Mit psychisch kranken Menschen in Beziehung sein
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Wilfried Veeser
Pfarrer Wilfried Veeser, Trainer und Coach; verheiratet und Vater von vier erwachsenen Kindern. Er ist Fachlicher Leiter der Bildungsinitiative für Seelsorge und Lebensberatung (bildungsinitiative.net). Neben seiner Tätigkeit als Pfarrer in Dettingen unter Teck ist er Trainer für Führungspersönlichkeiten (inbus-institut.de) sowie Ehe- und Familienberater in eigener Praxis (veeser.net).
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Mit psychisch kranken Menschen in Beziehung sein - Wilfried Veeser
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
1. Einleitung
Psychische Störungen kommen viel häufiger vor, als man gemeinhin denkt. Und es gibt das Phänomen, dass sie nach wie vor in der Gesellschaft wenig akzeptiert werden. Das eingegipste Bein nach dem Unfall auf der Skipiste ist salonfähig. Man sammelt sogar Autogramme darauf. Eine Depression ist weniger attraktiv.
Peter ist 22 Jahre alt und seit ca. fünf Jahren psychisch krank. Er leidet an einer schweren Depression. Peter musste schon zwei Ausbildungen abbrechen und brachte bereits einen Aufenthalt in der Psychiatrie sowie acht Wochen in einer psychotherapeutischen Rehabilitationsklinik hinter sich. Im Moment besucht er ambulant eine psychotherapeutische Behandlung. Seine Eltern sind sehr besorgt und verbittert. Sie können nicht verstehen, warum es für Peter keine wirkliche Hilfe gibt. Und der Hinweis des Hausarztes, dass Peter womöglich ein weiterer Aufenthalt in der Tagesklinik bevorstehen könnte, belastet sie sehr.
Kathy ist 45 Jahre alt und war schon immer etwas »ängstlich«, wie ihr Mann sagt. Doch seit ca. einem Jahr haben sich ihre Panikzustände so verschlimmert, dass sie kaum noch das Haus verlässt. Allein die Vorstellung, einkaufen zu gehen oder sich mit Freunden in einem Café zu treffen, lösen diese Ängste aus. Ihr Mann weiß sich nicht mehr zu helfen. Zum Glück war Kathy bereit, jetzt wenigstens einen Facharzt aufzusuchen.
Seit der Geburt ihres dritten und letzten Kindes vor einem Jahr hat sich Johanna sehr verändert. Immer wieder entwickelt sie Vorstellungen und Verhaltensweisen, welche laut Hausarzt einer Psychose entsprechen. Er schreibt eine Überweisung in eine psychiatrische Klinik. Erwin, Johannas Mann, hat jetzt große Sorgen, was da alles auf seine Frau und auf die ganze Familie zukommen könnte. Er sei »ziemlich durch den Wind«, wie er sagt, und fragt in seiner Gemeinde nach einem Berater, der ihm hier vielleicht weiterhelfen kann.
Voller Entsetzen berichten Paul und Annette, dass sich ihre 14-jährige Tochter offenbar regelmäßig ritzt. Bisher gingen sie davon aus, dass Julia bestens im Teenager-Kreis integriert sei. Doch nachdem sie von der Leiterin dieses Kreises gefragt wurden, ob ihnen am Verhalten ihrer Tochter etwas aufgefallen sei, schaute Annette aufmerksamer auf das Verhalten ihrer Tochter. Und tatsächlich. Sie sah plötzlich die kleinen Narben am linken Arm und eine frische Verletzung am rechten.
Immer wieder machen Betroffene und ihre Angehörigen dieselbe Erfahrung, auch in christlichen Gemeinden. Eine psychische Erkrankung wird wenig akzeptiert. Sie löst vielmehr Unverständnis und Hilflosigkeit aus. Immer noch werden in manchen christlichen Gemeinden psychische Störungen »dämonisiert«, d. h., unmittelbar der Wirkung des Teufels zugeschrieben. Die Not der Betroffenen wird dadurch nicht weniger, im Gegenteil. Betroffene werden stigmatisiert und manchmal trifft dies sogar ihre Angehörigen.
Dass es auch anders geht, zeigen andere christliche Gemeinden. Sie haben sogenannte »Gemeinschaftsteams« und »Care-Teams« entwickelt, durch die sie ihren betroffenen Mitgliedern und deren Angehörigen gezielt Hilfe durch beziehungsorientierte Begleitung anbieten. Sobald sich verunsicherte Menschen ihren Fragen stellen und sich z. B. durch Literatur und Fortbildungen informieren, wird es für sie leichter und geht es entspannter zu. Dann gelingt es, Betroffene in das Miteinander einer Gemeinde, einer Gemeinschaft, einer Familie oder eines Hauskreises zu integrieren. Dies ermöglicht ihnen, am gemeinsamen Leben zu partizipieren.
Dieses Buch nimmt zwar psychisch kranke Menschen und ihre Angehörigen besonders in den Blick, doch eine ähnliche Unsicherheit findet sich auch im Umfeld von chronisch kranken Menschen, einsamen, alten, behinderten, gescheiterten, geschiedenen Menschen und all jenen, die nicht zum christlichen Ideal oder zum Mainstream der Gemeinde passen. Sie haben es schwer, sich in einer christlichen Gemeinde zu beheimaten oder beheimatet zu bleiben.
Einzelne Menschen überwinden ihre Unsicherheit und wenden sich psychisch erkrankten Menschen zu, unterstützen sie und wollen plausible Gesprächspartner für sie sein. Für diesen Einsatz finden sie nicht immer einen tragenden Rückhalt in ihrer eigenen Gemeinde.
Beziehungsorientierte Gemeindearbeit wird schnell bejaht, solange man mit den längst vertrauten Menschen in Beziehung bleiben kann und sich Fremden nicht zuwenden muss. Das große Herzeleid von Angehörigen, die psychisch kranke Menschen in der Klinik oder zu Hause haben, wird oft erst dann spürbar, wenn man selbst vom Beobachter zum Betroffenen wird. Dabei könnte Gemeinde eine Art »Großfamilie« sein, die diese Beziehungsorientierung im Miteinander schafft.
Dieses Buch will zeigen, wo Vorbehalte gegenüber psychisch kranken Menschen und ihren Angehörigen bestehen und wie sich eine christliche Gemeinde konstruktiv zu einer beziehungsorientierten Gemeinde entwickeln kann.
Wenn ein Mensch an einer psychischen Beeinträchtigung, Störung oder Behinderung leidet, verändert sich sein Verhalten. Waren bisher Fröhlichkeit, Eigenständigkeit und Fleiß markante Kennzeichen dieses Menschen, werden nun aufgrund der psychischen Störung z. B. Traurigkeit, Unsicherheit oder Antriebslosigkeit spürbar. Das irritiert Angehörige, Kollegen, Nachbarn oder Freunde im Verein.
Und wenn ein Betroffener in die akute Phase z. B. einer Schizophrenie gerät und plötzlich bedrohliche Stimmen hört, Dinge sieht, die die anderen nicht wahrnehmen, sonderbare Gedankengänge an den Tag legt oder sich überall verfolgt, beobachtet oder belauscht fühlt, sind Angehörige und andere Nahestehende stark verunsichert. Erlebt man dies aus nächster Nähe, macht es betroffen.
Das vorliegende Buch will Angehörigen für den Umgang mit psychisch Erkrankten Orientierung geben und Gemeinden Ideen vorlegen, wie sie Betroffene besser in ihr Miteinander integrieren können. Sind die eigenen Bilder von psychischen Störungen bisher eher angstbesetzt oder bedrohlich, ist dies vermutlich nicht einfach. Umso wichtiger ist die Bereitschaft, den vorliegenden Informationen offen zu begegnen.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
2. Informationen
Wer mit dem Thema »Psychische Erkrankungen« in Berührung kommt, begegnet unterschiedlichen Begriffen. Für manche, die in meiner Praxis Hilfe suchen, ist zunächst unklar, was Psychologen³, Psychotherapeuten, Psychiater, Berater oder Heilpraktiker eigentlich sind und worin deren berufliche Tätigkeit besteht. Daher sollen an dieser Stelle zunächst die zentralen Begriffe vorgestellt und geklärt werden, die für das weitere Verständnis wichtig sind. Ebenso soll ein besseres Verständnis für die jeweilige Tätigkeit geweckt werden.
2.1 Definitionen
2.1.1 Was ist »psychisch krank« oder eine »psychische Störung«?
Darunter versteht man in der Regel eine auffallende Abweichung von der Norm im Blick auf das Verhalten und Erleben des Menschen. Üblicherweise tangiert eine solche Störung das Denken, Fühlen und Handeln des Menschen. Dies hat unterschiedlich stark erlebtes Leid zur Folge.
Die Formulierungen »psychische Erkrankung« und »psychische Störung« werden in diesem Buch synonym verwendet.
Fragt man nach den Ursachen psychischer Störungen, so ist die wichtigste Einsicht: Es gibt nicht eine Ursache alleine. Meist sind es verschiedene Ursachen (Multikausalität). Selbst wenn womöglich eine Ursache im Vordergrund steht, z. B. ein Stoffwechselproblem des Gehirns, gibt es in der Regel noch andere Auslöser (z. B. Stress im Umfeld).
Manchmal tragen Menschen eine sogenannte Prädisposition, d. h. eine gewisse Empfänglichkeit in sich, die unter bestimmten Umständen relevant werden kann, bei anderen jedoch nicht zum Tragen kommt. Ursachen können auch in der frühen Kindheit liegen, in negativen Erziehungsstilen seitens der Eltern, in psychischen Verletzungen aufgrund mangelnder Bindung oder durch körperliche, sexuelle oder psychische Gewalt. Auch Schwierigkeiten bei der Geburt, wie etwa Sauerstoffmangel, können sich schädigend auf die Funktionsweisen des Gehirns auswirken und später in der Biografie nachwirken.
Viele Betroffene möchten mögliche Ursachen ihrer Erkrankung verstehen. Einfache, absolute Aussagen sind aber meist unangebracht. Einen wichtigen Platz hat hier die sogenannte Psychoedukation (z. B. Aufklärung über psychische Störungen und ihre Zusammenhänge). Entscheidend ist jedoch, dass es zu einer qualifizierten Behandlung kommt.
Die Angehörigen sind von einer Erkrankung mit betroffen, da sie in einer mehr oder weniger nahen Beziehung zu dem Menschen stehen, der dieses abweichende Verhalten zeigt.
2.1.2 Was ist eine psychische Behinderung?
Sobald der Begriff »Behinderung« offiziell genannt wird, kommt ein ganzer Gesetzeskatalog zur Definition und zum Umgang damit zum Tragen:
So heißt es in § 2 Abs. 1 im Sozialgesetzbuch IX Behinderung:
»Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.«
Es kommt also vor allem auf die Dauer der psychischen Erkrankung an. Früher wurden Betroffene »Chroniker« genannt.
Nach den gesetzlichen Bestimmungen gilt diesen Betroffenen ein besonderer Schutz in unterschiedlichen Bereichen, z. B. als Arbeitnehmer, beim Arbeitsschutz, in der Rentenversorgung usw.
2.1.3 Was ist Seelsorge?
Seelsorge wird heute nicht mehr einheitlich als eine christliche oder geistliche Aufgabe verstanden. Auch das säkulare Gespräch über Ziele, Sinn und Gestaltung des Lebens ist für viele Menschen und auch Psychotherapeuten ein Synonym für Seelsorge (vgl. z. B. Telefonseelsorge). Christliche Seelsorge muss deshalb ihr spezifisches Profil immer neu suchen und reflektieren.⁴
Christliche Seelsorge nimmt entsprechend des biblischen Wirklichkeitsverständnisses den Menschen nicht nur vor dem Hintergrund der sichtbaren Welt, sondern auch vor dem Hintergrund der unsichtbaren Welt Gottes (und des Feindes Gottes) wahr. Durch die Rebellion des Menschen gegen Gott (so eine Beschreibung des Verhaltens von Adam und Eva im Paradies; vgl. 1Mo 3) ist die ganzheitliche Beziehung zwischen dem Schöpfer und seinem Geschöpf zerbrochen. Jeder Mensch hat als Geschöpf Gottes eine Geschichte mit diesem Schöpfer, auch wenn er diese Geschichte nicht bewusst wahrnimmt und auch keine bewusste Beziehung zu Jesus Christus lebt (vgl. den 2. Artikel im Apostolischen Glaubensbekenntnis). Die Wiederherstellung dieser Beziehung ist das zentrale Thema der Bibel. »Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren. Ohne es verdient zu haben, werden sie gerecht, dank seiner Gnade, durch die Erlösung in Christus Jesus« (Röm 3,23f; EIN; siehe auch Röm 5,1).
Der Fokus christlicher Seelsorge liegt gemäß ihres geistlichen Anliegens u. a. auf Fragen der Bewusstmachung, Wiederherstellung und Gestaltung der Beziehung zu Gott. Sie nimmt aber auch ganz menschliche Funktionen wahr: beistehen, zuhören, nahe sein, verstehen, unterstützen, begleiten, trösten. Insofern hat Seelsorge eine bewusst begleitende und emotional stützende Funktion.
Christliche Seelsorge hat u. a. zwei sinnstiftende Ziele, die je nach Absprache mit dem Gesprächspartner und seiner Situation zum Tragen kommen können, indem sie Menschen das zuspricht (und sie damit tröstet), was ihnen von Gott her gilt und sie für sich in Anspruch nehmen:
1. Menschen, die als Christen leben, vergewissert Seelsorge in ihrer Beziehung zu Gott. Sie zeigt ihnen die Hoffnung des Glaubens auf und spricht Fragen des geistlichen Lebens sowie der Lebensbewältigung an.
2. Menschen, die sich nicht als Christ verstehen, spricht Seelsorge das zu, was allen Menschen gilt: Die Liebe Gottes, seine Zuwendung, seine Schöpfung, seine Sehnsucht nach dem Menschen, die Ebenbildlichkeit Gottes. Diese Seelsorge ist wie eine ausgestreckte Hand Gottes, mit ihm bewusst in Kontakt zu kommen, von dieser Gotteserfahrung her sich selbst und auch die Dinge des Lebens neu einzuordnen.
Christliche Seelsorge unterscheidet zwischen Gesetz und Evangelium. Für die Frage, was den Menschen vor Gott rechtfertigt, bedeutet dies Folgendes: Nicht das Einhalten von Gesetzen oder Regeln bringt den Menschen in den Himmel, sondern Gott, der uns mit sich versöhnt.
Der Glaube vertraut seiner Zusage: Fürchte dich nicht! Ich habe dich erlöst und dich angenommen, wie du bist.
Eine Beschränkung oder Engführung seelsorgerlichen Handelns ausschließlich auf Glaubenshilfe greift zu kurz, weil der Mensch immer ganzheitlich zu sehen ist. So schließt auch der Anspruch Gottes an den Menschen Glauben und Leben gleichermaßen mit ein; Seelsorge ist beides, Glaubens- und Lebenshilfe. Jeder Mensch lebt in mehrfachen Bezügen: zu Gott, zu sich selbst, zu anderen Menschen, zur Schöpfung, zur Technik, zum Beruf. So steht Seelsorge grundsätzlich vor der Aufgabe, neben theologisch-geistlichen Gesichtspunkten auch das Menschliche, das Verhalten und Erleben, Aspekte der Persönlichkeit und der Umwelteinflüsse wahrzunehmen und darauf einzugehen.
2.1.4 Was ist Lebensberatung?
Lebensberatung ist ein vom Berater nach methodischen Gesichtspunkten gestalteter Problemlöseprozess, durch den die Eigenbemühungen des Ratsuchenden unterstützt und optimiert bzw. seine Kompetenzen zur Bewältigung der anstehenden Aufgaben und Probleme verbessert werden.
Mit christlicher Lebensberatung wird seitens der Bildungsinitiative für Prävention, Seelsorge und Beratung die ganzheitliche Betrachtungsweise verstanden, welche die geistliche Dimension in den Beratungsprozess mit einbezieht, sofern der Ratsuchende dies für sich und seine Problem- oder Konfliktbewältigung wünscht.
Im Unterschied zur Psychotherapie übernimmt der christliche Lebensberater nicht die Verantwortung für einen Heilungsprozess bei Erkrankungen, dafür jedoch für seine Interventionen im Rahmen der Lebensberatung. Die Einwirkung ist am Einzelproblem und an den Ressourcen des Klienten orientiert (insgesamt an seinem »Auftrag«) und belässt konkrete Maßnahmen in seiner Verantwortung. Übertragungs- und Gegenübertragungselemente werden nicht gezielt eingesetzt. Übertragungs- und Widerstandsphänomene sind den Lebensberatern zwar bekannt und werden bewusst wahrgenommen, sie sollen aber nicht als Instrumente des Einwirkens dienen. Vielmehr orientiert sich die Kommunikation am symmetrischen Dialog. Die zwischen Helfern und Hilfesuchenden immer vorhandene Asymmetrie der Beziehung beschränkt sich auf Hintergrundwissen und auf einzelne Methodenschritte, die zielorientiert vorgeschlagen werden können.
Ein christlicher Lebensberater kürzt den Weg der Selbsthilfe ab. Er stellt im Dialog Wissen und methodische Ansätze problem- und ressourcenorientiert zur Verfügung, die man mit höherem Aufwand – und bei hinreichendem Bildungsstand – auch aus der allgemein zugänglichen Literatur oder in Selbsthilfegruppen erhalten könnte. Der Nutzen für die Klienten liegt darin, dass die zeitliche Dauer und der Aufwand, Lösungen zu finden, mithilfe einer seelsorglichen Lebensberatung gesenkt werden können. Das Problem kann transparenter werden, die Selbst- und Problemwahrnehmung kann Struktur erhalten.
2.1.5 Was ist Psychologie?
Psychologie ist allgemein als die Wissenschaft vom Verhalten und Erleben des Menschen und seiner rückbezüglichen Erfahrung definiert. Sie macht menschliches Verhalten unter bestimmten und bekannten Bedingungen statistisch vorher- und voraussagbar. Psychologie ist eine empirische Wissenschaft, die bekannten methodischen Regeln empirischen Forschens folgt. Teilgebiete sind u. a.: Persönlichkeitspsychologie, Sozialpsychologie, Lernpsychologie, Entwicklungspsychologie, allgemeine Psychologie (Sprache, Denken, Gedächtnis, Motivation, Emotion), angewandte Psychologie (Psychodiagnostik, klinische Psychologie, Arbeits- und Organisationspsychologie, pädagogische Psychologie).
Sie kennt komplexe Methodenlehren und Methodenschritte. Dazu gehören: Verhaltensbeobachtungen, Felduntersuchungen, Befragungen, Interviews, Tests, Experimente, statistische Berechnungen.
Auch heute noch verstehen manche Menschen die Psychologie fälschlicherweise als Lehre von der Seele. Daher halten sie Psychologen immer noch für eine Art Seelenforscher und bringen damit fast ausschließlich tiefenpsychologische oder psychoanalytische Ansätze in Verbindung (vgl. S. Freud oder C. G. Jung). Dies entspricht aber nicht mehr dem Selbstverständnis der psychologischen Wissenschaft.
2.1.6 Was ist Psychotherapie?
Allgemein kann man formulieren: Psychotherapie setzt gezielt psychologische Erkenntnisse im Rahmen eines Therapieplanes zur Behandlung psychisch erkrankter Menschen ein. Dies setzt eine Krankheitsdiagnose voraus. Psychotherapie stellt somit eine Heilbehandlung dar, die – wie alle Heilbehandlungen – gesetzlich geschützt ist. Die Effekte psychotherapeutischer Schritte hängen von bestimmten Wirkfaktoren ab (vgl. dazu 3.3.4).
Es gibt eine Vielzahl von psychotherapeutischen Ansätzen (Verhaltenstherapie, Gesprächspsychotherapie, tiefenpsychologische Ansätze, Gestalttherapie usw.). Von den Krankenkassen werden in der Regel folgende bezahlt: Verhaltenstherapie, Tiefenpsychologie, Psychoanalyse – neben einigen wenigen Ausnahmen.
Für die Bezahlung der Behandlung einer psychischen Erkrankung durch eine Krankenkasse müssen verschiedene Bedingungen erfüllt sein:
Ein Psychotherapeut muss ein akademisches Studium abgeschlossen haben und eine mehrjährige Zusatzausbildung nachweisen. Als Studiengänge kommen in Frage: Medizin und Psychologie für die Ausübung von Psychotherapie an Erwachsenen; Pädagogik oder Sozialpädagogik für die Ausübung von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie.
Es ist zwar möglich, dass man auch mit anderen Studienabschlüssen (Theologie, Biologie usw.) eine psychotherapeutische Zusatzausbildung absolvieren kann, doch berechtigt dies nicht zur kassenärztlichen Zulassung als niedergelassener Psychotherapeut. Angehörigen solcher Berufsgruppen oder auch Menschen, die ohne Studium eine psychotherapeutische Grundausbildung absolviert haben, steht das Zulassungsverfahren zum Heilpraktiker auf dem Gebiet der Psychotherapie zur Verfügung. In diesem Fall ist die Abrechnung über Kassen in der Regel nicht möglich.
2.1.7 Was ist Psychiatrie?
Psychiatrie ist eine medizinische Fachwissenschaft. Sie erforscht, diagnostiziert, therapiert und lindert psychische Erkrankungen. Viele psychische Erkrankungen sind organisch mitbedingt bzw. erfordern eine organische Mitbehandlung: Schizophrenien, wahnhafte Störungen, bipolare (manisch-depressive) Störungen, schädlicher Substanzgebrauch (wie bei der Alkoholerkrankung) und vieles mehr.
Oftmals ist eine ausschließlich psychotherapeutische Behandlung bei diesen Erkrankungen wenig hilfreich oder kontraindiziert, d. h. sie darf bzw. sollte nicht angewendet werden. Durch die ärztliche Behandlung und den Einsatz von Medikamenten können Symptome der psychischen Erkrankung gelindert oder geheilt werden. Erst dadurch werden Patienten für psychotherapeutische Verfahren wieder zugänglich.
Teilgebiete der Psychiatrie sind u. a.:
• Psychopathologie (die Lehre von psychischem Leiden, krankhaftem Verhalten und Erleben).
• Psychopharmakologie (sie untersucht die Effekte von Wirkstoffen auf das Nervensystem mit seinen Stoffwechselprozessen und auf das Verhalten und Erleben des Menschen).
• Hirnbiologie und Hirnphysiologie (sie beschäftigen sich insbesondere mit Prozessen und Vorgängen in dem Organ Gehirn).
• Forensische Psychiatrie (sie beschäftigt sich mit Rechtsfragen bei psychischen Erkrankungen, z. B. mit der Frage einer womöglich eingeschränkten Willensfreiheit des Menschen).
• Kinder- und Jugendpsychiatrie (sie erforscht, diagnostiziert und behandelt psychische Erkrankungen vom Säugling bis zum jungen Erwachsenen).
• Gerontopsychiatrie (sie beschäftigt sich mit psychischen Erkrankungen insbesondere des alternden Menschen).
• Sozialpsychiatrie (sie beschäftigt sich mit soziologischen Fragestellungen und dem Vorkommen von psychischen Erkrankungen).
Vielfach und gerade bei schweren psychischen Störungen (s. o.) müssen Seelsorge, Beratung und Psychotherapie mit einem Facharzt für Psychiatrie bez. einer möglichen Diagnostik und Medikation zusammenarbeiten.
2.1.8 Was ist eine Lebenskrise?
Das Wort Krise stammt ab von dem griechischen Wort »krisis« und meint Entscheidungspunkt, Resultat oder auch gerichtliche Entscheidung.
Lebenskrise beschreibt einen Punkt, an dem sich etwas zuspitzt und anders wird im Vergleich zu dem, was vorher war. Dies kann für den Betroffenen Gefahr bedeuten, aber zugleich auch Chance. Auf jeden Fall müssen Betroffene lernen, mit einer neuen Situation umzugehen und sich an diese anzupassen.
Die bisherigen Möglichkeiten, Situationen mit viel Stress und Herausforderungen zu bewältigen, sind ausgereizt. Was sich ereignet hat, ist für den Menschen so schwerwiegend, dass er neue Möglichkeiten der Bewältigung und Anpassung entwickeln muss (z. B. beim Verlust eines nahestehenden Menschen). Seine bisherigen Lebenseinstellungen, Bewältigungsmethoden oder Lebensmuster sind an ihre Grenzen gekommen. Dies geht oft mit der Erfahrung von Scheitern, Zerbruch, Niederlage und Orientierungslosigkeit einher. Es eröffnet sich aber auch die Chance, zu wachsen und zu reifen und neue Wege zu entdecken.
Auslöser für solche Krisen können die Wechselfälle des Lebens sein (akzidentielle Krisen), Lebensübergänge (entwicklungsbedingte Krisen) oder Beziehungskonflikte (Beziehungskrisen).
Krisen sind keine psychischen Erkrankungen. Menschen können jedoch aufgrund von Krisen psychische Störungen entwickeln.
2.1.9 Zur Unterscheidung von Seelsorge, Beratung und Psychotherapie/Psychiatrie
Seelsorgliche Begleitung, Lebensberatung und Psychotherapie/Psychiatrie unterscheiden sich u. a. wesentlich im Auftrag, den der Betroffene, der sachgemäße Hilfe sucht, erteilt. Aufträge können sein:
• Hilf mir, meine Not auszuhalten (= Seelsorge).
• Hilf mir, meine Möglichkeiten zu nutzen (= Beratung).
• Mach du mich gesund (= Psychotherapie/Psychiatrie).
Ein Seelsorger hat demnach die Aufgabe, sich dem ratsuchenden Menschen zuzuwenden, durch Fragen zu verstehen und diesem Menschen durch die Not hindurch begleitend zur Seite zu stehen.
Der Auftrag an die Beratung, die eigenen Möglichkeiten zu nutzen oder weiterzuentwickeln, richtet sich nicht an Seelsorger, sondern an Lebensberater, Coaches und Supervisoren.
Der Auftrag »Mach du mich gesund«, überfordert dann Seelsorger und Lebensberater – hier sind Psychotherapeuten und Psychiater gefragt.
Es gehört zur Kompetenz eines Seelsorgers, den Auftrag des ratsuchenden zu erkennen und zu verstehen und bei Überschreitung des seelsorglichen Auftrags diese Person an eine andere sachgemäße Stelle zu überweisen.
Die nachfolgenden Grafiken erläutern noch einmal diese wichtige Unterscheidung von Seelsorge, Beratung und Psychotherapie:
Abb. 1: Formen der Hilfe
Bei den Formen der Hilfe lassen sich folgende Ebenen differenzieren:
• Auf Ebene eins findet die hilfreiche, einfühlsame Begegnung (Seelsorge) zwischen Freunden bzw. das hilfreiche Gespräch z. B. nach dem Hauskreis, nach dem Gottesdienst oder beim Small Talk am Telefon statt.
Ein Mensch (z. B. in der christlichen Gemeinde) fühlt sich ein und zeigt Interesse am anderen. Es entsteht eine vertrauensvolle Zuhör- und Gesprächsbeziehung.
• Auf der zweiten Ebene (Lebensberatung, Coaching, Supervision) zeigt sich die Hilfe darin, dass der Helfer Schritte kennt, durch die der Ratsuchende seinen Weg entdecken kann. Prinzipiell käme der Ratsuchende auch selbst darauf, aber es kürzt den Weg ab, wenn er jemand anderen um Rat fragen kann (und gilt für jegliche Beratungsstelle).
• Auf der dritten Ebene agiert der Helfer als »Heiler« (Psychiatrie, Psychotherapie). Er hilft dem kranken Menschen je nach Erkrankung. Dieser ist auf eine Hilfe angewiesen, bei der der Helfer einen Heilungsprozess anstoßen, überblicken, durchführen und abschließen kann. Die gesetzlichen Regelungen schreiben vor, dass Heilen ausschließlich in der Hand von hierfür besonders zertifizierten Personen liegen darf.
Abb. 2: Einsatzfelder der Hilfsangebote
Die Zuständigkeit der unterschiedlichen Formen von Hilfe steht im Zusammenhang mit der Schwere der Probleme. Je schwerer die Probleme bzw. die Erkrankungen sind, die Menschen erleben (Lebensaufgaben, Lebensprobleme oder psychische Störungen), desto umfangreichere Hilfe ist gefordert.
Lebensaufgaben ergeben sich z. B. aus den entwicklungsbedingten Übergangssituationen: Wie meistert ein Schüler den Einstieg an einer