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Henri Nannen Preis 2014: Die besten Arbeiten der deutschsprachigen Presse
Henri Nannen Preis 2014: Die besten Arbeiten der deutschsprachigen Presse
Henri Nannen Preis 2014: Die besten Arbeiten der deutschsprachigen Presse
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Henri Nannen Preis 2014: Die besten Arbeiten der deutschsprachigen Presse

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About this ebook

Seit zehn Jahren vergibt der STERN und das Verlagshaus Gruner + Jahr den Henri Nannen Preis. Er ehrt das Andenken des STERN-Gründers Henri Nannen und er ist Auszeichnung für journalistische Arbeiten, die durch exzellente Recherche und exzeptionelle Darstellung dem Leser einen besonderen Einblick in die Welt verschaffen - aufschlussreich, lehrreich, spannend und vergnüglich.
Das Buch enthält neben den drei besten Arbeiten in den Kategorien Reportage, Dokumentation, Investigation, Essay und Fotoreportage Beiträge zu den Preisträgern Pressefreiheit und Lebenswerk sowie einen Essay von Christoph Schwennicke.
LanguageDeutsch
Release dateMay 17, 2014
ISBN9783652003766
Henri Nannen Preis 2014: Die besten Arbeiten der deutschsprachigen Presse

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    Book preview

    Henri Nannen Preis 2014 - stern / Gruner Jahr

    Inhalt

    Editorial Julia Jäkel

    Trauer um Anja Niedringhaus

    Heißgelaufen

    Ein Essay von Christoph Schwennicke

    PREISTRÄGER

    Die Gewinner des Henri Nannen Preises 2014

    REPORTAGE/EGON ERWIN KISCH-PREIS

    Die Liebe seines Lebens

    Özlem Gezer

    (Der Spiegel, 18. November 2013)

    Im Reich des Todes

    Michael Obert

    (Süddeutsche Zeitung Magazin, 19. Juli 2013/Das Magazin, 27. Juli 2013)

    Die Seeschlacht

    Henning Sußebach

    (Die Zeit, 16. Mai 2013)

    DOKUMENTATION

    Der Tod kommt aus Deutschland

    Amrai Coen, Hauke Friederichs, Wolfgang Uchatius

    (Die Zeit, 12. Dezember 2013)

    Nennt uns bloß nicht Helden!

    Malte Henk

    (GEO, 25. Oktober 2013)

    Im Stich gelassen

    Roland Kirbach

    (Die Zeit, 3. Januar 2013)

    FOTOGRAFIE

    Die Hölle daheim

    Sara Naomi Lewkowicz

    (stern, 16. Mai 2013)

    Im Reich des Todes

    Moises Saman

    (Süddeutsche Zeitung Magazin, 19. Juli 2013)

    Das war hammerhart

    Gordon Welters

    (Chrismon, 27. Juli 2013)

    ESSAY

    Die andere Angeklagte

    Özlem Topçu

    (Die Zeit, 8. August 2013)

    Jan Müller hat genug

    Wolfgang Uchatius

    (Die Zeit, 28. Februar 2013)

    Soll ich wählen oder shoppen?

    Wolfgang Uchatius

    (Die Zeit, 19. September 2013)

    INVESTIGATION

    Kanzler-Handy im US-Visier?

    Jacob Appelbaum, Marcel Rosenbach,

    Jörg Schindler, Holger Stark

    (Spiegel Online, 23. Oktober 2013)

    Der unheimliche Freund

    Jacob Appelbaum, Nikolaus Blome, Hubert Gude,

    Ralf Neukirch, René Pfister, Laura Poitras,

    Marcel Rosenbach, Jörg Schindler,

    Gregor Peter Schmitz, Holger Stark

    (Der Spiegel, 28. Oktober 2013)

    Bushido und die Mafia

    Nora Gantenbrink, Andreas Mönnich, Uli Rauss,

    Hannes Roß, Oliver Schröm, Walter Wüllenweber

    (stern, 18. April 2013)

    Der gerettete Schatz

    Markus Krischer, Thomas Röll

    (Focus, 4. November 2013)

    Die Firma am Waldrand

    Kaija Kutter, Kai Schlieter

    (Taz, 15. Juni 2013)

    PRESSEFREIHEIT

    Henri Nannen Preis für besonders engagiertes Eintreten für die Unabhängigkeit der Presse

    Laura Poitras: Die Frau, die Edward Snowden half, seine Geheimnisse zu enthüllen

    Von Peter Maass

    LEBENSWERK

    Henri Nannen Preis für ein journalistisches Lebenswerk

    Der Brückenbauer: Alfred Grosser

    Von Hans-Hermann Klare

    BIOGRAFIEN

    Die Biografien der Nominierten

    Vorjury

    Hauptjury

    Vorjury – beteiligte Journalistenschulen

    Die bisherigen Preisträger

    Vor- und Endauswahl der Vorjury

    Bildnachweis

    Impressum

    Liebe Leserinnen und Leser,

    wir leben in guten, aufregenden Zeiten für den Journalismus.

    Ja, das ist eine gewagte These. Aber tatsächlich waren die vergangenen Wochen und Monate ein Fest – und das nicht nur für mich, die ich schon von Berufs wegen an die Zukunft des Journalismus glaube, sondern für alle, die großartig recherchierte und geschriebene Geschichten mögen.

    Beginnen wir, wo in früheren Jahren fast immer nur Hiobsbotschaften für Journalisten herkamen: auf dem Markt, im Netz, bei Facebook. Von dem Unternehmen, das manche schon als Sargträger des Journalismus gesehen haben, hört man plötzlich ganz neue Töne: Im Oktober gab Facebook bekannt, der Traffic zu journalistischen Seiten habe sich im Vergleich zum Vorjahr nahezu verdreifacht. Im Dezember änderte man dann den Algorithmus, um Nutzern künftig noch mehr Artikel zu zeigen. Und im März warb man Liz Heron vom WALL STREET JOURNAL ab: »News«, hieß es dazu, seien inzwischen so wichtig geworden, dass man hoffe, mithilfe der Journalistin bald noch engere Bande zu Medienhäusern zu knüpfen.

    Derweil spricht der GUARDIAN von einem »great VC-backed media blitz of 2014« – so heiß sind die amerikanischen Wagniskapital-Fonds plötzlich auf Journalisten. Fast jede Woche wird irgendwo eine neue Redaktion eröffnet. Sogar BUZZFEED, lange der Inbegriff von allem, was im Netz vermeintlich falsch läuft – Kätzchen klicken statt schlauer Schreibe –, baut eine eigene Investigativ-Redaktion auf. »Alle dachten immer«, erklärt der Gründer von BUZZFEED gegenüber dem ATLANTIC, »das Internet sei nur etwas für kurze Schnipsel und noch kürzere Aufmerksamkeitspannen. Aber das ist schwer zu glauben, wenn wir jetzt sehen, dass Leute auf ihren Telefonen mehr als 25 Minuten beim Lesen einer einzigen Geschichte verbringen.«

    So viel zu den Abgesängen der letzten Jahre: die lange Aufmerksamkeitsspanne ist genauso wenig tot wie der Journalismus oder die Investigation. Stattdessen gibt es neue Leser, neue Formate, neues Geld und neue Chancen. Und zwar auch bei uns, in Deutschland – 2013, so raunt es aus der Nannen-Jury, war ein Jahr mit einer beinah unverschämt reichen Lese.

    Die Top-Geschichte, die auch in den hier abgedruckten Texten eine große Rolle spielt, war natürlich die von Edward Snowden. Und das klingt ja auch wirklich wie der Plot aus einem Jason-Bourne-Film: Ein 29-jähriger Systemadministrator stößt bei seiner Arbeit auf Dokumente, die belegen, dass fast jede auf der Welt getane Äußerung – jede E-Mail, jedes Telefonat, jede SMS, jede Internetsuche, sogar die Briefpost – von Geheimdiensten erfasst und ausgewertet wird. Die Frau, die Snowden das geglaubt hat und die der Sache als Erste nachgegangen ist, heißt Laura Poitras. »Sie ist der Kern dieser Geschichte«, erklärte ihr Journalistenkollege Glenn Greenwald dem NEW YORK TIMES MAGAZINE, »und trotzdem weiß keiner etwas über sie.«

    Inzwischen weiß man, dass Poitras so etwas wie der Idealtyp der zeitgenössischen Journalistin ist: gebildet, meinungsstark, mutig – und vielseitig kreativ. Sie war Köchin in guten Restaurants, hat Sozialwissenschaften und politische Theorie studiert, eine Kunstschule besucht und Dokumentarfilme gedreht, von denen einer sogar für den Oscar nominiert war. »My Country, My Country« handelt vom Leben eines Arztes in Bagdad im Jahr 2006 – und damit von einem besetzten, dem Bürgerkrieg überlassenen Land. Ein heikles Thema für eine Journalistin, die aus dem Land der Besetzer kommt.

    Dass man sich mit solchen Reportagen nicht nur Freunde macht, erlebte Poitras danach am Flughafen: Bei jeder Reise, insgesamt über 40 Mal, wurde sie von bewaffneten Polizisten abgeführt und verhört, man kopierte ihre Papiere, beschlagnahmte ihren Computer und ihr Telefon. Gründe dafür nannte man ihr nicht, auch ein Anwalt wurde ihr verweigert. Kein Wunder, dass sie nach dieser Behandlung genau das besitzt, was Whistleblower wie Snowden sich von ihren journalistischen Partnern wünschen: Wissen über das Verstecken und Verschlüsseln von Daten – und eine klare Haltung zum amerikanischen Staat und dessen Sicherheitsorganen.

    Damit wäre die alte Frage beantwortet, ob Journalisten eigentlich immer objektiv bleiben müssen. Natürlich nicht. Wer als Mensch herausgefordert wird, darf auch als solcher Haltung zeigen. Das haben so leidenschaftliche Journalisten wie Henri Nannen immer getan und leidenschaftliche Reporter wie Egon Erwin Kisch sowieso. Heute tut das auch Laura Poitras, die der Pressefreiheit damit einen unschätzbaren Dienst erweist.

    Meiner Erfahrung nach spüren übrigens auch Leser genau, ob Journalisten mit Leidenschaft bei der Sache sind. Ich selbst finde es eine Wonne, in einem Essay in der SÜDDEUTSCHEN über die Reaktionen auf die Snowden-Enthüllungen das Wort »Orwellness« zu entdecken – das ist Leidenschaft für Sprache. Ich finde es unglaublich, wenn der KÖLNER STADTANZEIGER enthüllt, dass katholische Kliniken Vergewaltigungsopfer nicht behandeln, weil sie keine »Pille danach« verschreiben möchten. Das hat so große Empörung erzeugt, dass am Ende sogar die deutschen Bischöfe einlenken mussten. Genauso bewundere ich die leidenschaftliche Geduld, die einen Reporter der ZEIT dazu bringt, viele Monate um das Vertrauen von Polizisten zu werben, die an den Ermittlungen um die NSU-Morde beteiligt waren – bis einer zugibt, die Polizei habe den Täter Uwe Böhnhardt damals wider besseres Wissen laufen lassen. Nicht zuletzt bewundere ich den Mut, mit dem die Kollegen vom STERN den Umtrieben des Rappers und Bambi-Preisträgers Bushido gefolgt sind – wobei sie es sich nicht nur mit einem gewalttätigen Berliner Mafia-Clan, sondern, fast genauso gefährlich, auch mit mehreren Berliner Top-Anwälten verscherzt haben.

    Aber das sind nur einige von vielen Beispielen. Sie zeigen, welcher Journalismus heute gemacht wird – brillanter nämlich, der sich vor dem aus früheren Zeiten alles andere als verstecken muss.

    Der Henri Nannen Preis wurde in der Vergangenheit immer wieder kritisiert. Auch aus so kuriosen Gründen wie dem, dass es Leute gibt, die sich für seine Verleihung gut anziehen. Dazu fällt mir nur das ein: Vor diesen Texten sollte man den Hut ziehen – dafür muss man aber erst mal einen aufhaben.

    Liebe Journalisten – Hut ab!

    Julia Jäkel

    Vorstandsvorsitzende der Gruner + Jahr AG

    »Wenn ich es nicht fotografiere,

    wird es nicht bekannt.«

    Anja Niedringhaus (1965 – 2014)

    Wir trauern um die Fotoreporterin Anja Niedringhaus, die 2010 Mitglied der Jury des Henri Nannen Preises war. Die Trägerin des Pulitzer-Preises wurde am 4. April im Osten Afghanistans ermordet.

    Die Organisation »Reporter ohne Grenzen« zählte 71 hauptberufliche Journalisten, die im Jahr 2013 getötet wurden. Bis zum Redaktionsschluss dieses Buches kamen 2014 bereits acht Reporter in Ausübung ihres Berufes ums Leben.

    Die Einreichungen zum Henri Nannen Preis zeigen Jahr für Jahr, dass Qualitätsjournalismus im deutschsprachigen Raum kein rares Relikt guter alter Zeit ist. Vorjuroren und Juroren haben alle Mühe, aus der Vielzahl der guten und sehr guten Arbeiten die allerbesten auszuwählen, die als herausragend für eine Auszeichnung infrage kommen.

    Doch ist diese eindrucksvolle Zunahme der Quantität von Qualität ein repräsentativer Trend der Printmedien, oder gibt es daneben etwa auch andere, die weniger beglückend sind? Der Chefredakteur von CICERO sieht Anlass für einen selbstkritischen Blick auf die eigene Branche.

    Christoph Schwennicke, geboren 1966 in Bonn, ist Chefredakteur von CICERO und Mitglied der Jury des Henri Nannen Preises 2014

    Christoph Schwennicke

    HEISSGELAUFEN

    Im Prozess gegen den früheren Bundespräsidenten Christian Wulff ging es um dessen etwaiges Fehlverhalten als Ministerpräsident von Niedersachsen. Es ging aber auch um etwaiges Fehlverhalten der Medien. Wenn Wulff nach einem langen und gründlichen Prozess freigesprochen wurde für Korruptionsvorwürfe, die ihn in einem beispiellosen Schauprozess der Medien vorher das höchste Amt im Staat gekostet haben, dann können die Medien nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.

    Denn die Frage lautet: Ist der Freispruch für Wulff ein Schuldspruch für die Medien? Ist das rechte Maß noch gewahrt, wenn Politiker oder Personen des öffentlichen Lebens wegen einer Verfehlung ins Visier geraten? Stehen Ton und Takt noch im Verhältnis zur Sache, um die es geht? War Horst Köhler, noch ein zur Strecke gebrachter Bundespräsident, wirklich ein »Horst Lübke« und deshalb untragbar im Amt des Bundespräsidenten? Musste man seinem Nachfolger Christian Wulff auch noch den Anspruch auf den Ehrensold absprechen? Darf Bischof Tebartz-van Elst keinen Kaffee auf der Piazza trinken, wenn er in Rom auf seine Audienz beim Papst wartet? War Rainer Brüderles dämlicher Ausfall an der Bar wirklich diese Aufregung wert? Was sagt es über unsere Branche, wenn Uli Hoeneß Würstchen an die hungrige Meute vor seinem Haus verfüttert?

    Es läuft etwas schief. Es läuft etwas heiß. Die Medien stehen unter existenziellem ökonomischen Druck, der sie dazu verleitet, traditionelle Tabus fallen zu lassen. In Großbritannien hatte eine Boulevardzeitung auf der Jagd nach exklusiven Storys Mobiltelefone von Politikern und Royals systematisch angezapft. Das Presserecht wird jetzt deshalb dort verschärft. So wie über ein Jahr lang Christian Wulff steht in Großbritannien jetzt Rebecca Brooks vor Gericht. Im Prozess gegen die einstige NEWS OF THE WORLD-Chefin mit der feuerroten Mähne kommen ungeheuerliche Details eines Abhörskandals an den Tag. Brooks Auftritte im Londoner Gerichtssaal Old Bailey geben eine Ahnung davon, mit welcher Skrupellosigkeit diese Frau Leute gehetzt oder gehypt hat.

    Der Blick nach Großbritannien lässt ermessen, was gesellschaftlich auf uns zukommt. Die Bilder des gehetzten Limburger Bischofs in Rom erinnerten an den Fall Kelly. David Kelly war ein britischer Biowaffenexperte und vor zehn Jahren vermuteter Kronzeuge für eine BBC-Geschichte, wonach die Blair-Regierung ein Irak-Dossier wahrheitswidrig aufgemotzt hatte. Der Wissenschaftler sah sich einem enormen Druck durch die Boulevardpresse ausgesetzt. Drei Wochen später lag er tot auf einem Acker. Selbstmord. Nach der Ermordung eines 13-jährigen Mädchen in Großbritannien wurden die Ermittlungen der Behörden massiv behindert. Boulevardjournalisten hörten die Mailbox des Opfers und die Telefone der Eltern ab.

    Sind wir so weit davon entfernt? Haben wir, wenn wir ehrlich sind, nicht leise Furcht vor der Meldung, dass sich Sebastian Edathy eines Morgens etwas angetan haben könnte? Susanne Gaschke, die gescheiterte Oberbürgermeisterin von Kiel, hat nach ihrem Skandal und Sturz ganz offen von Selbstmord-Überlegungen gesprochen.

    Die Klage ist nicht neu. Der bärbeißige Karl Kraus, selbst kein Kind von Traurigkeit, hat die »Preßköter« zu seiner Zeit schon beschimpft, aber seine Zeit war ein Idyll verglichen mit heute.

    Die Erbarmungslosigkeit hat zugenommen, die Vorverurteilung auch. Es geht bei diesem Befund nicht darum, Fehler von Spitzenpolitikern oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu rechtfertigen oder zu verharmlosen. Es geht um die Verhältnismäßigkeit der medialen Mittel, die in der Berichterstattung angewandt werden.

    Und um Ursachenforschung: Wo liegen die Gründe für diesen heißgelaufenen Journalismus, diese Hatz ohne Erbarmen? Hier fünf Punkte als Angebot.

    1.

    Der rasende Takt der Online-Medien gibt Richtung und Tempo vor. Heraus kommt Hochfrequenz-Journalismus, der keine Zeit mehr zum Nachdenken lässt. Es geht zu wie an der Schießbude: Jeder darf mal draufhalten. Es zählen die Clicks, sie müssen generiert werden auf Teufel komm raus. Das verleitet dazu, einen zunehmend härteren, schärferen Ton anzuschlagen. Denn das Grelle klickt, die grelle Meinung klickt. Recherche und Fakten stören. Online wird nur harte Meinung konsumiert, auf den gut geklickten Online-Kanälen sind die Kollegen mehr damit beschäftigt, die klickenden Buzz-Wörter in den Überschriften unterzubringen, als Informationen und Belege für Behauptungen herbeizuschaffen. Der Online-Kommentator stiert bei jedem Artikel hinterher auf die Klickkurve in Echtzeit wie der Flipperspieler auf den erhofften Highscore.

    2.

    Der Tonfall ist in Netzartikeln ein anderer, weil die Leserkommentare den Ton verändern. Die anonymen Horden, die offenbar den ganzen Tag nichts anderes zu tun haben, als Schmutz und Unflat unter den Online-Stücken zu verbreiten, haben eine Rückkoppelungswirkung auf den Ton der Artikel selbst. Nicht auf den des eben gelesenen, aber unbewusst auf den nächsten des Autors.

    Bei Oskar Lafontaine und anderen begnadeten Rednern kann man das Phänomen beobachten, wie sie sich an der Resonanz ihrer Rede berauschen und in diesem Rausch oft hinforttragen lassen zu Formulierungen, die sie im nüchternen Zustand nicht wählen würden. Die anonymen Kommentatoren sind das Auditorium des Online-Autors, und so wie Lafontaine eine tobende Menge bei einem Parteitag über jede Grenze zieht, so besteht diese Gefahr auch beim Online-Feedback. Der Begriff Feedback bedeutet ursprünglich, dass sich ein angeschlagener Ton und sein Widerhall so lange aufschaukeln, bis nur noch ein verzerrter Fiepton aus den Boxen kommt. Dieser Fiepton setzt die unmittelbare Rückkoppelung voraus. Das ist im Online-Journalismus ebenso der Fall wie beim Rockkonzert.

    Weil Print und Online immer mehr amalgamieren, schlägt dieser rüdere Ton auch auf den Printjournalismus durch. Versierte Autoren, die für beide Kanäle schreiben, haben sich zwei Tonarten zugelegt, den etwas feineren Kammerton für Print, den rüderen für Online. Aber das Rüde von Online durchfettet zunehmend auch Print. Der Ton wird allgemein unflätiger.

    3.

    Banal, aber wichtig: Die Personalisierung eines Skandals ist einfacher als die oft komplexe Sache selbst. Die Lust, sich mit den Details zu beschäftigen, hat bei Journalisten und Lesern abgenommen. Worin soll auch der Reiz liegen, mit viel Mühe einen komplizierten Sachverhalt zu recherchieren und zu erklären, wenn sich herausstellt, dass die harschen Kommentare eher goutiert werden? Viel Arbeit, wenig Aufmerksamkeit? Diese Erfahrung konditioniert.

    4.

    Die Fachkompetenz der Journalisten nimmt ab. Als originell gilt der fluffige Schreiber, der zu allem und jedem eine scharfe Meinung hat. Ohne jetzt den guten alten Zeiten nachzuweinen: Es hatte schon seinen guten Grund, dass Kollegen in den Redaktionen sich über einen längeren Zeitraum in ein Sachthema einarbeiten und zunächst die nachrichtliche Berichterstattung übernehmen sollten, bevor sie Kommentare zu diesem Fachthema schreiben durften. Erst wissen, dann meinen war ein hochgehaltenes Prinzip, das sich inzwischen nur mehr bei Zeitungen wie der FAZ und der SZ gehalten hat. Ansonsten ist ein unseliger Trend zu beobachten, wonach Wissen eher schadet, einem schmissigen Urteil nur im Wege steht. Leider hat sich diese Abkehr vom Kompetenzprinzip hin zum (ahnungslosen) Autorenprinzip sogar beim vormals akribischen, detailversessenen SPIEGEL durchgesetzt. Zu dessen großem Schaden.

    5.

    Die Existenznot einer Branche verleitet dazu, bisher eingehaltene Grenzen zu überschreiten. Der bezahlte Journalismus hechelt in bisweilen erbarmungswürdiger Weise zwei wegbrechenden Märkten hinterher: einem schwindenden Anzeigenmarkt und einem schwindenden Lesermarkt. Das hat einerseits zur Folge, dass Anzeigenkunden zunehmend dreister sich das sogenannte redaktionelle Umfeld nach Wunsch maßschneidern lassen. Das führt aber vor allem dazu, dass die Berichterstattung zu einem Wunschkonzert geworden ist. Es gilt das Maoam-Prinzip. Gleich der Werbung eines Kaubonbon-Herstellers rufen die Blattmacher ihren Lesern es so zu wie der Schiedsrichter den Massen im Stadion. »Wollt ihr Elfmeterschießen?« – »Nein!« – »Wollt ihr Verlängerung?« – »Nein!« – »Was wollt ihr dann?« – »Maoam!!!« brüllt das Stadion. Und die Leserschaft, die sich nicht gleich nicht in politikfreiem Eskapismus nach Art der LANDLUST ergeht, möchte Politik als »Brot und Spiele«. Sie möchten blutige Unterhaltung wie seinerzeit im römischen Circus Maximus. Erst werden Opfer ausgeguckt, in die Manege getrieben, dann die Löwen losgelassen.

    Der Prozess gegen Christian Wulff vor dem Landgericht Hannover ist zu Ende gegangen. Der Erkenntnisprozess der Medien hat, wenn überhaupt, erst begonnen.

    Preisträger

    Der stern und Gruner + Jahr gratuliert den Gewinnern des Henri Nannen Preises 2014

    Özlem Gezer

    Reportage/Egon Erwin Kisch-Preis

    Malte Henk

    Dokumentation

    Moises Saman

    Fotografie

    Wolfgang Uchatius

    Essay

    Jacob Appelbaum, Nikolaus Blome, Hubert Gude, Ralf Neukirch, René Pfister, Laura Poitras, Marcel Rosenbach, Jörg Schindler, Gregor Peter Schmitz, Holger Stark

    Investigation

    Özlem Gezer

    DIE LIEBE SEINES LEBENS

    Jahrzehntelang hütete Cornelius Gurlitt in seiner Münchner Wohnung einen Kunstschatz, den sein Vater, ein Kunsthändler, unter zweifelhaften Umständen in der Nazi-Zeit zusammengetragen hatte. Nun spricht er zum ersten Mal

    Das Schlafkleid von Cornelius Gurlitt hatte noch nie jemand gesehen, bis zu jenem Tag, im Februar 2012, als das Schloss durchbrach und sie hineinmarschierten, die Fremden, wie er sie nennt, die Zollfahnder und Beamten der Augsburger Staatsanwaltschaft.

    Seine Wohnung war seine Welt. Aber nun waren die Fremden da, und sie waren viele, vielleicht 30 – und sie blieben. Vier Tage lang wickelten sie sein Leben in Tücher, verpackten es in Pappkartons und trugen es fort, eins nach dem anderen, insgesamt weit über tausend Kunstwerke.

    Währenddessen sollte Cornelius Gurlitt sich in die Ecke setzen und leise sein. Also schwieg Gurlitt und sah, wie sie ihm den Liebermann von der Wand nahmen, die »Reiter am Strand«, die seit Jahrzehnten dort hingen. Den Chagall aus dem verriegelten Holzschrank, die »Klavierspielerin« aus der Diele. Sie ließen nichts zurück. Auch nicht den kleinen Koffer mit seinen Lieblingsbildern, der Papiersammlung, die Gurlitt Abend für Abend ausgepackt hatte, um sie anzusehen, manchmal auch öfter, jahrzehntelang. Jetzt waren sie weg, und Gurlitt war allein.

    Die Einzige, die noch kam, war eine Frau vom psychologischen Beratungsdienst, geschickt von den Fremden. Als »grausam« und »furchtbar« beschreibt er diesen Besuch, bei dem eine Fremde mit Gurlitt über seine Gefühle sprechen sollte. Er wolle sich jetzt nicht umbringen, versicherte er ihr, sie solle wieder gehen.

    Seit jenem Tag ist Cornelius Gurlitt allein in seiner kahlen Wohnung, in dem Wohnhaus mit weißem Anstrich, in jener Stadt, die er sein Gefängnis nennt, München. Und seit das Magazin FOCUS vor zwei Wochen die Beschlagnahmung enthüllte, versammelt sich unten vor seiner Haustür die Weltpresse. Tritt er vor die Tür, beginnt das Blitzgewitter, als wäre er ein Kriegsverbrecher. Ständig klopfen Fremde an seiner Haustür, stecken Briefe durch den Schlitz.

    Die Werke sind ein sensationeller Kunstschatz, Bilder von Marc Chagall, Max Beckmann, Franz Marc, Pablo Picasso und Henri Matisse. Die rätselhafte Sammlung stammt aus dem Erbe seines Vaters Hildebrand Gurlitt, 1956 verstorben, Kunstkritiker, Museumsdirektor, Händler, einer der Männer, die in Deutschland die Kunst der Moderne etabliert hatten und die nach 1933 Geschäfte mit den Nazis machten. Es geht auch darum, ob Hildebrand Gurlitt Unrecht tat, um die Bilder zu bekommen. Wie viele dem Sohn zustehen, wissen zurzeit weder Staatsanwaltschaft und Wissenschaftler noch die Politik, und auch Cornelius Gurlitt weiß es nicht, der nur wegwill von diesem Ort, an dem er der Gejagte ist.

    So viele Bilder, so viele Rätsel. Raubkunst? »Entartete Kunst«? Wem gehören die Bilder? Wie kamen sie in die Wohnung in Schwabing? Und wie geht man um mit allem: mit den Erben, die sie für sich reklamieren? Mit dem Unrecht, das damals geschah? Und mit dem Unrecht, das womöglich heute ihm geschieht, Cornelius Gurlitt, dem Erben einer Sammlung mit zweifelhafter Herkunft?

    Er hat mit seinen Bildern gesprochen, sie waren seine Freunde, jene treuen Begleiter, die es im echten Leben nicht gab. Er betrachtete es als seine Lebensaufgabe, den Schatz seines Vaters zu hüten, im Laufe der Jahrzehnte ist ihm dabei die Wirklichkeit verlorengegangen.

    Vergangenen Dienstag sitzt Cornelius Gurlitt im Mutter-Kind-Abteil eines ICE. Seit der Enthüllung hat er nun das zweite Mal seine Wohnung verlassen, das erste Mal ging er einkaufen und wurde von Fotografen abgeschossen. Zehn Tage lang verbrachte er in seinem nahezu dunklen Wohnzimmer und tat nichts. Er konnte kaum schlafen, sagt er, und wenn doch, überfielen ihn die Albträume. Manchmal schaltete er das Radio ein und wieder aus. Das Einzige, das sie ihm gelassen hatten, war das zerbrochene Türschloss.

    Gurlitt ist auf dem Weg zu seinem Arzt in einer süddeutschen Kleinstadt. Er trinkt Tee aus einer Kaffeetasse, manchmal streicht er sich über sein weiß gewordenes Haar. Drei Tage lang ist er unterwegs, eine traurige Fahrt.

    Er sagt: »Ich bin doch nicht Boris

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