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Wenn alles in Scherben fällt: Erinnerungen eines Bozner Laubengasslers
Wenn alles in Scherben fällt: Erinnerungen eines Bozner Laubengasslers
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Wenn alles in Scherben fällt: Erinnerungen eines Bozner Laubengasslers

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Luis Seebacher erzählt facettenreich sein Aufwachsen als Laubengassler im Bozen der Zwanziger- und Dreißigerjahre: von Lausbubengeschichten, der faschistischen Schule und seiner Leidenschaft für den Boxsport. Hautnah erlebte er als junger Bub den Besuch des italienischen Königs auf dem Waltherplatz oder den Brand des Vogelweider-Verlages unter den Lauben mit. Auch die Weltwirtschaftskrise von 1929 machte vor Bozen keinen Halt: Hungrig klopfte er an die Pforte des Franziskanerordens und bettelte um "a Schtickl Prout". Die Optionsnachricht erreicht ihn während seines Militärdienstes in Turin. Er ging und wurde in die deutsche Wehrmacht überstellt. Lebhaft schildert Seebacher die Jahre des Kriegseinsatzes in Russland, den langsamen Rückzug vor den vorrückenden Sowjets, das Bangen und Hoffen, heil zu seiner frisch gegründeten Familie heimzukehren, welche bald selbst dem Bombenhagel der Alliierten ausgesetzt ist.
LanguageDeutsch
Release dateMar 10, 2014
ISBN9788872834879
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    Wenn alles in Scherben fällt - Luis Seebacher

    2011

    Da fiel mir meine Kindheit ein

    Versuche, Erinnerungen aus frühester Kindheit wachzurufen, scheitern meist am Fehlen handfester Anhaltspunkte. An das elementarste Ereignis, den Eintritt ins Leben zum Beispiel, kann sich nicht einmal das Unterbewusstsein erinnern. Es ist wie weggewischt.

    Im Alter von dreizehn Monaten wurde ich Opfer eines Hundeangriffs. Unser Rattler hat sich meine Sekkaturen nicht länger gefallen lassen und sich in meine Backe, die linke, verbissen. Eine böse Geschichte, laut meiner Mutter, und gebrüllt soll ich haben wie eine Horde „tifosi" auf dem Fußballplatz. Die ganze Baumannschaft samt Kapo (das war mein Vater) ließ die Arbeit liegen und rannte zur Unfallstelle. So passiert auf dem Hof eines Fabrikareals in Sinich bei Meran, wo Vater nach seiner Bewährungsprobe im bayrischen Burgkirchen eine Großbaustelle zu leiten hatte. So sehr ich mein Gedächtnis auch anstrenge, kein Fünklein eines Erinnerungsblitzes leuchtet auf. Wäre da die Narbe nicht, man könnte den Vorfall als ein Fantasiegebilde abtun.

    1922 war ich zwei, als mich die Masern befielen. Wir hatten bereits unser Zuhause in Bozen, eine Wohnung in der Laubengasse Nummer 57. An dieses Ereignis erinnere ich mich genau: Wir wohnten im ersten Stock, zur Laubengasse hin. Ich lag im vorderen der beiden großen Zimmer, in einem großen Bett. Mama hatte das Zimmer vorsorglich abgedunkelt, weil mir die Augen brannten, und sie hat mich gesund kuriert. Dann bricht der Faden der Erinnerungen ab. Das Nächste, woran ich mich erinnere, sind Szenen einiger weniger Meter eines Stummfilmes, der in den Bürgersälen aufgeführt wurde und den ich auf Mamas Schoß sitzend miterleben durfte. Das war bald nach der Geburt meines Bruders Norbert.

    Sehr deutlich erinnere ich mich an meine Versuche, auf dem Waltherplatz einer Taube habhaft zu werden; zweieinhalb war ich. Von da ab reiht sich Erinnerung an Erinnerung, als hätte ich das Markanteste in einem Tagebuch aufgezeichnet.

    Im Gedächtnis verankert ist auch jenes Schreiben vom 29. September 1939, mit dem der Präfekt von Bozen, Giuseppe Mastromattei, meinem Vater mitteilte, dass er dessen Entscheidung, den italienischen Staatsverband samt Familie verlassen zu wollen, zur Kenntnis genommen hatte und die nötigen Maßnahmen veranlassen würde. Eines jener unzähligen gleichlautenden Schreiben, die in jenen Tagen und Wochen Südtiroler Landsleute als Adressaten erreicht haben. Mit zwanzigjähriger Verzögerung schien sich nun auch das zu erfüllen, mit dem Mussolini-Handlanger Ettore Tolomei seit der Zerreißung Tirols unablässig beschäftigt war: das Land an und ober der Etsch bis zum Brenner von den „Barbaren" zu säubern und für alle Zeiten zu italianisieren. Gelegenheit dafür bot die Umsiedlungsvereinbarung zwischen Italien und Deutschland, der zufolge alle Südtiroler, so sie sich der Italianisierung nicht beugen wollten, in deutschen Landen jenseits des Brenners angesiedelt werden sollten. Das Resultat ist bekannt: Rund neun von zehn Südtirolern entschieden sich fürs Gehen.

    Ich habe von der teuflischen Intrige gegen unser Volk von einem Kameraden während meines Militärdienstes in Turin erfahren. Oberto Chiap war stets über alles informiert; er schöpfte sein Wissen aus Quellen, die mir verschlossen waren. Chiap warnte mich vor den Ränken Mussolinis und Hitlers, zumal der Führer auf Krieg aus sei und reichlich Kanonenfutter brauchen würde. Hitler war für mein Dafürhalten weit weg, und an Krieg wollte ich nicht glauben, trotz des deutschen Angriffs auf Polen am 1. September 1939. Ob auch uniformierte Südtiroler den Weg der Optanten gehen könnten? Sie konnten. Hierzu bedurfte es lediglich einer Erklärung vor dem zuständigen Militärkommando.

    Soll ich, soll ich nicht? Ich schwanke zwischen der Chance, dem Turiner Militärchaos zu entrinnen, ohne fahnenflüchtig zu werden, und dem Festhalten am Heimatboden. Bleibe ich, begehe ich Verrat an meinem Tiroler Deutschtum; gehe ich, verliere ich meine Heimat. Eine schlimme Situation, in der ich mich plötzlich befand. Das deprimierende Milieu des Turiner Militäralltags gab schließlich den Ausschlag. Ich ging!

    Noch zum Unteroffizier befördert, meldete ich meinen Optionsentscheid an. In der zweiten Dezemberwoche von 1939 wurde ich in Ehren aus dem italienischen Wehrverband verabschiedet, vom Regimentskommandeur höchstpersönlich. 14. Dezember: Endlich wieder daheim, und Weihnacht steht vor der Tür. In die Freude, dem Turiner Albtraum entronnen zu sein, mischt sich Traurigkeit. Mein Bruder Norbert ist nicht mehr da, Rudi Mair, Freund seit Kindestagen, auch nicht mehr. Und nicht mehr da sind die beiden Kasseroler Brüder Fritz und Karl, Teddy Maier aus der Goldschmiededynastie, und viele andere. Wo sind sie? Schon in den Fängen des Raubvogels jenseits der Alpen?

    Ich irre durch die Straßen der Stadt meiner Kindheit. Wie leergefegt kommen sie mir vor. Alle, die mir etwas bedeutet haben, sind weg. Ich vermisse ihren Klatsch, ihre „Narreteien, die „Salta-la-Mula und die „Määässen"-Rufe, ihr Mogeln beim Kartenspielen. Und plötzlich fühle ich mich einsam und elend. Mir ist zum Heulen. Da fiel mir meine Kindheit ein! Den Unzähligen, die das Ende des Vernichtungswahns im letzten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben, sind meine Aufzeichnungen gewidmet.

    Mein Dank gilt allen, die mir vom Kindergarten an bis in die heutige Zeit Freunde geblieben sind. Wenige genug sind es, die die Zeitläufte unbeschadet überstanden haben und mir als Zeitzeugen manch wertvollen Hinweis geben konnten. Mein Dank gilt auch meiner Tochter Heidi; sie war es, die Ordnung in meine „Zettelwirtschaft" gebracht hat.

    Luis Seebacher

    Haus Nummer 57

    Was heute am unteren Ende des Eisacktales als Bozen figuriert, das ist längst nicht mehr Bozen, das ist für mich Bolzano. Das wirkliche Bozen war das merkantile Zentrum des Tirols unterhalb des Brenners, wie es trotz der zunehmenden Italianisierung ab Beginn der Zwanzigerjahre noch heute im Alt-Bozner Stadtteil unverkennbar und spürbar ist: eine sich um die Laubengasse, diese von Ost nach West ausgerichtete Handelszeile, entwickelnde Metropolis, überschaubar und ökologisch vertretbar. Von der Talfer im Westen, dem Eisack im Süden, dem „Dorf" und St. Oswald im Norden und Zwölfmalgreien im Osten geografisch umzingelt ist der Standort meiner Stadt. Dort habe ich meine Kindheit und meine Jugend verbracht.

    Den genauen Zeitpunkt des Transfers von Altötting in Bayern über Sinich bei Meran nach Bozen in das Haus Nummer 57 unter den Lauben habe ich wohl mitgekriegt, aber nicht behalten. Wenn ich ein bisschen zurückrechne, komme ich auf das Jahr 1921. Wie dem auch sei: In der „Beletage habe ich den Keuchhusten überstanden, die Masern überwunden und meine erste Influenza gemeistert, und das alles innerhalb eines einzigen Jahres, von meinem zweiten zum dritten Lebensjahr. Mama, die in diesem Zeitraum mit meinem ersten Bruder schwanger ging, hatte alle Hände voll zu tun. Norbert kam am 6. Juli 1922 in Bozen zur Welt: Getauft wurde er auf Josef, was Vater aber absolut nicht in den Kram passte. „I will koan Seppl!, sagte er, deshalb wurde er einfach Norbert gerufen.

    Im Oktober des gleichen Jahres lernte ich Schwester Davida kennen, im Kindergarten der „Barmherzigen" in der Franziskanergasse, wohin mich Mama brachte, kaum war ich stubenrein geworden. Zwei Kindergartenjahre war ich mit einer Schar gleichaltriger und älterer Buben und Mädchen der Schwester anvertraut gewesen. Und wie elend war mir zumute, als ich den Klosterkindergarten mit dem städtisch-faschistischen an der Vintlerstraße, nächst dem Marienplatz, tauschen musste. Das mir völlig fremde Milieu traf mich wie eine harte Strafe, für die ich nicht die geringste Schuld trug. Per Dekret wurden alle privaten und geistlichen Kindergärten gesperrt und die Eltern verpflichtet, ihre Kinder mindestens ein Jahr vor Beginn des Schuljahres 1926/27 in öffentliche Kindergärten zu schicken. Dort sollten sie quasi spielerisch im Kontakt mit Kindern zugewanderter Italiener mit der fremden Sprache vertraut gemacht werden. Denn in der Volksschule war es mit unserer Muttersprache aus und vorbei.

    Drei Stockwerke ragt das Haus Nummer 57 laubengassenseits der Sonne entgegen und hat ein zur Wohnung ausgebautes Dachgeschoss, das bis zur Lichthaube reicht. Der gegen Süden ausgerichtete Trakt ist um eine Etage höher, was wohl mit der Konstruktion der Lichthaube zusammenhängt; zudem birgt er noch den geräumigen Dachboden. In der Laube, dem Gewölbe im Erdgeschoss, war das damals wohl größte und schönste Blumengeschäft Bozens untergebracht, der Detailhandel der Großgärtnerei Streiter. Das Streiter’sche Anwesen lag im „Dorf am Oswaldweg und erstreckte sich bis zur Oswaldpromenade, wo die „Wildn Mandr, zwei spitzkegelförmige Porphyrriesen, aus dem Berg ragen und auf die zu ihren Füßen liegende Stadt herunterschauen.

    Dem „Blumendoktor Streiter gehörte auf Nummer 57 nicht nur das ganze Parterre bis hin zum Hof des Nachbarhauses an der Silbergasse, sondern auch die ganze Kelleranlage, sodass den Mietern der sieben Wohnungen der Gang in den Keller erspart geblieben ist. Diese „Wohltat war dadurch eingeschränkt, dass jedem der Kellerlosen eine Ablage hinter einem Lattenverschlag auf dem Dachboden zugestanden worden war. Etwa zwei Quadratmeter Bodenfläche hatten die „Holzlegen", gerade ausreichend, unverzichtbaren Krimskrams unter Verschluss zu halten. Wir hatten Glück: Unsere Holzleg war gemauert, hatte ein Fenster zum Stiegenhaus und eine volle Tür. Dieser Umstand kam Vater ganz besonders entgegen, denn er konnte dort vor fremden Zugriffen ziemlich sicher seinen umfangreichen Bestand an teuren Werkzeugen aufbewahren.

    Unser Domizil umfasste zwei große Zimmer und eine um die Hälfte kleinere, dunkle Küche; Wasser und Klo befand sich auf dem Gang. Wenn man durch eines der Küchenfenster schaute, sah man den gitterbewehrten „gläsernen" Flur und das Treppenhausvisavis: düster und unbesonnt, denn von oben durch das Glasdach reichte kein Sonnenstrahl bis zu uns herab. Sonne und Grün konnten wir nur im Freien genießen, abseits der romantischen Gassen, Durchgänge und Winkel der Altstadt, im Marienpark zum Beispiel.

    Irgendwann im Laufe des Jahres 1924 sind wir von dem an und für sich bequemen, aber düsteren ersten Stock in den dritten gezogen, und zwar in dem südseitig gelegenen Trakt, wo nicht lange vorher die Wohnung frei geworden war. Sie entsprach schon eher den Vorstellungen meiner Eltern von Wohnwert und Wohnkultur: viel Himmel, viel Sonne, mit Blick auf Kohlern, einen der schönsten Hausberge der Bozner. Sogar die Spitze des Turmes der Pfarrkirche mit der großen goldenen Kugel, in der angeblich ein Erwachsener sitzend Platz hätte, und dem Kreuz darauf war zu sehen.

    Kaum mehr als einen Katzensprung betrug die Distanz vom Streiter-Haus zum Kindergarten. Uns gegenüber war der Durchgang zum Fischmarkt/Dr.-Streiter-Gasse, die kürzeste Verbindung zur Franziskanergasse und sicher genug, mich nach einer gewissen Übergangszeit allein auf den Weg zu den frommen Schwestern zu schicken. Den besagten Durchgang gibt es heute noch, wie eigentlich alle Passagen von den Lauben zur Silber- und zur Dr.-Streiter-Gasse. Ursprünglich waren die Durchgänge als strategische Passagen zum Ringwall in die beiden Häuserzeilen, die heutige Laubengasse, eingeplant worden, vor beinahe tausend Jahren.

    Bei den frommen Schwestern entwickelten sich die ersten Freundschaften, die bis ins Pflichtschulalter hinein und auch darüber hinaus, ja ein Leben lang hielten. So die mit Rudi Mair, der, sieben Monate älter als ich, mir immer eine Schulklasse voraus war. Unsere Mütter (Rudi nannte seine „Minca, wohl dem kosenden slawischen Diminutiv von Matka: „Mamuschka, „Maminka, nachempfunden) kannten einander wegen der Kindergartenkontakte und waren befreundet. Kaum war Norbert im „Mitzieh-Alter, ergab sich aus ihm, Rudi und mir ein schier unzertrennliches Freundestrio, voller Lebenslust und Lebensfreude, ständig auf Achse und Abenteuer ausheckend, keiner Lausbüberei abhold, sofern sie das Beichtgeheimnis unserer Seelsorger nicht allzu sehr strapazierten. Es war unsere „glorreiche" Zeit nach dem Kindergarten. Ich will uns nicht besser machen, als wir waren, aber es ist schon so: Wir waren im Grunde brave und folgsame Lausbuben. Der quirligste war Norbert, dem die Lust nach Abenteuer geradezu in die Augen geschrieben stand.

    Obwohl in der Wohnung über den Lauben die Küche nicht viel Platz bot, spielte sich trotzdem ein Gutteil des Familienlebens dort ab. Einmal war ich gerade erst vom Kindergarten heimgekehrt und schnupperte Rasierwasser an Vaters frisch rasiertem Gesicht. Auch er dürfte gerade erst vom Friseur heimgekommen sein; diesen Luxus leistete sich Vater jeden Samstag, solange er sich’s eben leisten konnte. Er war gut gelaunt, zeigte sich übermütig, schnappte sich Norbert, der sich schon aufrecht halten konnte, schubste ihn gegen den Plafond und fing den Kleinen im Fallen wieder auf. Norbert machte es hörbar Spaß: Er quietschte derart vergnügt und laut, dass man es bis auf den Gang hinaus hörte. Mama gefiel das Treiben der beiden ganz und gar nicht. „Hear decht au, i konn schun nimmer zuaschaugn!, mahnte sie Vater. Und dann war es passiert: Norbert rutschte dem Vater durch die Hände und klatschte bäuchlings auf dem Küchenboden auf. Das vergnügliche Gequietsche war urplötzlich einem gotterbärmlichen Gebrüll gewichen. Ich selber blieb vor Schreck ein paar Augenblicke regungslos stehen, hörte noch Mama, wie sie händeringend dem Vater die heftigsten Vorwürfe an den Kopf warf. Während sie Norbert aus seiner jämmerlichen Lage zu sich ans Herz nahm, rannte ich in panischer Angst zur Tür und auf den Gang hinaus. Norbert war Gott sei Dank nichts weiter passiert, keine innere Verletzung, kein Knochenbruch, „nur ein handtellergroßer Bluterguss auf Brust und Bäuchlein zeugte von dem Unfall, der sehr bös hätte ausgehen können. Ober uns ordinierte der Zahnarzt Dr. Dejaco, 1928 wechselte er seine Ordination in die Nähe der Buchhandlung Vogelweider. Ober dem Zahnarzt, im dritten Stock, wohnte das kinderlose Ehepaar Giovannini (keine Italiener, wie der Name vermuten ließe). Wenn die Frau nach „Guiidooo!, also ihrem Mann, rief, dann hörte sich das wie „aiuto an. Giovanninis bestritten ihren Unterhalt mit einem Wasch- und Bügelservice. Noch ein Stückchen weiter oben, schon unter dem Dach, wohnte bis Ende 1933 das Ehepaar Pancheri, kinderlos auch sie; dann zog das jungvermählte Paar Füller ein, froh, ein Nest unter dem Dach gefunden zu haben. Sie, italienischen Ursprungs, hütete das Heim und sehnte sich nach Mutterschaft; er, Blumengärtner beim Streiter, beherrschte das Okulieren und Kopulieren, sorgte für blühenden Flieder und duftende Maiglöckchen zur Weihnachtszeit und trieb in dunklen Kanälen Importazaleen bis zur Blüte, außerdem war er Herr über eine Vielzahl von Kakteen.

    Im südseitigen Trakt wohnte im vierten Stock die Familie Franceschi mit Söhnchen Bruno, Welschtiroler und lange vor dem Ersten Weltkrieg in Bozen ansässig. Mamma Franceschi, ganz Mutter und Hausfrau, sprach nur sehr gebrochen Deutsch. Sie war blond, vollschlank (gut zweimal unsere Mama, was Fülle und Gewicht betrafen) und hatte ein sonnig-warmes Gemüt. Der Babbo Franceschi, mindestens fünfzehn Jahre älter als seine Gattin, war Schuhmacher und hatte seine Werkstätte in der Gerbergasse, ein nicht gerade nobles Viertel. Die Gerberei dort verbreitete zuweilen einen pestigen Gestank.

    Die Franceschis hatten die Etage nicht allein; am Ende des Flurs zum Abort bewohnte eine alte Jungfer namens Berta ein Kabinett genau über unserer Küche. Berta, sie arbeitete in der Süßwarenfabrik Ringler, hatte einen steifen Nacken, weswegen sie den Kopf nicht drehen konnte – wollte sie das trotzdem, musste sie den ganzen Oberkörper drehen. Das sah recht eigenartig aus. Obendrein hatte sie nach einem Arbeitsunfall eine verkrüppelte Hand. Berta war Einzelgängerin und kapselte sich so gut es ging von den übrigen Hausparteien ab. Auch mit uns Kindern mied sie jeden Kontakt. Ein einziges Mal hat sie mich zu sich in ihr Kämmerlein gerufen, da war ich schon zwölf, und bat mich, ihre verstorbene Katze zu beseitigen. Ich nahm den in Packpapier gewickelten Kadaver und trug ihn in den Haslacher Wald, wo ich die Katze zur ewigen Ruhe bettete.

    Im dritten Stock, direkt unter den Franceschis und der Berta, waren ab Mitte 1924 wir zu Hause; von den Vormietern weiß ich nichts. Die Wohnung einen Stock tiefer, mit einer Terrasse, die die ganze Hausfront einnahm (das wäre ein Tollplatz für uns Kinder gewesen!), war vom Senioren-Ehepaar Streiter, mit den Blumen-Streiters weder verwandt noch verschwägert, bewohnt.

    Unser Haus war kein kinderreiches. Außer Bruno Franceschi, im Alter von Norbert, meinen drei Geschwistern (Norbert 1922, Helma 1926 und Hermann 1932 zur Welt gekommen) und mir gab es da zu meiner Zeit keinen Nachwuchs, der unsere Hausgemeinschaft vergrößert hätte.

    Soweit ich zurückdenken kann, hatten wir stets einen Abreißkalender im Blickpunkt des Wohngeschehens hängen: in der Küche, meinem Sitzplatz am Esstisch gegenüber, an der Wand. Hoch genug vom Boden weg, dass wir Kinder nicht dran konnten, solange wir nicht durften. Um den Wechsel der Tage hatte sich Mama gekümmert, jedenfalls bis zu jenem Tag, da ich die Zettelchen ohne Fußschemel erreichen konnte. Der Kalender war nicht nur der „Geburtshelfer" für mein Zahlenverständnis, sondern machte mir auch den Wechsel vom Werktag zum Sonn- und Feiertag – schwarze und rote Ziffern –,

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