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Brücken bauen - Perspektiven aus dem Einwanderungsland Deutschland
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Brücken bauen - Perspektiven aus dem Einwanderungsland Deutschland

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About this ebook

Ethnische und religiöse Vielfalt ist in Deutschland inzwischen Realität - ist sie aber auch gelebte und anerkannte Normalität? Menschen mit Migrationshintergrund, Bindestrichdeutsche, Neudeutsche - es gibt viele Bezeichnungen für Menschen, die sowohl deutsch als auch türkisch, vietnamesisch oder italienisch fühlen, leben und so geprägt sind. Kurzum: Sie haben mehrere nationale und kulturelle Wurzeln, verorten sich in diesen vielfältigen Zusammenhängen. Die Begriffe offenbaren aber jeweils eine emotionale Kluft, die es schwer macht, als das verstanden zu werden, was letztlich alle sind: Bürgerinnen und Bürger Deutschlands, die eine moderne deutsche Einwanderungsgesellschaft repräsentieren.
Die Autorinnen und Autoren dieses Buches sind im "Forum der Brückenbauer" aktiv, einem Netzwerk, das aus einem Leadership-Programm der Bertelsmann Stiftung für gesellschaftspolitisch engagierte Nachwuchsführungskräfte hervorgegangen ist. Sie alle verkörpern gelebte Vielfalt in der deutschen Gesellschaft - die weder uniform noch homogen ist. Sie sind das lebendige Beispiel für ein neues Sowohl-als-auch. In ihren Artikeln machen sie deutlich, dass die gesellschaftliche Veränderung in Deutschland keine Anti-These zum bisherigen darstellt, sondern eine Synthese von deutsch und zugleich vielfältig ist. Dieser Band beleuchtet die verschiedenen Lebensrealitäten in Deutschland und einiger seiner Protagonisten. Er zeigt, dass es mittlerweile eine "neue" Normalität gibt, die auch als solche verstanden werden sollte. Das Buch ist eine Einladung an alle, sich auf die Spurensuche nach den Brückenbauern von heute und morgen zu begeben.
LanguageDeutsch
Release dateOct 25, 2013
ISBN9783867935425
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    Brücken bauen - Perspektiven aus dem Einwanderungsland Deutschland - Verlag Bertelsmann Stiftung

    D.

    »Heimat ist dort, wo Mutti is’!«

    Chadi Bahouth

    Sind Menschen aus ethnischen Minderheiten die besseren Politiker? Finden sie leichter über Parteigrenzen hinweg zueinander? Sind sie kompromissbereiter, und sei es nur auf dem Gebiet Migration, Integration und Inklusion? Oder sind parteipolitisch Aktive mit Migrationsgeschichte, genau wie ihre deutschen Kolleginnen und Kollegen, zunächst sich selbst und dann der Partei verpflichtet? Diese und weitere Fragen diskutierten die fünf Brückenbauerinnen und -bauer Daniela Kaya (SPD), Aziz Bozkurt (SPD), Andreas Wojcik (CDU), Sidonie Fernau (Bündnis 90/Grüne) und Marvin Oppong (FDP), die von der Bertelsmann Stiftung zum Streitgespräch geladen waren. Zur Debatte stand eine »Sowohl-als-auch-Kultur« gegenüber dem »dominanten deutschen Entweder-oder-Imperativ«.

    Gleich zu Beginn wurde eines sehr deutlich: Sich für Politik zu engagieren, hat auch bei ethnischen Minderheiten in Deutschland vielfältigere Gründe als immer nur vermeintlich migrantische Themen – ein alter Genosse, der aus der Partei flog, weil er sich für Asylbewerber und Ostermärsche einsetzte; die Erfahrungen als Schulsprecher und das Bedürfnis, nicht andere für sich entscheiden zu lassen, sondern selbst zu gestalten; die eigene Mutter, die seit über 40 Jahren beim Roten Kreuz Flüchtlinge betreut und es wichtig findet, hilflose Menschen zu unterstützen; die Diskriminierung von Flüchtlingen beim Einkaufen, wenn sie nur Wertmarken haben, und die abfälligen Reaktionen aus der Mehrheitsgesellschaft; ein gelebtes, multikulturelles Umfeld zu Hause, das die Normalität verschiedener Ethnien alltäglich sein ließ; das Erleben rassistisch motivierter Gewalt von Rechtsextremen gegen ethnische Minderheiten; die Erfahrung, dass es einen Unterschied gibt zwischen aufgezwungener Politikbeteiligung in repressiven Systemen und der Möglichkeit, sich frei dafür entscheiden zu können.

    So unterschiedlich die Erfahrungen, so verschieden die Lebensläufe sind, so unterschiedlich ist auch die Motivation der Menschen, sich politisch zu engagieren. Und dennoch bleibt als eine gemeinsame Komponente, die zwar nicht im Mittelpunkt ihres Wirkens stehen muss, sie aber doch prägt – den einen stärker, die andere weniger: die Erfahrung einer Migrationsgeschichte. Diese Erfahrung forciert Einstellungen zum Empowerment, zur Selbstbestimmung, zum Verständnis für andere Werte wie Gleichheit und Gerechtigkeit, zu dem Wunsch, selbst als Brückenbauer agieren zu wollen, als Mittlerin zwischen verschiedenen Kulturen, da viele Menschen aus ethnischen Minderheiten es als alltäglich betrachten, mit einem heterogenen Umfeld zu interagieren.

    Migranten in Parteien

    »Eine Partei ist wie ein Mikrokosmos, ein Abbild der Gesellschaft. Wenn man in der Mehrheitsgesellschaft anders ist, ist man das in der Partei natürlich auch.« Andreas Wojcik teilt Marvin Oppongs Sicht nicht ganz, denn er kam als Spätaussiedler nach Deutschland. Und, so sagt er, die Parteimitglieder begriffen ihn »als Deutschen«: »Dass ich mich als Migrant sehe, bedeutet nicht, dass die Partei mich auch als solchen sieht.« Folgerichtig für seine Parteifreunde, wunderten sich diese immer wieder, weshalb er, der vermeintlich Deutsche, sich für Migranten einsetzte.

    Die Benachteiligung von Migranten in Parteien manifestiere sich an einem sehr konkreten Verhaltensmuster der Mehrheitsdeutschen. Stehen neue Posten zur Disposition, hieße es aus der Partei: »›Dich können wir schicken, du bist gut genug, aber deinen Freund Ali, nee, die Zeit ist noch nicht da, dass der kandidieren kann.‹ Und er ist hier geboren! Das war für mich Motivation zu zeigen, dass es anders ist. Eigentlich hat er mehr Rechte als ich, eben weil er hier geboren ist.« Dieses Gefühl von Ungerechtigkeit und einer damit verbundenen »Motivation zu kämpfen und zu zeigen, dass wir alle gleich sind«, kennt auch Aziz Bozkurt. Er zitiert eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, der zufolge die Volksparteien führend sind »wenn es um rechtsextreme Weltbilder geht. Wir nehmen uns da alle nichts. Und trotzdem ist es wichtig, die fortschrittlichen Kräfte beieinanderzuhalten.« Die Parteielite ticke deutlich anders als die Mehrheit ihrer Mitglieder und Wähler. Und in diesem Fall sei das gut.

    Auf die Frage, ob der Migrationshintergrund dazu führe, dass sie parteipolitisch leichter zueinanderfinden und sich eher unterstützen, reagiert Andreas Wojcik eher verhalten: »Ich würde mir das wünschen, aber Migranten sind auch nur Menschen und meiner Erfahrung nach haben Menschen einen Drang nach Macht, Migranten also auch.« Und dieses Streben nach Macht behindere eine effektive Zusammenarbeit. Es wäre aber wünschenswert, hier mehr zu kooperieren, denn so könne man mehr Ziele erreichen. Insbesondere, da die Ziele bei Migranten parteiübergreifend ähnlich seien.

    Sidonie Fernau widerspricht: »Das Verbinden von Migranten über Parteigrenzen hinweg ist sehr schwierig; es ist innerhalb einer Partei schon sehr schwierig, dass sie an einem Strang ziehen.« Den Grund dafür sieht sie in der Konkurrenz um die wenigen Posten. Und hier seien Migranten in einer besonderen Konkurrenzsituation gefangen, denn, so zitiert Fernau Parteimitglieder: »Ein Migrant sollte schon aufgestellt werden; sind es aber zwei oder drei, gibt es schon wieder Aufstände. Denn wir sind immer noch in Deutschland und die Deutschen sollen eben auch ihre Posten bekommen.«

    Dazu komme die Problematik, dass es innerhalb aller Parteien die sogenannten Berufsmigranten gebe: Migranten, so erläutern es die Diskutierenden, die sich über dieses Thema zu profilieren versuchten. Kritisch werde es, wenn dabei echte Inhalte fehlten. Und das wiederum mache es anderen Menschen mit Migrationshintergrund, die echte Inhalte haben, schwer aufzusteigen. Diese würden nämlich nicht den Weg des geringsten Widerstandes gehen, sondern ein Ziel verfolgen. Im Grunde also alles wie bei den urdeutschen Kolleginnen und Kollegen auch. Oder?

    »Nein«, protestiert Daniela Kaya und wirft den Aspekt der Machtstrukturen auf: »Ich weiß nicht, warum der alte, weiße Mann die Geschicke der Nation leiten soll?!« Sie spielt darauf an, dass während der letzten Jahrzehnte die Posten und Entscheiderpositionen so verteilt wurden, dass sie auch heute noch fast ausschließlich von weißen, älteren Männern besetzt werden. Die Frauenemanzipationsbewegung hat ein wenig Veränderung gebracht, aber noch keine durchschlagende. Aus den USA kommen erste Hinweise, dass sich auch dies ändern wird: »Too old, too white, too male« – »zu alt, zu weiß, zu männlich« war das Schlagwort, mit dem die Niederlage Mitt Romneys bei den letzten Präsidentschaftswahlen erklärt wurde.

    Was bedeutet das für Deutschland? Dass nun Migrantinnen und Migranten aller politischen Couleur sich zusammenschließen würden, um einen Wechsel herbeizuführen und mehr Macht- und damit Verteilungsgerechtigkeit zu realisieren? »Gibt es ein grundlegendes gemeinsames Interesse von Migranten, weil sie Migranten sind?«, fragt Daniela Kaya und stellt selbst fest: »Das muss nicht zwangsläufig so sein, dass man ein gemeinsames Interesse hat, nur weil man einen Migrationshintergrund hat. Nicht umsonst sind wir in verschiedenen Parteien aktiv, denn wir haben da unterschiedliche Vorstellungen. Ich glaube nicht, dass es ein Migrantenbewusstsein, ein Klassenbewusstsein gibt. Ich glaube, dass es das auch nicht geben kann, weil es unterschiedliche soziale Hintergründe gibt.« Insgesamt ist sich die Runde darin einig, dass sie andere Migranten in ihren Parteien nicht allein aufgrund des Migrantenseins unterstützen würden. Diese Reaktion kann durchaus als erfolgreich verlaufendes Empowerment verstanden werden. Es zeigt eine realistische Aussicht auf kommende politisch aktive Menschen aus ethnischen Minderheiten, die sich auf Augenhöhe mit denen aus der Mehrheitsgesellschaft verstehen.

    Wording

    Als logische Folge schließt sich die Frage nach dem Wording, nach der Wortfindung an: Wie tituliert die Mehrheitsgesellschaft Menschen aus ethnischen Minderheiten, wie bezeichnen sich diese selbst? Ein Begriff wie »Ausländer« für einen hier lebenden Deutschen mit ausländischen Wurzeln schien der Vergangenheit anzugehören, bis die mediale Welle nach Bekanntwerden der NSU-Morde aber genau diese Missbezeichnungen erneut hochspülte. Da war plötzlich wieder die Rede von Ausländerfeindlichkeit, wo doch eigentlich Rassismus gemeint war. Ein Redakteur stellte das deutsche Rechtssystem komplett auf den Kopf, als er verkündete, es gebe »Ausländer mit deutschem Pass«.

    »Neudeutscher«, »Migrant«, »Migrationshintergrund« – welche Macht haben diese Begriffe? Stigmatisieren sie? In anderen Ländern, die integrationspolitisch weiter sind, wird von »ethnic minorities« gesprochen, von »ethnischen Minderheiten«; der Begriff des »Menschen mit Migrationshintergrund« wird als reduzierend empfunden.

    Aziz Bozkurt wirft ein, »dass wir alle in einen Topf geschmissen werden … Als Menschen mit Migrationshintergrund haben wir doch ein paar Anknüpfungspunkte, bei denen wir sagen, wir gehören irgendwie zusammen. Ein Andreas kann in der CDU sein wie er will, aber es bleibt der Migrationshintergrund.« Entsprechend relevant sei natürlich, dass der andere immer selbstreflektiert sei, dann nämlich gebe es »viele Überschneidungspunkte in allen Parteien«. Ist dieser Fakt denn wirklich abhängig von der Herkunft? Andreas Wojcik entgegnet: »Man sollte die Migranten selbst fragen, wie sie bezeichnet werden wollen.«

    Daniela Kaya wiederum sieht es als »ein wechselseitiges Spiel. Wenn du immer als ›anders‹ markiert wirst, dann fängst du irgendwann auch an, dich selbst als anders zu verstehen. Wenn du in Ostwestfalen geboren wurdest und eigentlich viel mehr Ostwestfale bist als Anatole, dann schwingt das trotzdem immer mit, eben auch politisch.« Und die Bezeichnung sei manchmal noch viel subtiler. In Wahlkampfzeiten würde durchaus versucht, Gegner zu beschädigen, indem man ihnen Schlechtes nachsage: »Personen mit Migrationshintergrund dichtet man stereotype Eigenschaften an, zum Beispiel Machotürke, um sie zu diskreditieren. Das gibt es bei anderen Kandidaturen auch, aber da sind die Kategorien andere.«

    Und Sidonie Fernau analysiert: »Wenn diese Begriffe immer wieder benutzt werden, wird gesagt, ›du bist zwar deutsch, aber irgendwie gehörst du doch nicht zu uns‹. Einerseits ist es schon eine Form der Abgrenzung; andererseits müssen die Probleme benannt werden.« Mit »Probleme« meint sie nicht den Migrationshintergrund, sondern die Situation, in der sich die Menschen befinden: »Mit Migrationshintergrund kommst du in der Partei oft nicht weiter. Das ist das Problem.«

    Teilnahme und Teilhabe

    Hat sich die aktive Beteiligung in Parteien für Menschen aus ethnischen Minderheiten dann nicht per se schon erledigt? Auf keinen Fall für Aziz Bozkurt. Er kritisiert zwar ebenfalls Schwierigkeiten, die nicht sein müssten, ist sich aber auch sicher, dass es viel zu gewinnen gibt: »Mit Ehrlichkeit kommt man am weitesten. Man muss dann auch sagen, du, ich will dich grad nicht überzeugen, weil man ja auch Leute braucht, die von außen Druck aufbauen.« Nicht jeder müsse in der Partei sein, man könne auch auf die Straße gehen und demonstrieren, damit sich etwas bewege. Und wenn sie, die Partei, sich dann bewege, habe auch diese Person dazu beigetragen, die Organisation zu prägen: »Von daher ist es nicht das primäre Ziel, Leute für eine Partei zu werben. Langfristig halten geht nur über Inhalte, dann ist das die beste Werbung (…), dann muss ich da nicht raus und sagen, ich Schwarzkopf, du Schwarzkopf, komm in die Partei. Das sollte anders funktionieren.«

    Ähnliche strukturelle Probleme existieren auch in anderen Bereichen des Zusammenlebens. Dabei taucht Diskriminierung in verschiedensten Nuancen auf. Sidonie Fernau weiß dies aus eigener Erfahrung. In einem Bewerbungsgespräch an der Uni wurde ihre Hautfarbe plötzlich zum Thema: »Die gratulierten mir zehn Minuten, dass ich so gut deutsch spreche.« Bewusste, beabsichtigte oder eben auch solche Diskriminierungen, die unbewusst und eigentlich mit einem freundlichen Hintergrund geschehen, dürfen aber niemanden davon abhalten, sich weiterhin aktiv um ein gutes Miteinander zu bemühen.

    Erschwert wird dieses Zusammenleben allerdings durch Stereotype, die oft durch Mainstreammedien transportiert werden. So hieß es in der Planung zu diesem Buch: »Die Brückenbauer-Autorinnen stehen tagtäglich mit ihrem Engagement für eine Sowohl-als-auch-Kultur ein statt für den dominanten deutschen Entweder-oder-Imperativ.« Daniela Kaya, die diese Passage verfasst hat, erklärt, dass damit der mediale Diskurs gemeint ist, »in dem suggeriert wird, man sei entweder deutsch oder türkisch. Das ist ein immer wiederkehrendes Motiv, das insbesondere von den konservativen Parteien bespielt wird. Beispiel: Die doppelte Staatsbürgerschaft wird von den Konservativen als Sicherheitsfrage diskutiert und nicht als Anerkennung, dass wir eine Einwanderungsgesellschaft sind.« Aber derartig populistische Akteure gebe es auch in anderen Lagern, etwa Thilo Sarrazin. Alle innenpolitischen Fragen würden als ein Entweder-oder diskutiert, beispielsweise »Deutsche Muslima«: Die Debatte darum sei so exotisch, dass es gar nicht als normal wahrgenommen werden könne. Dass man deutsch und türkisch ist, sei für viele in der Mehrheitsgesellschaft unvorstellbar: »Entweder-oder beschreibt die Vielfalt als Extremfall.«

    Migrantenquote als Lösung?

    Alte, weiße Männer mit Stallgeruch in Führungspositionen, kaum Kontakte nach oben, Diskriminierung im Alltag und in der Basis aller Volksparteien, ungleiche Start- und Aufstiegschancen – wird es da nicht höchste Zeit für eine Migrantenquote?

    Damit ist in der Runde offensichtlich ein schwieriges Thema angesprochen. Niemand will zum Quotenmigranten, niemand will in eine Opferrolle gedrängt werden. Zu stark ist der Beigeschmack der Ungleichheit, der Stigmatisierung, man könne es nicht aus eigener Kraft schaffen. Für viele, besonders die aus der zweiten, dritten, vierten Generation, ist es ein unangenehmes Thema: Viele von ihnen haben gesehen, dass ihren Eltern trotz gleicher Leistung nicht der gleiche gesellschaftliche Wert wie den Nachbarn und Kollegen zugesprochen wurde. Diese Erfahrung sitzt tief. So beginnt Marvin Oppong die Antwortrunde vorsichtig zurückhaltend: »Was, wenn ich im kleinen Ortsverein keinen qualifizierten Migranten habe?«

    Aziz Bozkurt: »Genau das, was danach passiert, ist doch das Spannende an der Quote. Indem ich den unqualifizierten Migranten nehme, werden sich ganz viele denken: ›Okay, wenn ich den das nächste Mal nicht will, muss ich mir einen anderen suchen. Dann muss ich werben.‹ Und um dieses Werben geht es. Die SPD hat gesagt: 15 Prozent Quote als Selbstverpflichtung. Jetzt gibt es so viele Kandidaten für den Bundestag, das kriegt man kaum mit, da wird ein Afrikanischstämmiger in Sachsen-Anhalt auf einen Platz genommen!« Marvin Oppong: »Es ist ja nicht der Sache dienlich, wenn jemand Inkompetentes ins Amt gewählt wird, nur weil er in die Quote passt. Das ist der Politik nicht würdig.«

    Aziz Bozkurt: »Was ist denn Qualifikation in der Politik? Das ist schlecht festzustellen.« Andreas Wojcik: »Bei bestimmten Ortsverbänden wird es schwer sein, überhaupt jemanden zu finden. Eine zu hohe Migrantenquote würde Wahlen ungültig machen, da die Quote in einigen Regionen nicht zu erreichen ist.« Marvin Oppong: »Wir setzen auf die Aufgeklärtheit und die Vernunft der Menschen.« Am Ende spricht sich dann aber eine knappe Mehrheit der Diskutierenden doch noch für die Quote aus.

    Daniela Kaya fasst das große Bild zusammen: »Ein Instrument zu diskreditieren wegen eines möglichen negativen Ausnahmefalls, finde ich nicht stichhaltig. Seit 50 Jahren haben wir Einwanderungsgeschichte in Deutschland. Wenn wir uns angucken, wer in welchen Positionen sitzt und wie wenig Vielfalt sichtbar ist, zeigt es doch, dass Leistung nicht ausreicht. Auch Frauen kommen in bestimmte Positionen nicht hinein, weil andere, leistungsferne Merkmale mit hineinspielen, zum Beispiel wie sich Eliten herausbilden. Und hier ist es ein legitimes Mittel, die Quote zeitlich begrenzt einzusetzen.« Sidonie Fernau: »Die Quote sollte immer das letzte Mittel sein. Aber es hat sich gezeigt, dass Menschen mit Migrationshintergrund auf bestimmte Posten und in bestimmte Ämter nicht gewählt werden. Der beste Weg ist die Freiwilligkeit, aber wenn es nicht geht, dann muss eben die Quote ran.« Und Aziz Bozkurt witzelt: »Wenn ich im Kanzleramt sitze, ist mir egal, ob ich ein Quotentürke bin!«

    Opfer oder Opferrolle?

    Die Diskussion um die Quote zeigt deutlich, dass der Grat zwischen Opfersein und in der Opferrolle zu sein manchmal sehr schmal und schwer zu definieren ist: »Man wird zum Opfer, wenn man sich zum Opfer machen lässt. Migranten müssen die Opferrolle nicht annehmen. Es ist ihre Wahl.« So sieht es Andreas Wojcik, der starke Zustimmung von Daniela Kaya erhält: »Wir sind alle keine Opfer.« Und Aziz Bozkurt zeigt Verständnis für diejenigen, die weniger profitieren als er selbst: »Wir sind solidarisch mit jedem, der in einer Opferrolle steckt. Wir selbst aber begreifen uns als Akteure.« Andreas Wojcik zieht die Parallele zur Mehrheitsgesellschaft: »Die meisten sind nicht in der Opferrolle; die haben einfach nur keinen Bock. Das ist das Problem. Das sind apolitische Einstellungen und die gibt es in der deutschen Gesellschaft auch.«

    Wenn diese Menschen schlecht motiviert sind – wie holt man sie dann aus der Lethargie heraus? Das Bewusstsein für Politik müsse geschärft werden. Man müsse die Leute dort abholen, wo sie sind. Daniela Kaya ergänzt, dass die Vorbildfunktion wichtig sei. Initiativen in und aus den betreffenden Vierteln selbst seien ebenso wichtig. Diese Form der Perspektivenerweiterung bedeute für viele die erstmalige Eröffnung neuer Optionen. Bei einem Großteil der Betroffenen müsse auf der Sozialarbeitsebene angefangen werden; das ginge oft nur Schritt für Schritt. Den Mangel an Wissen über die Möglichkeiten der sozialen, politischen, beruflichen Beteiligung definiert sie als eines

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