Am Fuß des Kamels: Geschichten & Zwischengeschichten
By Klaus Merz
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Am Fuß des Kamels - Klaus Merz
verbraucht.
Am Fuß des Kamels
1
Eines Morgens erwachte ich mit dem Koffer im Kopf. Ein Dienstmann in blauer Arbeitsschürze hatte ihn mir zwischen die beiden Hirnhälften gestellt und war, ohne ein Trinkgeld abzuwarten, wortlos wieder verschwunden.
Mit meiner angeborenen Scheu vor Reisen und dem leidigen Hang zum Grübeln verstand ich den Koffer schon ins Erwachen hinein – und noch bevor das Telegramm eintraf – als klares Zeichen: Der Träger hatte einen Tumor in meinem Kopf deponiert. Kein Zweifel, ich war an der Reihe, hatte es im Grunde ja schon immer so kommen sehen.
Es war also Zeit, den schäbigen Rest meines Daseins zu ordnen, und ich hätte mich auch sofort an die traurige Arbeit gemacht, wäre da nicht unwillkürlich das Bild einer fernen Karawanserei vor meinem inneren Auge erstanden.
Wobei ich allerdings festhalten muß, daß ich in meinem Leben nie auch nur in die Nähe einer solchen Karawanserei gekommen, geschweige denn als Mitglied eines Kamelzuges, zusammen mit Pilgern oder reisenden Kaufleuten, durch unwirtliche, von raublustigen Völkerstämmen besiedelte Gebiete unterwegs gewesen bin.
Hingegen, und das zuckte wie ein Blitzlicht durch meinen vollgestellten Kopf, bin ich seit Jahren im Besitze eines Schwarzweißbildes, das meinen legendären Onkel unter dem Schirm einer Dattelpalme zeigt. Weitgereist und pausbäckig posiert er auf einem doppelhöckrigen Kamel vor einer Kamelvermietung für das Bild eines fliegenden Fotografen.
Am Fuß des Kamels aber steht unverkennbar Onkels Koffer mit den buntgescheckten Abziehbildern seines Stationenweges quer durch die Welt: Manhattan, Nairobi, Jokkmokk usw.
Der Koffer meines Onkels entspricht dem Bild eines Koffers schlechthin. Und ich stellte erleichtert fest, daß er es war, der in meinem Kopf herumstand.
Mit einem Tumor hatte dieses Gepäckstück nichts zu tun. Ich faßte wieder Mut.
2
Wie wir wissen, ist mein Onkel anno 53, kurz nach dem Überqueren des Roten Platzes und seinem Mausoleumsbesuch, rheumageschwächt und in unseren Breitengraden politisch ziemlich ins Zwielicht geraten, fluchtartig nach Ägypten weitergereist, um auf dem abgebildeten Reittier schnurstracks zwischen den Pyramiden von Giseh hindurch an den Wüstenrand zu pilgern.
Im Schweiße seines Angesichts soll mein Onkel lange in die Steinfelder und sandigen Ebenen hinausgeschaut haben. Bei dieser Gelegenheit muß er übrigens mit seinem Begleiter den Panamahut gegen einen Fes getauscht haben, den er dann auch auf der Fotografie vor der Karawanserei trägt, wo er sich seinen Koffer kurzerhand auf ein Zimmer tragen läßt und drei Tage bleibt.
Die ursprüngliche Glaubensvorstellung der alten Ägypter, die von einer Totenwelt weit im Westen überzeugt waren, weshalb sie ihre Toten „die Westlichen" nannten, hatte meinen Onkel nachdenklich gemacht. An den Tod aber wollte er, im Gegensatz zu mir, seinem Neffen, letztlich nicht glauben und blieb auch weiterhin hartnäckig aufs Leben gefaßt.
Trotzdem hatte mir gerade diese kurze Nachricht seiner Bedächtigkeit, begleitet vom Bild vor der Karawanserei, das an meinen Großvater väterlicherseits adressiert gewesen war, meinen Onkel endgültig lieb gemacht.
Dieser Mann war kein bloßer Luftibus und heilloser Ignorant, als der er in Familienkreisen hinter vorgehaltener Hand immer wieder herumgeboten wurde, auch wenn er meinen Großvater auf dem sandfarbenen Briefbogen mit „Radio" ansprach.
Radio war der erste in unserem Dorf gewesen, der die Welt mit Hilfe seines Detektorempfängers in die gute Stube herein und mittels eines Außenlautsprechers gleichzeitig auf den Dorfplatz hinaustransportiert hatte, wo sein dicklicher Neffe mit großen Ohren gestanden und von der weiten Welt geträumt hatte.
Radio selbst hatte „Radio" bis an sein Lebensende nie als Spottname, sondern immer als Auszeichnung empfunden. Und er freute sich, als sein Neffe, mein Onkel, im Lauf der Zeit einen Ort um den andern, den er nur vom Hörensagen – und seit der Inthronisation von Königin Elisabeth II. mit Blaustich vom Fernsehen her – kannte, tatsächlich gefunden hatte auf der Welt.
3
Drei Jahre nach Giseh weilt mein Onkel dann auf Durchreise im flott herausgeputzten München am Oktoberfest. Seinen weißen Kartonkragen hat er schon neben zwei leeren Litermaßen deponiert und sich im Vorübergehen eine Bierträgerin seines Kalibers angelacht, als plötzlich eine fröhliche Turnerschar aus unserem helvetischen Wohnort ins große Zelt einbricht und auf seinen Tisch zuhält.
Mein Onkel zieht den Fes in die Stirn, greift nach Kragen und Koffer und verläßt den Ort unerkannt, bevor das unvermeidliche Schunkeln an seinem Tisch beginnt.
Er, der schon kurz nach dem Krieg in einer geräumigen Garderobe der Folies Bergeres einer berühmten Negersängerin dreimal die Hand geküßt hat, läßt sich auf die Torheiten hergereister Landsleute begreiflicherweise nicht mehr ein. – Eine Verhaltensweise, die auch mir als einem eingefleischten Ortsansässigen, ich muß das gestehen, aus dem Herzen spricht.
Später kehrt er mit dem Schweißtuch Louis Armstrongs im Koffer aus einer anderen Metropole zurück. Oder wir sehen ihn A La Table Du Roi. Mein Onkel sitzt mit zwei Damen aus der Großen Welt in einer gediegenen Nische des teuren Restaurants. Paris, Januar 57, lautet sein Vermerk auf der Rückseite des Bildes. Der Champagner mit dem Witwengesicht auf dem Etikett ist kühlgestellt. Grönland, sein nächstes Reiseziel, muß warten.
Auf einem anderen Bild im selben Lokal trägt er Schnauz und Bart, Melone. Er prostet als verkleideter Schatzkanzler seiner Königin zu und verwandelt sich im Handumdrehen wieder in den Weltbürger zurück, den er nicht nur darstellt, sondern lebt. Pomadisiert und blaurasiert immer, mit seinen in Gold gefaßten Schneidezähnen.
4
In vorgerückterem Alter, als er von der Welt schon fast alles gesehen hat und auf seinem Reisekoffer kein freier Platz mehr für neue Bilder und Abziehbilder auszumachen ist, betritt der Onkel, ein wenig eigensinnig, wie er im Lauf seiner Zeit geworden ist, die Karawansereien und Speiselokale, die einfachen Gasthöfe und die Fünfsternhotels an seinem Weg, den Koffer nicht aus der Hand gebend, nur noch von hinten.
Er kontrolliert zuerst die Sauberkeit der Toiletten und steht dann unverhofft zwischen den verdutzten Küchenmannschaften, wo er sich jeweils an Ort und Stelle entscheidet, ob er dem Etablissement die Ehre erweisen oder es für alle Zeit meiden will.
Schade, daß er in jenem kalten Winter, festgehalten durch eine unglückliche Reifenpanne im Herzen der Franches Montagnes, wohin man mich am Morgen telegraphisch rief, ausgerechnet dem Koch in Les Enfers so unvorsichtig ins Messer gelaufen war.
Lokaltermin
Ein Hoch auf die Wirtin! – Wer weiß, welcher Winter ihrer Mutter das Ohrläppchen abfror? – Im Kassettenrecorder versteckt sich das Tangoorchester, zwischen Tiefkühltruhe und Radiator spielen die Pensionierten Blatt um Blatt. Die Altersflecken wachsen.
Ein Leben für die Gymnastik, lese ich über die Schulter des fünften Mannes, während sich der hinzutretende Gärtner, bevor er sein Bier hebt, mit der flachen Hand das Efeu aus dem Gesicht fährt.
Erst nach Geschäftsschluß treten die Söhne ins überheizte Lokal, greifen im Stehen nach dem Sitz der Agenden, grüßen die Alten, gießen Wasser zum Wein. Sie ignorieren ihren Jahrgänger ohne Hinterkopf, seine Hand zittert am Glas. Niemand traut seiner Abstinenz, so daß ihm jetzt plötzlich der Schweiß ausbricht und die Söhne noch einmal ans Telefon treten, ein letztes Geschäft abschließen. Aus der Hüfte heraus.
Für den