Nachtreise
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Book preview
Nachtreise - Martin Pichler
Herzog
I.
Leichenfledderer, sagt mein Vater. Totengräber. Am Abend rufen sie an, wollen wissen, wie weit es schon ist. Das ist kein Mitgefühl, erklärt mein Vater. Diese Sensationslust, dieses makabre Interesse. Sie bohren nach, lassen sich nicht abfertigen mit schnellen Auskünften. Mein Vater verwehrt ihnen das Besuchsrecht: Nein, sie ist zu schwach, das strengt sie nur an! Ich werde die Grüße ausrichten.
Das kannst du so nicht schreiben, sagt mein Vater zu mir. Er hält die Manuskriptzettel in der Hand, zuerst hat er noch gelacht, wie auch meine Mutter beim Lesen: Ja, so sage ich immer! Die Wirbelwinder. Dass ich ihr in mancher Sprachnot nützliches Behelfswort zu einer solchen Wichtigkeit erhoben habe, amüsiert sie. Wie eine Umkehrung: Das Alltäglichste wird, einmal zu Papier gebracht, zum Besonderen. Nach der zweiten Seite lacht mein Vater nicht mehr: Es geht um den Urin meiner Mutter, das Blut, die Wunde. So genau müssen die Leute das nicht wissen, ruft er entrüstet aus. Damit sie noch mehr zu reden haben über uns. Meine Mutter winkt ab: Aber es war doch so, genau so und nicht anders. Das ist nun einmal die Wahrheit!, entschuldigt sie, setzt Beweise hinzu, die Zahlen, die Werte. Etwas nach außen tragen, sagt mein Vater mit größter Missbilligung. Meine Mutter gibt die Wahrheit frei, ich darf darüber schreiben. Sie traut dem geglätteten Wort nicht, hasst die Lüge: Sagst du mir schon die Wahrheit?, fragt sie mich, als ich nach dem Gespräch mit dem Arzt wieder ins Zimmer trete, und mit dem Eintreten jener Blick, der mich stellt: Hat er über meine Beine wirklich nichts gesagt?
Noch einmal: Sag die Wahrheit!
Einmal, beim Mittagessen, fällt mein Vater der Mutter ins Wort: Pass auf, was du sagst, unser Sohn schreibt alles mit. Als ich für die Todesanzeige in den Dolomiten die Danksagung an die Ärzte, Krankenpflegerinnen und Klosterfrauen schreiben soll, sagen mein Vater und mein Bruder übereinstimmend: Wozu haben wir sonst einen Schriftsteller im Haus?
Sprache ist Distanz.
Meinst du, du kriegst das hin?, fragt mich mein Vater. Dann spielt er auf die homoerotischen Stellen in meinem Roman an: Oder bist du nur für die Pornographie zuständig?
Wenn andere Leute ihn ansprechen auf meinen Roman, antwortet er: Bis zur Pornographie bin ich gekommen, dann habe ich es aufgegeben.
Mein Vater kehrt von einem entscheidenden Gespräch mit der Ärztin zurück und ruft mir durchs Stiegenhaus das Urteil zu: Sie ist voller Metastasen. Der Satz ist knapp und nüchtern, er wuchert in meinem Kopf. Mein Bruder sagt das andere Wort, Gott sei Dank höre ich es erst am Tag nach Mutters Tod: Sie hat es lange hinziehen können, aber jetzt ist der Krebs explodiert. Diese Worte hätte die Ärztin gebraucht. Die Detonation bebt nach in mir, ich beginne schon zu rechnen, da begreife ich erst: Der Kampf ist vorbei. Ich kann diesen Zwang ablegen, dieses Rechnen im Kopf, das fortwährende Abwägen der Hoffnung. Aber die Wörter erschüttern noch jetzt. Ich habe mich getäuscht: Der Schrecken ist nicht ausgestanden, mit den Wörtern kehrt er zurück und holt mich ein.
Nach ihrem Tod werden die Verliese von Mutters Körper geöffnet. Der Spuk, der dort sieben Jahre lang vor unseren Blicken und Begriffen geschützt sein Schauerwesen getrieben hat, nimmt endlich Gestalt an, wird Wort: eine Explosion, ein Streuen.
Hast du ein Geschwür?, fragt meine Tante Rosi. Fünf Jahre ist es nun her.
Nein, viel schlimmer!, antwortet meine Mutter ihrer ältesten Schwester und hält ihren Arm gegen die Brust gepresst.
Sie hat die Gürtelrose, deshalb dieses Zudecken mit Gewand, dieses Abbinden und Schnüren mit Verbandszeug – erklären mir alle. Und wie beschämend und hässlich der Ausschlag wäre. Danach, nach dem Aufdecken der Wahrheit und Mutters Entblößung, heißt es: Sie hat die Gürtelrose nie gehabt.
Von dem Überfall spricht mein Vater noch heute. Das Wort markiert den Wendepunkt vom hilflosen Zusehen zum gemeinsamen Vorgehen meines Vaters und meiner Tante gegen die Mutter, ihr letztes Mittel, um sie zur Vernunft zu bringen. Bei der Marende am Tag davor sprechen sie sich ab, entwickeln sie eine Strategie, die meiner Mutter keinen Ausweg mehr lassen soll. Mein Vater weigert sich, noch zu paktieren mit Mutters Trotz, längst hält er die Ungewissheit nicht mehr aus. Sie muss zum Arzt gebracht werden, auch gegen ihren Willen. Keine Beschwichtigung von Seiten meiner Mutter bewahrt ihn mehr davor, das Schlimmste zu befürchten: Sie hat etwas. Ihre Drohung, sich etwas anzutun, wenn er einen Krankenwagen ruft, ist schon entschärft durch das, was er mit eigenen Augen sehen kann, gleich an seiner Seite spielt es sich ab, Tag für Tag. Sie braucht nicht erst Hand anzulegen an sich, sie geht auch so zugrunde.
Ihr Zustand verschlechtert sich von Mal zu Mal, da sie sich ihm noch zeigt. Und er ist nicht mehr gewillt, dem hilflos zuzusehen.
Zwei gegen eine, darauf läuft es hinaus. Die Vorstellung, seiner Frau aufzulauern und sie zu stellen wie einen Feind im eigenen Haus, ist ihm zutiefst zuwider. Diese Vorgangsweise ist seinem Wesen völlig fremd, nun ist er dazu gezwungen. Niemand hat ihm gesagt, dass seine Liebe einmal diesen Ausgang nehmen könnte: einen gewaltsamen Schlussstrich zu ziehen unter all die Hypothesen, die Notlügen und das Schweigen. Die Zeit setzt nicht aus, kein Wort stellt Nähe her. Ihm wird kein weiterer Aufschub gewährt.
Wer hätte ihn davor warnen können, dass ihm eines Tages Unmögliches abverlangt würde: seiner Frau Gewalt anzutun, um sie zu bewahren vor ihrem eigenen Willen?
Die Rettung kommt in letzter Sekunde. Hätten mein Vater und meine Tante noch länger zugewartet und sich nicht aus ihrem Bann gelöst, wäre meine Mutter laut Aussage des Arztes wenige Tage darauf erstickt.
Mein Vater erschauert noch heute angesichts der juridischen Schuld, die wir auf uns geladen hätten: Unterlassung von Hilfeleistung.
Und das im eigenen Haus.
Wir hätten belangt werden können. Es ist nicht auszudenken, unser Versäumnis wäre in beschämendster Weise nach außen getragen worden.
Erst nachdem es ausgestanden ist, sieht unsere Sprache großzügig darüber hinweg, übergeht sie den erlebten Schrecken, der in den Einzelheiten steckt.
Die Dolomiten berichten von einer bevorstehenden Grippewelle, die auch Südtirol streifen wird. Mein Vater schaut von der Zeitung auf, richtet sich an meine Mutter mit dem Kosenamen, der schon in meinen Kinderohren seltsame Lautpirouetten geschlagen hat: Gell, Hubbsel, wir waren ein Lebtag lang nie krank. Von einer Grippe wüsste ich nichts. Wir haben beide ein bisschen Krebs, aber sonst fehlt uns nichts!
Meine Mutter rügt Vaters Blasphemie, man nimmt dieses Wort nicht ungestraft in den Mund.
Am besten überhaupt nicht.
Wird es nicht Wort, wird es nicht Fleisch. Wuchernde Zellen.
In der Ankündigung einer meiner Lesungen steht im letzten Satz das Wort Krebserkrankung. Meine Mutter liest den Abschnitt, faltet die Zeitung: Schön, was da steht, nur der letzte Satz gefällt mir nicht. Später, als meine Mutter wieder in der Klinik ist, finde ich den Artikel ausgeschnitten in ihrem persönlichen Telefonbuch. Bis zuletzt legt sie diese Angewohnheit nicht ab, alles auszuschneiden, was ihr Freude macht, und es zu sammeln: in Schrankkästen Abgelegtes, auf die Innenseiten der Türchen Aufgeklebtes. Immer dort, wo dieses Wort auftaucht, zwischen den Zeilen, zwischen den Bildern, zwischen den Sätzen, wird ihr erneut der Blick in den Spiegel abverlangt: Ich höre auf das Wort, auch gegen meinen Willen.
Sie kennt das gut, was sie da zu sehen bekommt. Zwei Jahre lang hat sie, unerkannt von uns, vor den Spiegeln geübt, hat sich hingestellt und getan wie blind. Die Augen hielten den Blick: Am linken Scheitel stand vielleicht das Haar etwas ab, der unter den Wasserhahn gehaltene Kamm fuhr durch den widerspenstigen Schopf und zähmte ihn. Die feinen Haare aber, die sich in den Zähnen des Kamms verfingen, beim ersten Durchziehen schon, die registrierten ihre folgsamen Augen nicht. Ihre Finger ließen das Büschel ins Abflussrohr gleiten, sie spülten Wasser nach und zitterten nicht bei ihrer alltäglichen Verrichtung. Ließ ihre Konzentration jedoch nach, öffnete sich ein Spalt in dem gewollten Dunkel und ein Bild drang ein. Sogleich war die Gedankenkette nicht mehr zu stoppen im Kopf. Meine Mutter erkannte die Symptome und untrüglichen Zeichen: Es ist wahr.
Parallel zu der von ihr selbst erschaffenen und täglich neu ins Leben gerufenen imaginären Welt gab es diese unanfechtbare Logik des Tatsächlichen.
Die Briefe von der Südtiroler Krebshilfe wandern ungelesen in den Schürkasten. Als ich ihr einen in die Klinik bringe, sieht sie schon am Absender: Ah, das ist nichts, das kannst du wegwerfen. Mein Vater entnimmt dem Postkasten einen ähnlichen Brief: Den händige ich der Mutter nicht aus, mit denen will sie in keinster Weise in Verbindung gebracht werden.
Mein Vater kennt diese Scham vor dem Wort nicht. Jahre vor Mutters Erkrankung sagt er leichtfertig: Ich muss zu einer Kontrollvisite in die Klinik und schauen, was mit meinem Krebs los ist. Ein Aussprechen gegen die Angst. Das Ergebnis ist negativ. Und doch behält mein Vater in seinen Reden das Possessivpronomen auch weiterhin bei. Ja, ich habe auch einen Krebs, sagt er in der Küche zu mir: Die Prostata-Werte sind erhöht. Meine Mutter ist zu dieser Zeit bereits in der Klinik, sie bekommt von unserem Gespräch nichts mit. Dann schüttelt mein Vater den Kopf, als wäre alles nur ein Scherz gewesen, und lässt mich ohne ein weiteres Wort der Erklärung allein in der Küche zurück.
Martin, reich mir die Toilettentasche, bittet mich meine Mutter, hält das o und das i gleich lang. Oder: Reich mir meinen Onkologierucksack.
Schwester Veronika ruft aus der Klinik an: Von nun an sollte immer jemand bei ihr sein. Der Satz markiert einen Wendepunkt. Die Hoffnung auf Aufschub wechselt endgültig in eine Hoffnung auf einen schnellen, schmerzfreien Tod. Die Sätze liegen schon bereit, nun gelten sie auch für uns. Nicht wir machen Gebrauch von ihnen, nein, es scheint umgekehrt zu verlaufen. Sie treten in Kraft wie ein Gesetz.
Unter ihrer Jurisdiktion stehen wir jetzt.
Am letzten Tag ihrer Bewusstheit, als Vater hereinkommt und mich ablöst, sagt sie unter Tränen: Es wird nicht mehr. Es wird einfach nicht mehr mit mir. Diesen Ausdruck verwendet sie gewöhnlich für Pflanzen, die trotz ihrer besonderen Pflege eingehen. Ich bin überrascht darüber, dass sie so offen mit meinem Vater spricht, merke wieder die Unterschiede zwischen mir und ihm, da Mutter und ich im Laufe meines Besuchs einander geflissentlich über die Tatsache hinwegbetrogen haben, dass sich ihr Zustand arg verschlechtert hat. Ich will den Trug aufrechterhalten und aus dem Zimmer gehen, da spricht meine Mutter es aus, während mein Vater sich vorbeugt zu ihr und sie begrüßen will: Es wird nicht mehr. Es ist wie ein unverstellter Blick in die Intimität meiner Eltern, der sich plötzlich auftut vor mir. Ich werde Zeuge einer in langen Jahren gewachsenen Vertrautheit, die gewöhnlich hinter Türen verborgen gehalten wird. Es gibt eine besondere Verbundenheit zwischen meinem Vater und meiner Mutter, in die ich als Sohn niemals Einblick bekommen habe.
Wenn wir es zu diesem Zeitpunkt auch nicht wissen, es stehen uns nur noch wenige Worte zur Verfügung. Auch deshalb ist mir Vaters Antwort im Rückblick immer wichtiger geworden:
Ja, eben, sagt mein Vater. In seinem Ton klingen Erbarmen mit und Resignation.
Nach all dem Ringen gibt es nun nichts mehr zu tun, die Mittel sind erschöpft. Mein Vater setzt sich zu ihr, wie er sich an jedem vorangegangenen Abend an ihre Bettseite gesetzt hat, und schweigt.
Wir können nur noch warten, zusehen, wie alles seinen unumkehrbaren Lauf nimmt.
Ich schließe Mutters Zimmertür leise hinter mir. Vaters Antwort geht