alle an bestimmte Regeln halten. Respekt gegenüber der Erfahrung von Älteren, niemanden etwas wegnehmen, niemanden falsch beschuldigen. Im Großen und Ganzen orientieren sich die Regeln an den Zehn Geboten. Alle Kinder wachsen gemeinsam auf. Sie lernen von Anfang an, dass vieles besser funktioniert, wenn man sich gegenseitig hilft und auch Hilfe annimmt. Die Erzieherinnen und Erzieher versuchen, besondere Talente früh zu erkennen und zu fördern. Talente wie Behinderungen werden als Zeichen der Individualität und der Vielfalt akzeptiert. So wachsen die Kinder in einer Umgebung auf, bei der Individualität und soziales Verhalten von Anfang an als Selbstverständlichkeit vermittelt werden. Das Kennenlernen des eigenen Körpers, das in vielen Kulturen als schmutzig oder sogar als Tabu gilt, wird als wichtige Komponente der Entwicklung betrachtet. Gleichzeitig kann damit der Respekt vor der Privatheit vermittelt werden. Ich hatte mich anfangs gewundert, warum meine Pflegerinnen so vertrauensvoll miteinander umgehen, mehr wie Schwestern als Kolleginnen. Als ich den Tod einer Ordensschwester im Kloster untersuchte fiel mir sofort diese besondere Art auf, mit der man sich gegenseitig behandelte. Dieser Mischung aus Vertrautheit und Respekt begegne ich nicht allzu oft.

    Die Maschine hat die Landeklappen ausgefahren und setzt zur Landung an. Mit leisem Rumpeln fährt das Fahrwerk aus. Dabei fällt mir jedes Mal mein erster Flug in einer Verkehrsmaschine ein. Es war ein Inlandsflug mit einer Boeing 737 gewesen. Als die Landeklappen ausgefahren wurden, bekam ich einen Riesenschreck. Ich dachte, da lösen sich Stücke aus der Tragfläche. Das Rumpeln beim Ausfahren des Fahrwerks brachte mich an den Rand einer Panik. Inzwischen wäre ich besorgt, wenn im Landeanflug kein Rumpeln zu hören wäre. Ein Fahrwerk, das die Landung einer zig Tonnen schweren Maschine aushält, das lässt sich nicht ganz lautlos ausfahren. Und mit ausgefahrenem Fahrwerk landet es sich einfach leichter. Der Pilot setzt die

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