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Wir waren da: Erzählungen
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Ebook166 pages2 hours

Wir waren da: Erzählungen

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Ein Buch voll von Zauber und Gefahr der Kindheit.

Der Zeppelin Hindenburg und seine Mannschaft verbrennen allwöchentlich in Großmutters Speisekammer, das Haifangschiff schlingert auf hoher See im alten Geräteschuppen, ein Hydrant mit roten Ohren wird zum verliebten Außerirdischen.

Zärtlich, ernsthaft und ohne jede Nostalgie gelingt es Roman Marchel in seinen Erzählungen, den Zauber und die Unerbittlichkeit jener Vorstellungswelten zu erschließen, die der Kindheit und Jugend vorbehalten sind. Doch entwirft er keine Idyllen: Zwar schützen die Kindheitswelten wie "Blubberblasen" vor den Anschlägen der Erwachsenen, sie sind jedoch gleichzeitig offen für Bedrohung, tödliche Gefahr und für Zerstörungen, die ein Leben lang fortwirken können.
LanguageDeutsch
Release dateAug 27, 2013
ISBN9783701743612
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    Wir waren da - Roman Marchel

    Tatjana

    Der Roboter und das Mädchen

    – Also. Mein Name ist Alexander, aber in der Familie sagen sie Alex zu mir. Mein bester Freund nennt mich heute noch Xahander, wenn wir unter uns sind. So hat er mich immer genannt, als wir noch ganz klein waren und er meinen Namen nicht richtig aussprechen konnte, wir kennen uns schon ewig. Aber egal.

    Mein Name ist Alexander, ich bin siebzehn, ich bin Hinterbliebener.

    – Hallo, Alexander.

    – Ich will ehrlich sein: Eigentlich halte ich nicht viel von solchen Versammlungen. Seid mir bitte nicht böse, jeder lebt, wie er kann, aber was mich angeht, habe ich immer gedacht, dass man sich seinen Problemen alleine stellen muss. Mein Vater sieht das ähnlich. Aber egal, jetzt bin ich hier. Ich komme als eine Art Stellvertreter meiner Mutter, sie hatte vorgestern wieder einen Zusammenbruch. Jetzt ist sie im Krankenhaus und spricht nicht. Da habe ich mir gedacht, sie soll in Ruhe schweigen können, ich rede für sie.

    Für mich ist das nicht ganz leicht, ich bin nicht gerade von der gesprächigen Sorte, aber ich versuche mein Bestes. Vielleicht beginne ich mit dem Anfang.

    Wir sind alle im Garten gesessen, es war ein schöner Sommertag. Nachmittag. Wir Kinder haben Cola getrunken, das heißt, Ina und ich, Philip war ja damals erst vier Jahre alt, er durfte noch kein Cola trinken. Ich sehe genau die rot-weißen Plastikschirmchen vor mir, die wir auf unseren Gläsern hatten, als Schutz gegen die Wespen. Ina hat mit ihrem Schlüsselanhänger gespielt, ich weiß nicht mehr, woher sie ihn hatte. Es war ein rosa Miniaturradio mit einem einzigen Knopf. Wenn man daraufgedrückt hat, spielte es den Refrain von Seasons in the Sun. Ina hat immer und immer wieder das Lied abgespielt. Beim ungefähr dreihundertneunundsiebzigsten Mal hat meine Mutter ihr gesagt, sie soll bitte das Radio lassen. Ina hat es auf den Tisch gelegt, einen Schluck von ihrem Cola genommen und dann wieder auf den Knopf gedrückt. »Bring das Radio bitte in dein Zimmer«, hat mein Vater gesagt. Es war wirklich nervig. Sie hat gemurrt, aber dann ist sie doch ins Haus. Als sie wieder zurückgekommen ist, war da auf einmal der Roboter im Garten. Seine Lichter haben bunt geblinkt. Ina ist zu ihm hingegangen, und er hat ihr etwas gesagt. Wir haben es deutlich gehört, aber nicht verstanden. Ina hat sich zu uns umgedreht, sie hat gelächelt und uns gewunken. Ich würde mein ganzes Gedächtnis dafür geben, wenn ich nur dieses Gesicht, diese Hand mit den gespreizten Fingern vergessen könnte. Sie hat gelächelt, aber so unwirklich wie eine Puppe, ihre Wangen waren fleckig, als hätten die Lämpchen des Roboters auf sie abgefärbt. Dann ist sie durchs Gartentor hinausgegangen.

    Der Roboter hat Ina mitgenommen.

    Das war vor sechs Jahren, Ina war neun.

    Es war die erste Welle, also noch bevor das Fernsehen gewusst hat, dass es eine Welle war. Wir waren nicht vorbereitet, aber die einzige, blinkende, ratternde Wahrheit ist: Wir haben es gewusst. Wir sind dagesessen und haben es gewusst.

    Ich habe mir lange und oft eingeredet, es hat einfach zu Ina gepasst. Sie war ein fröhliches Mädchen, sie hat gern auf der Straße Fußball gespielt, sie hatte nie Angst. Ganz anders als wir. Wir machen uns bei jeder Gelegenheit in die Hosen. Meine Mutter hat immer Angst um uns, mein Vater hat dann Angst um meine Mutter, und ich habe Angst um mich selbst. Nur mein Bruder, der ist vielleicht auch anders, heute. Aber früher war er halt noch klein. Wenn es zum Beispiel ein Gewitter gegeben hat. Ich muss selber lachen, wenn ich uns so vor mir sehe. Meine Mutter sitzt auf dem Sofa und tröstet meinen kleinen Bruder, den sie an sich drückt, als wäre es der Weltuntergang. Mein Vater sitzt am Tisch und legt Karten. Er spielt oft Solitär, er glaubt, das hat eine beruhigende Wirkung auf meine Mutter. Ich sitze hinter dem Sofa auf dem Boden und bohre wie verrückt in der Nase. Ich mache das oft, wenn ich Angst habe, manchmal bis ich Nasenbluten bekomme. Nur Ina, was macht sie? Sie hockt vor der Balkontür und giert nach den Blitzen. Sie hat das Gesicht, so fest es geht, an die angelaufene Scheibe gepresst, die Nase plattgedrückt. Ihre Wimpern berühren das Glas. Sie sind wie lauter kleine Hängebrücken, auf denen die magischen Wesen, die sie wohl im Gewitter sieht, den Weg zu ihr finden sollen. Sie hat überhaupt keine Angst. Dann zeichnet sie mit dem Finger gezackte Pfeile in die Atemflecken, damit sie eine Erinnerung an die schönen Blitze hat, wenn der Zauber vorbei ist.

    Das Spiel meines Vaters ist nicht aufgegangen, ich habe Blutflecken auf der Hose, mein Bruder wird in dieser Nacht im Bett meiner Eltern schlafen; aber egal wie viel Zittern und Wimmern und Bluten ich auch bemühe, das Bild, das uns im Garten sitzend zeigt, bleibt deutlich: Wir haben es gewusst.

    Seid mir bitte nicht böse, ich weiß natürlich nicht, wie es bei euch war. Aber die zweite und dritte Welle sind doch eine Art Beweis. Da war man doch schon gewarnt. Und was hat es geholfen? Original nichts. Irgendwie haben wir es doch alle gewusst, oder? Heute ist mir das klar. Damals war es anders, kurz haben wir mitgespielt. Ina war kein Baby mehr, sie ist halt vors Tor gegangen, na und? Das wollte auch die Polizei hören. Und die Fürsorge. Später sind dann die Journalisten gekommen und die Leute vom Fernsehen, und auch ihnen hat es gepasst. Sie wollten Aufnahmen machen vom unverändert gebliebenen Kinderzimmer. Die waren überhaupt am besten, die Leute vom Fernsehen. Sie wollten sehen, dass wir unseren Fernseher auf den Müll geworfen haben, weil wir die Nachrichten nicht mehr ertragen konnten. Sie wollten ein abgezwicktes Telefonkabel filmen, unsere Panik vor dem Klingeln. So Scheiße halt. Meine Mutter hat geweint, und mein Vater hat sie dann rausgeworfen … die Leute vom Fernsehen, meine ich. Haben wir doch glatt die Unverschämtheit besessen, weiter zu leben.

    Natürlich haben wir in der ersten Zeit das Kinderzimmer unberührt gelassen. Wir haben gehofft und geheult, wir sind die Tode gestorben, von denen später so viel und so leicht geredet wurde. Die Nachrichten haben uns umgebracht, das Telefon hat uns umgebracht, aber dann waren wir wieder da, unsere Herzen dicke, klumpige Muskeln. Vielleicht klingt es hart, was ich jetzt sage, aber das Leben eignet sich nicht zum Melodram. Schließt die Augen und stellt euch vor, wie ihr am Klo sitzt, dann habt ihr den Beweis. Wir hoffen und heulen heute noch, aber auch das ist wahr: Wir wissen, sie kommt nicht zurück.

    Am besten geht Philip, mein kleiner Bruder, damit um. Er kann unglaublich gut zeichnen und malen. Er tut praktisch den ganzen Tag nichts anderes. Wenn er zum Beispiel einen Baum malt, dann sieht man, dass er noch wachsen wird. Habt ihr schon jemals einen Baum angesehen und dabei gedacht, der wächst noch? Ich nicht. Ich sage das nicht, weil er mein Bruder ist, er hat wirklich ein unheimliches Talent. Man sieht, dass sich die Blätter gerade erst wieder beruhigt haben, nachdem kurz zuvor ein heftiger Windstoß hineingefahren ist. Man spürt, auf dem leicht gebogenen Zweig muss ein Vogel sitzen – und wirklich, wenn man genauer hinschaut, erkennt man im scheckigen Laub die Schwanzfedern. Er wird bestimmt ein großer Maler, da gibt es für uns keinen Zweifel. Vor Kurzem habe ich in der Zeitung ein Interview mit einem Dichter gelesen. Er war im Krieg und er sagt, dass kein Mensch ernsthat dichten kann, bevor seine Welt nicht ins Gleiten, ins Schlittern gekommen ist, solange sie nicht droht, außer Kontrolle zu geraten. Für meinen Bruder stimmt das wahrscheinlich. Okay, ich verstehe davon nicht viel, von Dichtung eigentlich gar nichts, ich habe das Interview nur wegen der Überschrift gelesen: »Sex hilft schon auch!« Unsere Zeitungen. Eine Zierde, was?

    Aber egal. Ich wollte ja für meine Mutter sprechen. Für sie ist es am schwersten. Vorgestern hatte sie wieder einen Zusammenbruch. Es geht ihr schlecht. Aber schon vor dem ersten Zusammenbruch war uns klar, dass sie am meisten Schutz braucht. Mein Vater sagt, sie ist unser umgekehrter Engel. So, hat er geglaubt, würden wir am ehesten begreifen, worum es ging. Mein kleiner Bruder war ja erst vier, dann, am ersten Jahrestag, fünf. Jahrestage, haben wir geglaubt, sind besonders gefährlich. Mein Vater hat unsere Nachbarn und Bekannten eingeschworen, keine Anrufe, keine Besuche. Es ist gut gegangen. Das Frühstück am nächsten Morgen war ein Festmahl im Zeichen des Triumphs, wenn man einen kurzen Blickwechsel zwischen meinem Vater und mir so nennen will. Unsere Ina ist fort, aber diese Schlacht haben wir gewonnen. In solchen Begriffen haben wir tatsächlich gedacht, damals. Zumindest ich. Mein Vater aber auch, glaube ich. Die Servietten neben den Tellern waren bunt, keine Zugeständnisse, keine weißen Fahnen. Ich erinnere mich, wir waren sogar ziemlich heiter. Wir haben gelacht. Mein kleiner Bruder hat etwas von seinem Joghurt auf den Teller gepatzt, auf ein Paprikastück. Er hat es aus der Pfütze genommen und gesagt: »Quak, quak, quak.« Er ist lustig, mein Bruder, wir haben gelacht, meine Mutter auch.

    Bis wir es plötzlich gehört haben … das Lied. Ein paar Sekunden später war es ruhig. In meinem ganzen Leben habe ich nie eine solche Stille erlebt wie in diesem Moment. Die Zeit ist ein Geräusch, und wenn sie stehen bleibt, ist Stille. Ich kann nicht mehr sagen, wie lange. Dann ein Krachen, ein Schaben, und wieder: Seasons in the Sun. Meine Mutter ist aufgesprungen und durchs Haus gelaufen, wir auch. Sie hat geschrien, zuerst »Aus! Aus!«, immer wieder »Aus!«, dann hat sie keine Wörter mehr herausgebracht, nur noch Laute. Ich wünsche niemandem, dass er solche Laute hören muss. Es war nicht das hysterische, schrille Gekreische wie im Film, sondern tiefes, kehliges Klagen. Als ich ins Kinderzimmer gekommen bin, ist meine Mutter auf allen vieren gekauert, unter ihr die Splitter und Elektronikteile des Miniaturradios. Sie hat den Schlüsselanhänger zertreten. Doucette muss ihn hinter einem Kasten oder Regal herausgefischt haben und mit der Pfote am Knopf angekommen sein. Doucette ist unsere Katze. Sie ist eigentlich ein Kater, aber als uns die Tierärztin darüber aufgeklärt hat, waren wir schon so an den Namen gewöhnt, also sind wir dabei geblieben.

    Meine Mutter war dann für einige Zeit im Krankenhaus. Doucette auch. Also in der Tierklinik. Wir wohnen recht nahe an der Bahntrasse, und ein paar Tage später ist sie unter einen Zug gekommen. Mein Gott, die hat ausgesehen, als wir sie gefunden haben. Die linke Vorderpfote war abgetrennt, ich darf gar nicht daran denken. Jedenfalls hat sie überlebt. In der Nachbarschaft hat sofort das Gerede eingesetzt. Katzen stehen im Bunde mit den Mächten der Finsternis, und das war die Strafe. So Scheiße halt. Uns haben sie es natürlich nicht gesagt, aber mein bester Freund hat es aufgeschnappt. Und es hat schon Momente gegeben. Der Zeitpunkt war immerhin eigenartig, als hätte Doucette sich nur um einen Tag verrechnet, bei der Sache mit dem Radio. Da muss man wahnsinnig aufpassen, verloren ist man schnell.

    Ich muss fast lachen. Das wäre etwas gewesen für die Leute vom Fernsehen. Jedenfalls haben wir daraus gelernt, dass Jahrestage nichts bedeuten. Das Leben rechnet nicht in Tagen. Wir brauchen gar nicht zu triumphieren, haben wir gelernt. Wer von einer Schlacht spricht, hat schon verloren. Manchmal bin ich unerträglich altklug, ich weiß. Aber meistens bin ich ganz normal. Das ist es ja, wir leben fast ganz normal. Das ist es, was ich vorher sagen wollte. Ich weiß nicht, wie es bei euch ist, aber bei uns ist es … Ich freue mich wie ein kleines Kind, wenn eine Schulstunde entfällt, einmal habe ich sogar in die Hände geklatscht. Oder, es ist nicht lange her, da wollte ich einen Film anschauen, im Freiluftkino. Die Vorstellung ist ausgefallen, weil es geregnet hat. Ich bin zwei Tage auf dem Bett gelegen und habe mir leid getan. Wegen so was. Als wäre meine Schwester nie von einem Roboter fortgenommen worden, als wären wir nicht dagesessen und hätten zugeschaut. Manchmal glaube ich, ich habe kein Herz.

    Vor zwei Wochen zum Beispiel, das war so ein Spaß. Mein bester Freund und ich haben bei ihm hinterm Haus einen Joint geraucht.

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