Ulrike Meinhof 1934-1976: Ihr Weg zur Terroristin
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Buchvorschau
Ulrike Meinhof 1934-1976 - Katriina Lehto-Bleckert
2010.
1. Einleitung
1.1. Sprung aus dem Rahmen der „formierten" Gesellschaft
Am 14. Mai 1970 war Ulrike Meinhof an einer Gefangenenbefreiung in West-Berlin beteiligt. Das Ereignis war die spektakuläre „Baader-Befreiung, durch die der vorübergehende Insasse des Tegeler Gefängnisses, Andreas Baader, auf freien Fuß gelangte. Am Tatort, in der Bibliothek des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Freien Universität Berlin (FU), wurde auch von Schusswaffen Gebrauch gemacht: Zuerst wurde ein Bibliotheksangestellter von einer Kugel getroffen, danach kam es zu einem Schusswechsel zwischen den Befreiern und den Justizvollzugsbeamten. Während der Schießerei und des allgemeinen Handgemenges sprang nicht nur Baader, sondern entgegen ihrer ursprünglichen Absicht auch Meinhof aus dem Fenster des Instituts, und beide flohen mit einem Auto vom Ort des Geschehens. In der Folge wurde nach Meinhof wegen „Mordversuchs
gefahndet, weil man ihr unterstellte, dass sie die Aktion weitgehend geplant und vorbereitet habe.³ Knapp drei Wochen nach der Befreiung wurde die erste Stellungnahme bzw. die Gründungserklärung der Roten Armee Fraktion (RAF) veröffentlicht. Zu den Mitgliedern der „ersten Stunde" gehörten neben Meinhof vor allem Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Horst Mahler; die weiteren in der Öffentlichkeit eher bekannteren Mitglieder der sog. ersten Generation der RAF waren Jan-Carl Raspe und Holger Meins.⁴
Der Fenstersprung von Ulrike Meinhof vor den Augen der verblüfften Justizbeamten hatte eine enorme symbolische Bedeutung, und zwar für beide Seiten, sowohl für die Befreier und ihre Gesinnungsgenossen und -genossinnen als auch für die Institutionen, die direkt damit zu tun hatten. Die gesamte Überrumpelungsaktion hatte die Repräsentanten der Staatsgewalt bzw. der damaligen Machtelite so brüskiert, dass sie eine bis dahin beispiellose Reaktion auslöste, und zwar gewalttätig verlaufende
Hausdurchsuchungen, die in dieser Form eine neue Qualität besaßen,⁵ und zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg eine steckbriefliche Fahndung in Berlin, mit der nach Meinhof gesucht wurde.⁶ Die Sicherheitsapparate fühlten sich offenbar in einem Maße von der langjährigen politischen Opponentin und Regimekritikerin angegriffen, dass sie sich zur Ergreifung selbst solch „besonderer" Maßnahmen veranlasst sahen.⁷
Die Gründe für diese außergewöhnlichen Schritte der Staatsgewalt mögen aus damaliger Sicht weitgehend nachvollziehbar sein, die Motive für Meinhofs Entscheidungen hingegen sind vielen Zeitgenossen nach wie vor ein Rätsel geblieben, so etwa dem Professor der Freien Universität Berlin, Harry Pross, der Meinhof 1969 einen Lehrauftrag genehmigt hatte: Er würde gern „etwas darüber erfahren, wie die hochbegabte Journalistin zur Terroristin werden konnte".⁸ Als renommierte Meinungsstifterin der westdeutschen Neuen Linken unterschied sich Meinhof einigermaßen von den anderen Gründungsmitgliedern der RAF: Sie war etwas älter und hatte bereits eine für eine linke politische Journalistin ungewöhnlich erfolgreiche Karriere absolviert, als langjährige Redakteurin (1959-1968) und ca. zwei Jahre lang sogar als Chefredakteurin (1961-1962) der bekanntesten oppositionellen Zeitschrift der 60er-Jahre, der konkret. Der Rechtsanwalt Horst Mahler konnte zu diesem Zeitpunkt zwar auch schon auf eine erfolgreiche Karriere zurückblicken, er war aber für die Opposition kein Meinungsstifter gewesen. Meinhof hatte sich auch als Rundfunk- und Fernsehredakteurin einen Namen gemacht, zuletzt wirkte sie als Dozentin an der Freien Universität Berlin. Im privaten Leben war sie ebenso fest verankert gewesen, als Ehefrau und Mutter zweier Töchter, hatte aber auch große Umstellungen durchmachen müssen, als sie sich hatte scheiden lassen und 1968 nach West-Berlin gezogen war. Manchen galt sie als längst etabliert, weil sie in Hamburg nicht nur in den „linken Schickeriakreisen verkehrt, sondern kurz vor der Scheidung mit ihrem Mann für die Familie auch noch eine Jugendstilvilla in dem Stadtteil Blankenese gekauft hatte.⁹ Meinhof und den meisten „RAF-Gründern
gemeinsam war die Herkunft: Sie kamen fast alle aus höheren sozialen Schichten, viele hatten eine weiterführende Schulausbildung hinter sich, einige sogar ein abgeschlossenes Hochschulstudium.¹⁰ Was also den gesellschaftlichen Hintergrund anbelangt, handelte es sich keineswegs um eine Randgruppe.
Mit dem Begriff „formierte Gesellschaft im Titel dieses Kapitels wird der Blickwinkel auf die Frage gelenkt, woraus sich Meinhof bei der Baader-Befreiung mit ihrem „Sprung
verabschiedete und wodurch ihre Sichtweise – geprägt von jahrelang geführten Auseinandersetzungen und zahlreichen Protestveranstaltungen gegen die von den konservativen Kreisen immer wieder angestrebte „Neuformierung" – begründet war.¹¹ Meinhofs häufigstes Thema in ihren konkret-Leitartikeln waren die geplanten Notstandsgesetze, die eng mit der Zielsetzung der formierten Gesellschaft zusammenhingen.¹² Nach Auffassung ihres Verlegers und Freundes Klaus Wagenbach habe sie 1970 erkannt, dass sie mit Worten nichts mehr verändern konnte.¹³ Die Forschungsaufgabe besteht nun darin, genauer zu untersuchen, was Meinhof zu diesem Zeitpunkt bewogen haben kann bzw. veranlasst hat, endgültig „Abschied von der Legalität" zu nehmen. Dafür können drei unterschiedliche Erklärungsmodelle bzw. Hypothesen zu Rate gezogen werden.
Erstens muss gefragt werden, ob die Einschätzung ihres Ex-Ehemannes sowie vieler weiterer Zeitzeugen zutrifft, dass sie in den bewaffneten Kampf bzw. in den Terrorismus mehr oder weniger hineingestolpert bzw. ohne großes Zutun einfach „hineingerutscht" ist. Diese Sichtweise, die eine eigene, aktive Entscheidung von Meinhof ausschließt, kann als maskulines Bild über sie begriffen werden, das im folgenden Kapitel 1.2. Die bisherige Meinhof-Rezeption genauer dargestellt wird.
Zweitens kann ihr Untertauchen als Folge ihrer eigenen Entwicklung und zugleich mit als Teil der damaligen gesellschaftlichen Umbruchsituation betrachtet werden: Die selbst unternommenen Anstrengungen und gemeinsam mit anderen gleichgesinnten „Antiautoritären erfolgte Suche nach der tiefer liegenden „Wahrheit
im Zusammenhang mit den verschärften Maßnahmen von Polizei und Justiz gegen Demonstranten und sonstige Aktivisten haben zu einem Radikalisierungsprozess geführt. Trifft auch auf Meinhof zu, dass das Phänomen einer sekundären Devianz durch die „staatliche Repression noch „bestärkt
, also eine „noch stärkere Bindung des Einzelnen an sein oder ihr abweichendes Verhalten" bewirkt wurde, was dann zu einer Intensivierung der eigenen Aktivität, zur Marginalisierung und letztendlich zur Kriminalisierung geführt hat?¹⁴ Eine bei einer solchen Betrachtung zentrale Frage ist, ob und inwieweit Meinhofs Entscheidung, ganz unterzutauchen, maßgeblich beeinflusst war von der außergewöhnlichen steckbrieflichen Fahndung nach ihr. War dies der sprichwörtlich letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht und Meinhofs Abschied von der verbalradikalen Verfechterin hin zu einer „praktisch" agierenden Revolutionärin endgültig besiegelt hat? Wenn es so war, dass diese Maßnahme ein entscheidender Grund für Meinhofs Untertauchen war, drängt sich unwillkürlich die Frage auf, ob und inwieweit ihr Handeln etwa durch reaktive Züge bestimmt worden ist. Die bundesdeutschen Terrorismusforscher sind sich allerdings darin einig, dass kein Mitglied der RAF bei dieser Entscheidung ohne Alternative gewesen sei. In dem recht jungen Film Der Baader-Meinhof-Komplex (2008) gibt es eine wichtige Szene, in der diese Annahme für Meinhof einleuchtend dargestellt wird: Als es bei der Baader-Befreiung zum Einsatz von Schusswaffen kommt und alle anderen Befreier zusammen mit Baader aus dem Fenster in die „Freiheit" springen, zeigt die Kamera Meinhof, allein im Lesesaal, wo sie noch einen Augenblick stehen bleibt und sich offenbar überlegt, ob sie ebenfalls die Flucht ergreifen oder im Lesesaal bleiben soll – und erst dann, nach diesem kurzen Zögern, sich dazu entschließt, den anderen zu folgen.
Aus einer solchen Sicht des Verfahrensablaufes kann drittens die Frage abgeleitet werden, ob Meinhof im Zusammenhang mit der Baader-Befreiung nicht erst an Ort und Stelle die Entscheidung getroffen hat, aus dem Fenster zu springen. Meiner Auffassung nach ist ein Entschluss mit so existenzialistischen Folgen eine derart grundlegende Angelegenheit, dass ein Mensch bzw. eine Frau wie Meinhof so etwas nicht einfach aus dem Moment heraus machen konnte. Von daher lautet die alles überragende erkenntnisleitende Forschungsfrage der Untersuchung auch nicht, warum Meinhof Terroristin wurde bzw. werden wollte. Es muss vielmehr ungleich detaillierter als bisher erfolgt der Prozess analysiert werden, wie es dazu kommen konnte, dass sich eine so unnachgiebige Verteidigerin von Gerechtigkeit und Legalität mit jemandem – aus einem völlig andersartigen Milieu stammenden Menschen – wie Baader „zusammengetan" hat, und welche Entwicklungen und Entscheidungen auf allen Seiten – vor allem aber seitens der RAF und der Staatsgewalt – ursächlich dafür waren, dass sie dann am Ende ihres politischen Wirkens eine Terroristin geworden ist.
Meinhof war zwei Jahre lang im Untergrund gewesen, als sie im Juni 1972 festgenommen wurde, so wie Baader, Ensslin, Raspe und Meins auch. Die ersten politischen Aktionen bzw. Anschläge, die sich gegen ein Springer-Hochhaus in Hamburg und amerikanische Militärbasen gerichtet hatten, hatte die Gruppe noch kurz davor – im Mai 1972 – verübt. Erst im Herbst 1977, als die Auseinandersetzungen zwischen der RAF und der Staatsgewalt noch sehr viel mehr an Schärfe zugenommen hatten, folgten die Entführungen des Präsidenten des Arbeitgeberverbandes, Hanns Martin Schleyer, und einer Boeing-Maschine der Lufthansa mit 82 Passagieren. Diese miteinander verknüpften – sich in einer einzigen Tragödie offenbarenden – Ereignisse endeten im Oktober in dem Geiseldrama von Mogadischu, dem Tod der drei Gefangenen in Stuttgart-Stammheim sowie dem Tod von Schleyer.¹⁵ Meinhof war schon ein Jahr davor, am 8. Mai 1976, verstorben – sie wurde nicht einmal 42 Jahre alt –, aber ihr Name wird unweigerlich mit den Ereignissen von 1977 verbunden bleiben.
Die Aktionen und Mittel von 1977 unterschieden sich stark von denjenigen, mit denen die RAF ihren „Stadtguerillakampf 1970 angefangen hatte. Wenn man diesen Tatbestand nicht zur Kenntnis nehmen will, kann man die Beteiligung einer intellektuellen Frau wie Ulrike Meinhof an diesen Aktionen nicht verstehen, sie bleibt unerklärlich. Wenn Meinhof in ihrer Person nicht eindimensional, d. h. aufgrund einer Tätigkeit oder Mitgliedschaft in einer Gruppe, sei es als „Konkret-Kolumnistin
„Kommunistin oder „Terroristin
, oder aber aufgrund einer vermeintlichen Eigenschaft, z. B. als völlig „verzweifelte Person oder als Frau, die „sich hundertprozentig geirrt
habe, begriffen, sondern ihr Wesen als „komplexes Netzwerk bedeutungstragender Strukturen"¹⁶ analysiert wird, kann ein vielfältigeres, wenn auch teilweise widersprüchliches, so doch sehr viel realistischeres Bild von ihr konzipiert werden. Obwohl Meinhofs Entscheidungen mitunter schwer zu verstehen sind, kann ihr Tun wissenschaftlich doch so transparent und nachvollziehbar „aufbereitet werden, dass man sie „sowohl im Guten als auch im Bösen
als eine starke, einflussreiche und unabhängige Akteurin ansehen und begreifen kann.¹⁷
1.2. Die bisherige Meinhof-Rezeption
Als Ausgangspunkt für die Ziele der vorliegenden Arbeit bietet sich in hervorragender Weise das Jugendbildnis von Gerhard Richter (Bild l)¹⁸ an, in dem der Künstler u. a. betont, dass das Leben dieser Frau, die als „Terroristin" weltweit bekannt geworden ist,¹⁹ auch viele andere Züge hatte und dass es keine Einbahnstraße war, die zu ihrem gewalttätigen Ende geführt hat.²⁰ So ist es aber überwiegend dargestellt worden: Bis vor Kurzem waren sowohl die verschiedenen biografischen Darstellungen – Bücher, Filme, Artikel, Interviewaussagen – als auch die ihre Person betreffenden Aussagen vonseiten der Terrorismus-Forschung sehr stark von finalen Erklärungsversuchen und von einem vorherrschend maskulinen Bild über sie bestimmt.
Mit der Blickrichtung „maskulines Bild über Meinhof" soll der sehr früh entstandene Forschungshorizont erhellt werden, wonach die bisherige Meinhof-Rezeption hauptsächlich von Männern gestaltet und von deren Interpretationen geprägt worden ist. Die klischeehafte Sichtweise ist durch das Buch Fünf Finger sind keine Faust. Eine Abrechnung ihres Ex-Ehemannes Klaus Rainer Röhl in die Welt gesetzt worden.²¹ Sein Buch galt lange Zeit als das Standardwerk: „Das hat Röhl schon alles erzählt", lautete auf Fragen nach Informationen über Meinhof der Standardkommentar, den ich am Anfang meiner Recherchen über sie von Zeitzeugen und Archivaren oft zu hören bekam.²² Bis zum Jahr 2006 hatten Frauen sich in der Öffentlichkeit relativ wenig zu ihrer Person geäußert,²³ zu den Ausnahmen zählen auch einige Angehörige: Meinhofs Pflegemutter Renate Riemeck (1994) sowie ihre Töchter Bettina und Regine Röhl.²⁴ Die Stellung der Männer als Meinungsmacher ist nach wie vor sehr dominierend, und ursprünglich hatte ich vor, mein Untersuchungsinteresse auf das Bild der Männer über Ulrike Meinhof zu fokussieren. In der Zwischenzeit wurde dieser Begriff allerdings durch die Definition eines maskulinen Bildes ersetzt, weil eine solche weit verbreitete Interpretation nicht eindeutig von dem Geschlecht abhängig ist.²⁵ Es geht also nicht um das jeweilige Geschlecht des Autors bzw. der Autorin, sondern um den „Charakter des Schreibens – im Fall Meinhof und bei der Interpretation ihrer Biografie darf nicht unerwähnt bleiben, dass auch Frauen durchaus Texte mit „maskulinem Charakter
schreiben können, das heißt, dass kaum – wenn überhaupt – Raum gelassen wird für deren eigene Auffassungen und Empfindungen, soweit sie nicht mit denjenigen des dominanten maskulinen Betrachters vereinbar sind.²⁶ Das Ergebnis der präliminaren Analyse der Quellen ist, dass es keine neutrale Information über Meinhof gibt, sondern dass sie immer aus einem stark von dem Autor bzw. der jeweiligen Institution abhängigen Blickwinkel zu betrachten ist. Dasselbe gilt für die Terrorismus-Forschung, die in der BRD das Sicherheitsinteresse des Staates implizit verfolgt, was zwar verständlich ist, aber nicht ausreicht, um Meinhofs Motive hinreichend verständlich zu machen.
Als ich mit meiner Untersuchung schon weit vorangekommen war, hat Bettina Röhl 2006 ihr Buch So macht Kommunismus Spaß! Ulrike Meinhof, Klaus Rainer Röhl und die Akte KONKRET veröffentlicht, in dem sie den Aufbau eines „Mythos über die Herkunft von Meinhof kritisiert. Sie nennt neben ihrem Vater mehrere Autoren, die zu einer „Legendenbildung
dahingehend beigetragen hätten, dass Meinhofs „streng christliches Elternhaus ausschlaggebend dafür gewesen sei, dass „diese ,begabte junge Frau‘ in einen fanatischen Moralismus und schließlich in den Terrorismus abgeglitten sei
.²⁷ Ihre Kritik ähnelt der meinen, nur erweitert sie diese leider nicht in Hinblick auf die Betrachtung ihres ganzen Lebens, sondern beschränkt sie auf die Bedeutung, die dem vermeintlich christlichen Familienhintergrund beigemessen wurde. Zudem kann ich ihre eigene Schlussfolgerung, dass der „Kommunismus Meinhofs „große Leidenschaft
gewesen sei und sie zusammen mit Klaus Röhl und deren gemeinsamer Zeitschrift konkret „eine Schlüsselrolle beim Aufbau des Kommunismus in Westdeutschland" gespielt habe,²⁸ nicht zustimmen. Ganz unabhängig davon beinhaltet ihr Buch aber eine wertwolle Dokumentensammlung, die ich unten in diesem und in dem folgenden Teil der Einleitung weiter referieren möchte.
Was die von mir als „maskulines Bild über Ulrike Meinhof charakterisierte Rezeptionstradition für Folgen hat und wie diese Sicht nicht immer geschlechtsbedingt ist, werde ich im Laufe der Arbeit thematisieren bzw. belegen. Ich werde vor allem bestimmte Kennzeichen dieses maskulinen Bildes über Meinhof darstellen, es aber nicht eindeutig und streng definieren – was ursprünglich die Idee des „Männerbildes
gewesen war, mich aber hätte befangen machen können. Es geht eher darum, den Blickwinkel, aus dem Meinhof bisher betrachtet worden ist, in gewisser Hinsicht umzudrehen bzw. den Horizont zu erweitern. Und vor allem bedeutet es, sich nicht mit den bisherigen Bildern zu begnügen, sondern immer wieder aufs Neue nach Meinhofs eigener Meinung bzw. ihren Erfahrungen und ebenso nach den „praktischen Gründen und Umständen", die sich hinter den bisherigen Erklärungsmustern verbergen, zu fragen.
Als Beispiel für diese neue Art von Fragestellung kann die Kritik an der „Kolumnistin-Konstruktion" genannt werden, nach der Meinhof eine Starkolumnistin der Zeitschrift konkret gewesen sei. Es stimmt, dass sie seit ihrer Scheidung und ihrem Umzug nach West-Berlin im April 1968, was zugleich ihren Austritt aus der Redaktion bedeutete, „Kolumnen" geschrieben hat, aber wenn man ihre Tätigkeit davor als Redakteurin und Chefredakteurin nicht gebührend einbezieht, bleibt in der Tat „einzig und allein die stark betonte und immer wieder erwähnte Rolle als „Kolumnistin
übrig. Dabei wird dann die Tatsache in den Hintergrund gedrängt, dass von den über 100 Artikeln, die Meinhof in den Jahren 1959-1969 für konkret geschrieben hat, etwa die Hälfte Leitartikel waren,²⁹ und es wird ebenso vergessen gemacht, dass es sich dabei nicht um Kommentare einer „Außenseiterin" (Meinhof)³⁰ – so wie sie selbst später einmal die Position einer Kolumnistin kritisch reflektierte – gehandelt hat, sondern um Beiträge, die schließlich mit der Linie der ganzen Zeitschrift übereinstimmten bzw. diese Linie maßgeblich mitbestimmt haben.³¹ Weiterhin besteht auf diese Weise die Gefahr, dass dabei auch völlig übersehen wird, dass sie eine ganze Zeitlang die Chefredakteurin war und in nicht geringem Maße dazu beigetragen hat, dass sich konkret zu dem „inoffiziellen Zentralorgan der deutschen Linken entwickeln konnte. Es ist mir klar, dass viele, die Meinhof als Kolumnistin bezeichnen, diese Definition als neutral, wenn nicht sogar als eine Art „Aufwertung
verstehen, aber die Tatsache, dass bestimmte Autoren, die sich mit ihrem Leben näher beschäftigt haben – u. a. Röhl und der Biograf Krebs –, diese Titulierung benutzen, ohne die Bedeutung, die Meinhof einer solchen Funktion beigemessen hat, auch nur zu erwähnen bzw. sich damit überhaupt auseinanderzusetzen, ist zumindest befremdend, wenn nicht sogar irreführend. Wenn man ihre spätere Position als Kolumnistin ohne jeglichen Hinweis auf diese früheren, völlig andersartigen Konstellationen darstellt, wird sie einerseits „auf einen Sockel gehoben", andererseits aber in ihrer Schaffensbreite bei Weitem reduziert.
Ich werde ferner untersuchen, ob das maskuline Bild – und dadurch vermittelt u. a. auch die Kolumnistin-Betrachtung – zu einer Personifizierung des politischen Konfliktes zwischen unterschiedlichen Linien der Opposition beigetragen hat. Eine solche „Klassifikation von Meinungsunterschieden mutete einem bisweilen wie eine Wiederholung von „uralten
Begebenheiten aus dem 19. Jahrhundert bzw. den Anfängen des 20. Jahrhunderts an, als Meinungsäußerungen von Frauen noch – nicht zuletzt von Sigmund Freud – als hysterisch bzw. als Zeichen von Hysterie gedeutet wurden. Völlig verschwunden sind solche Interpretationsgewohnheiten offenbar immer noch nicht, ganz im Gegenteil: Man ist leider so gewöhnt daran, dass man (und auch „eine Frau") sie häufig gar nicht bemerkt, sodass sogar Entmündigungen oft ohne jeden Widerspruch hingenommen werden. Meinhofs Rolle als oppositionelle Meinungsstifterin hat sie offenbar in vielen Punkten unglaubwürdig erscheinen lassen, was im Ergebnis dazu führte, dass bestimmte Meinungen von ihr nicht oder aber nicht hinreichend genug beachtet wurden, was im Laufe der Untersuchung näher analysiert werden soll.
Meinhofs Schwester Wienke Zitzlaff hat mehr als einmal betont, dass Röhl als Ex-Mann von Meinhof „kein Interpret von Ulrike Meinhof" sein könne:
Ich würde ganz gerne an dieser Stelle noch einen Moment verbleiben: Aus frauenspezifischer Sicht, was ich total wichtig finde, ist klarzustellen, dass Röhl kein Interpret von Ulrike Meinhof sein kann. Er ist der beleidigte Ehemann, weil sie gemacht hat, was sie für richtig gehalten hat, und er versucht hat, sie politisch zu entmündigen.³²
Zitzlaff begründet ihre Kritik damit, dass sie das Leben ihrer Schwester aus einem Frauenblickwinkel anders begreifen kann als Röhl, aber schon allein aus quellenkritischen Gründen sollte man dessen „Alleinvertretungsanspruch" an Meinhofs Biografie vehement kritisieren. Röhl hat Meinhof als einen Teil seiner eigenen Lebensgeschichte dargestellt und ihren Werdegang dadurch geradezu zwangsläufig aus seinem Blickwinkel betrachtet. Bei Autobiografien geht es schließlich nicht nur um die Reproduktion der symbolischen Sinnwelten, sondern auch um deren Produktion,³³ sie sollen aber „keinesfalls als zufällige, individuelle Leistung, sondern als Produkte „sozialer Prozesse
verstanden werden.³⁴ Weil Röhl die Biografie seiner einstigen Ehefrau aus dem Blickwinkel seiner Autobiografie betrachtet, quasi als Teil seiner „biographischen Gesamtsicht" (Rosenthal), wird diese – obwohl viele der abgehandelten sozialen und politischen Ereignisse gemeinsam sind – einfach anders thematisiert und in Bezug auf ein anderes soziales Umfeld und Wertesystem als diejenigen von Meinhof reflektiert und bewertet. Grundlegend für Röhls autobiografische Konstruktion ist, dass sie zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt seines Lebens verfasst wurde, der eine Zäsur insofern darstellte, als er sich von seinem gewohnten bisherigen Leben verabschieden musste: Er hat das Buch 1974 verfasst, genau in dem Jahr, in dem er seine jahrelange Tätigkeit als Herausgeber der Zeitschrift konkret beenden musste. Meine kritischen Vorbehalte gegenüber der Stellung von Klaus Röhls eindeutig autobiografisch geprägtem Buch als der vermeintlich zentralen Quelle zum Verständnis von Meinhofs Biografie gelten also nicht Biografien im Allgemeinen, nur benutze ich solche Darstellungen als eine Quelle unter vielen,³⁵ die Aufschluss u. a. darüber geben können, in welchem Maße Individuen in ihre Umgebung eingebettet sind – um dadurch auch diese Umgebung selbst besser verstehen zu können, beispielsweise auch diejenige von Röhl. Meinhof hat dieses Buch und seine Sicht der Dinge im Gefängnis auch kommentiert, der Text ist aber unveröffentlicht geblieben.³⁶ Dieses Schriftstück werde ich später in Kapitel 7 als Quellenbeleg zum besseren Verständnis eines Teils des Kampfes der RAF um die Akzeptanz in der Öffentlichkeit analysieren. Im Laufe meiner Arbeit werde ich auch die Tatsache problematisieren, dass bis jetzt kaum jemand auf die Idee gekommen ist, Röhls Blickwinkel in Bezug auf die Meinhof-Biografie einmal grundsätzlich in Frage zu stellen. So werden in der bundesdeutschen Terrorismus-Forschung Ulrike Meinhofs und Horst Mahlers Texte und ihre möglichen ideologischen Verbindungen ausführlich analysiert, die Texte „des Kontrahenten Röhl" hingegen als völlig neutral angesehen.³⁷ Niemandem von denen, die Röhl als Quelle benutzt haben, scheint die politische Bedeutung seines Buches bewusst gewesen zu sein bzw. kaum jemand hat auch nur annähernd reflektiert, dass die Aussagekraft seiner Stellungnahme nur als eine von mehreren begriffen werden kann.
In dem maskulinen Bild wird Meinhofs Entscheidung für die Baader-Befreiung und die Gründung der RAF als Folge der Trennung von ihrem Mann begriffen, weil sie nach der Scheidung als alleinerziehende Mutter in West-Berlin „isoliert und „verzweifelt
gewesen sei und sich deswegen mit den falschen Leuten, d. h. also u. a. mit Baader, zusammengetan habe und wegen dessen schlechtem Einfluss auf die falsche Fährte geraten sei.³⁸ Nicht nur Meinhofs von der Mehrheit immer wieder abweichende Entscheidungen, sondern ebenso diejenigen ihrer Gesinnungsgenossen, die 1969 vornehmlich der Berliner kultur-revolutionären bzw. antiautoritären Szene angehörten und 1970 zu den Gründungsmitgliedern der RAF zählten, werden nahezu durchgängig bis auf den heutigen Tag entweder als „individuell oder aber als „von jemand anderem angestiftet
interpretiert.³⁹ Das Fatale dabei ist, dass – weil Biografien „narrativ und linear sind, ihr Ziel als „Enthüllung der ursprünglichen Identität
beschrieben werden kann, wozu eine bestimmte Gesamtheit bzw. Harmonie erforderlich ist – daraus in dem vorliegenden Fall geschlussfolgert werden kann und dies auch geschehen ist, dass Meinhof, weil sie bei der großen Zäsur in ihrem Leben als „abhängig begriffen und als „nicht selbständig handelnd
eingestuft worden ist, sie dies wohl auch früher nicht gewesen sein konnte.⁴⁰ Konsequent weiter gedacht impliziert dies, dass sie auch als Journalistin und Chefredakteurin von konkret nicht als intellektuelle und eigenständig agierende Person dargestellt werden dürfte.
Neben den Publikationen von Röhl habe ich mich mit den beiden Meinhof-Biografien, die zum Zeitpunkt der Quellenrecherchen dieser Arbeit vorlagen, also den Werken von Mario Krebs (1995) und Alois Prinz (2003), auseinandergesetzt.⁴¹ Auch den oben als Quelle bereits erwähnten Dokumentarfilm von Timon Koulmasis habe ich genauestens analysiert. Alle diese Männer gehen leider sehr konform mit der Meinung von Röhl und verbleiben auf dessen Argumentationsschiene. Darüber hinaus sind Der Baader-Meinhof-Komplex von Stefan Aust und Hitlers Kinder? Der Baader-Meinhof-Terrorismus von der britischen Journalistin Jillian Becker die bekanntesten bzw. am weitesten verbreiteten Bücher über Meinhof, insbesondere aufgrund englischer Übersetzungen außerhalb der BRD.⁴² Es gibt ferner eine Dissertation von Tobias Wunschik mit dem Titel Baader-Meinhofs Kinder: zweite Generation der RAF.⁴³ Die Buchtitel Hitlers Kinder? und Baader-Meinhofs Kinder sind kennzeichnend für die Rezeption von Meinhof und die Schwierigkeiten im Umgang mit diesem Mythos der Zeitgeschichte: Er wird als Kampf zwischen dem absolut Bösen und dem absolut Guten begriffen. Und das Schlimmste dabei scheinen nicht Meinhofs gesetzeswidrige Taten gewesen zu sein, sondern all das, wodurch sie gegen soziale Normen und kulturelle Bräuche verstoßen hat.
Bei solchen Themen wie der Fall von Ulrike Meinhof, die am Ende Teil der „RAF war, Themen, zu denen schon viel geschrieben worden ist, kann es dazu kommen, dass man Literaturhinweise ohne unmittelbaren Bezug zur „eigentlichen
Quelle zitiert. Auf dieses Problem, gerade hinsichtlich der Publikationen zum bundesrepublikanischen Terrorismus, weist Gisela Diewald-Kerkmann hin: „Dass die Akten quellenkritisch untersucht und Rechts- beziehungsweise Verurteilungsinteressen unterstellt werden müssen, versteht sich von selbst. Aber die Auseinandersetzung mit den Quellen ist notwendig vor dem Hintergrund einer nicht mehr zu überschauenden Literatur zum bundesrepublikanischen Terrorismus und einer Tendenz, Bewertungen weder quellenmäßig zu belegen noch empirisch abzusichern."⁴⁴
Bei der jüngst erschienenen Meinhof-Biografie von Jutta Ditfurth ist das Problem nicht der fehlende Bezug zu Quellen, sondern der Umstand, dass sie nur einen Bruchteil der von ihr sorgfältig recherchierten und zusammengestellten maßgeblichen Fakten mit Anmerkungen versehen sowie die beispielsweise von verschiedenen Interviewpartnern und -Partnerinnen vermittelten Erfahrungen weder untereinander noch mit den in Archiven aufzufindenden Fakten verglichen hat.⁴⁵ Dadurch ist es dem Leser unmöglich, im Einzelnen nachzuvollziehen, welche Fakten und Information direkt aus Dokumenten stammen, was dann persönliche Wahrnehmungen von Zeitzeugen und -Zeuginnen sind, und was wiederum ausschließlich Schlussfolgerungen bzw. Interpretationen der Autorin über Meinhofs oft ungewöhnlich anmutende Entscheidungen und ihr jeweiliges Handeln sind. Ein offengelegter und überprüfbarer Vergleich zwischen den unterschiedlichen Aussagen, Feststellungen und Informationen aus den Akten hätte dies zumindest teilweise ermöglicht – vor allem aber wäre es die Voraussetzung dafür gewesen, die Meinungen und Wahrnehmungen von Meinhof selbst akzentuieren und dadurch von denjenigen der anderen unterscheidbar machen zu können.
Das ist umso bedauerlicher, als Ditfurth zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie in der hier vorliegenden Forschungsarbeit über Meinhofs nicht gradlinig verlaufende Entwicklung kommt, beispielsweise in Bezug auf die „heikle" Zusammenarbeit zwischen konkret und der KPD: Diese Verwicklung bedeutet in der Tat nicht zwangsläufig, dass Meinhof „kommunistisch gesteuert" gewesen ist, d. h. ohne eigenes Urteilsvermögen hat agieren müssen, was an späterer Stelle noch näher ausgeführt werden soll. Immer da, wo Ditfurth ihre Textpassagen mit Quellenangaben versehen hat, ist ihr Buch als hochrangig einzustufen,⁴⁶ und auch wenn der Leser nicht sicher sein kann, ob die Autorin stets bemüht war, Meinhofs eigene Erfahrung nachzuvollziehen, gibt das Buch an vielen Stellen ein sehr lebendiges und auch zutreffendes Bild der zeitgeschichtlichen Entwicklung wieder, beispielsweise von der damaligen „antikommunistischen Atmosphäre, der sich Meinhof ausgesetzt sah: „Sie begriff jetzt, was das Verbot der KPD für die gesamte linke Opposition bedeutete. Fataler, als sich nicht nur zur KP bekennen zu können, war ihr, dass sie sich im SDS nicht offen ideologisch auseinandersetzen konnte, um nicht in den Verdacht zu geraten, Kommunistin zu sein.
⁴⁷
2007 sind neben Ditfurths Werk noch zwei weitere Publikationen zum Thema „Meinhof" erschienen: in der Reihe Extremismus und Demokratie die „politische Biographie" von Kristin Wesemann, eine Dissertation, und in Finnland das Sachbuch der Autorin des vorliegenden Forschungsvorhabens, Katriina Lehto.⁴⁸ Schon Wesemanns Titel „Kommunistin, Journalistin, Terroristin zeigt, dass sie in ihrer Arbeit ähnliche Schlussfolgerungen zieht wie die Tochter von Meinhof, Bettina Röhl, dass nämlich Meinhof „schon früh eine überzeugte und unbelehrbare kommunistische Ideologin
⁴⁹ gewesen sei und demzufolge auch die DDR kritiklos befürwortet habe. Wesemanns Buch sei – wie die Herausgeber, die „Väter der Extremismusforschung in Deutschland, Uwe Backes und Eckhard Jesse, in ihrem Vorwort feststellen –, die erste „wissenschaftliche Biographie
zu Meinhof und ihrem „politischen Denken.⁵⁰ Aufgrund meiner Untersuchungsergebnisse ist aber Wesemanns Position, Meinhof unzweideutig als „Kommunistin
anzusehen, eine Sichtweise, die außerhalb dieses Forschungszweiges keine weiteren Anhänger gefunden hat und m. E. so auch nicht aufrechterhalten werden kann. Mir scheint es, dass eine solche Schlussfolgerung für beide Autorinnen, Wesemann wie Bettina Röhl, als einzig überzeugende Erklärung für die Tatsache herhalten muss, dass eine westdeutsche Zeitschrift während der deutschen Teilung freiwillig eine Zusammenarbeit mit der illegalen KPD aufgenommen hat. Eine solche aus heutigem Blickwinkel geradezu unvorstellbare „Verbrüderung mit einem „totalitären Staat
bzw. einer kommunistischen „Diktatur kann offenbar nur so verständlich gemacht werden,⁵¹ d. h., eine Zusammenarbeit im Sinne gemeinsam verfolgter politischer Ziele für „Westdeutschland
erscheint als unmöglich, sodass man sich eine solche Verbindung nur als Unterordnung unter die ideologischen Ziele der SED vorstellen kann.⁵² Die in den Archiven vorhandenen DDR-Dokumente, die „den Nachkommenden überliefert worden sind, haben, wie man gesehen hat, einen besonderen Stellenwert – dies gilt insbesondere für die sog. Stasi-Unterlagen – auch für ehemalige „Westdeutsche
bzw. die Öffentlichkeit schlechthin, was stellenweise zu Überbewertungen bzw. zu nicht durchgängig stichhaltigen Interpretationen beigetragen hat. Wenn Ditfurth weitgehend darauf verzichtet, auf Quellen zu verweisen, hat Bettina Röhl gleich eine Fülle von Dokumenten aus der „Akte KONKRET"⁵³ in ihrem Buch nachdrucken lassen, die zu lesen dem Leser aufwendig erscheinen mag, die für Forschungsarbeiten wie im Falle von Wesemann und der vorliegenden Untersuchung aber durchaus wertvoll sein können. Welchen Stellenwert solche Schriftstücke allerdings für das Leben von Meinhof tatsächlich hatten, muss an anderer Stelle en detail überprüft werden.
Das in Finnland erschienene Sachbuch der Autorin ist leider nicht ins Deutsche übersetzt worden: Es ist ein für ein breiteres Publikum aufbereitetes Werk, das zwar im Wesentlichen auf denselben Forschungsergebnissen basiert wie die vorliegende Abhandlung, aber das Gewicht mehr auf die Herausarbeitung der menschlichen bzw. individuellen Dimensionen als auf die stringente wissenschaftliche Analyse gelegt hat. Das Buch hat in dem kleinen nordischen Land eine erstaunlich große Resonanz hervorgerufen, sowohl in den Medien als auch in der Leserschaft: Meinhofs Leben und Handeln, sei es ihre frühere Mitgliedschaft in der verbotenen westdeutschen KPD oder ihre spätere Teilnahme an der illegalen RAF, wird dort nicht als so spektakulär angesehen wie ganz offensichtlich immer noch in ihrem Heimatland. Jedenfalls verspürt man in Finnland weder als Autor noch als Leser das „dringende Bedürfnis, zu jedem Sachverhalt immer gleich „definitiv Stellung nehmen
zu müssen. Dadurch kann mehr diskursiver Raum geschaffen werden, insbesondere für neuartige unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten und Erklärungsversuche. Seitdem fast alle ehemaligen RAF-Mitglieder – außer Birgit Hogefeld und neuerdings auch wieder Verena Becker – aus der Haft entlassen sind, kann man langsam auf detailliertere und weniger von der zeitgenössischen Sicht belastete Arbeiten hoffen: Jüngst ist in der Suhrkamp-Reihe „BasisBiographien ein Buch von Sara Hakemi und Thomas Hecken erschienen; die überschaubare Kurzfassung von Fakten über Meinhofs Leben soll in naher Zukunft durch neueste Forschungsergebnisse zum Thema „Frauen, Terrorismus und RAF
wissenschaftlich ergänzt werden.⁵⁴ Dazu tragen auch weitere Neuerscheinungen bei: Vor allem die erste englischsprachige Monographie zu Ulrike Meinhof von der Germanistikprofessorin Sarah Colvin verdient dabei besondere Erwähnung, weil hier der Schwerpunkt auf die von Meinhof verfassten Texte aus der Zeit nach ihrem Untertauchen gelegt wird und diese als Schlüssel zum Verständnis ihrer Person und der von ihr eingeschlagenen Entwicklung ebenso betrachtet werden wie ihre Veröffentlichungen aus der Zeit davor.⁵⁵ Bedauerlicherweise habe ich dieses Buch erst entdeckt, als die Fertigstellung meiner Arbeit schon soweit vorangeschritten war, dass ich sie nicht mehr einbeziehen konnte.
1.3. Betrachtung einer intellektuellen Frau
1.3.1. Methodische Herangehensweise
Wenn die große Zäsur in Meinhofs Leben im Jahr 1970, die Entscheidung, unterzutauchen und sich an der Gründung der RAF zu beteiligen, nicht als Spätfolge der Ehescheidung und der dadurch entstandenen Lebenssituation interpretiert wird, besteht mehr Raum für alternative Erklärungsversuche. Vor allem wenn durch diese Veränderung des Untersuchungshorizontes an Meinhofs Selbstbestimmungsvermögen nicht mehr gezweifelt wird, können ganz andere Perspektiven nicht nur in Bezug auf diesen entscheidenden Moment, sondern auch für die Betrachtung ihres Lebens im weitesten Sinne geschaffen werden. In der vorliegenden Untersuchung werden gerade solche Fakten, die Meinhofs bewusstes Handeln zum Vorschein bringen, zum Ausgangspunkt gewählt, als der Umstand, dass sie eine bildungsbürgerliche Herkunft besaß, dass sie bei ihrem Universitätsstudium schon bis zu einer geplanten Doktorarbeit vorangeschritten war⁵⁶ und dass sie bereits eine zehnjährige, erfolgreiche Karriere als politische Journalistin hinter sich hatte. Weiterhin kann festgestellt werden – wie das Zitat am Anfang zeigt –, dass sie das Bedürfnis hatte, ihr Handeln sehr zielstrebig zu steuern bzw. auszurichten. Es geht daher in allererster Linie um das Leben und Handeln einer intellektuellen Frau.
In ihrer Untersuchung Simone de Beauvoir. Die Psychographie einer Intellektuellen nennt Toril Moi ihr Vorhaben die „persönliche Genealogie von de Beauvoir, um den Unterschied zwischen dem Anspruch einer „traditionellen
Biografieschreibung – die oben schon im Zusammenhang mit Klaus Röhls Buch dargelegt wurde – und ihrem eigenen Vorgehen zu verdeutlichen: Statt einer „einheitlichen Entwicklung, deren Ziel es sei, die „eigenständige Identität
der Person zu enthüllen, hebt sie drei „Momente" in de Beauvoirs Leben hervor, an denen man feststellen könne, dass sich etwas Entscheidendes ereignet hatte bzw. dass sie sich neu orientierte.⁵⁷ Moi betont den Einfluss bzw. die Wechselwirkung zwischen dem „Politischen und dem „Privaten
bzw. „Persönlichen. Zentral ist aber vor allem, dass diese „Brüche
etwas „Neues, etwas „Anderes
als das, was man nach herkömmlichen Vorbildern und Verhaltensmustern erwarten würde, hervorgebracht haben. Sie analysiert sehr differenziert die sozialen und institutionellen Rahmenbedingungen des jeweiligen „überraschenden Handelns von de Beauvoir und ermöglicht es damit dem Leser, nachvollziehen zu können, dass es sich trotz ungewöhnlicher Entscheidungen und Entwicklungen dabei nicht um ein „abweichendes Handeln
oder gar um eine „Persönlichkeitsstörung handelte, sondern dass im Gegenteil außergewöhnliche, in einigen Fällen geradezu einmalige Kombinationen von individuellen und gesellschaftlichen Momenten ein auf den ersten Blick „sonderbar
erscheinendes Handeln ermöglichen, fördern oder sogar erfordern.
In Meinhofs Leben scheint es, durchaus vergleichbar mit Mois Analyse über de Beauvoirs Leben, außer dem – hier im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehenden – bereits festgestellten Wendepunkt von 1970 noch zwei weitere Zäsuren gegeben zu haben, bei denen sie sich völlig neu orientieren musste: 1959, als sie ihr Studium vorläufig abbrach und sich für den Journalismus ebenso wie für Klaus Röhl entschied, und 1968, als sie sich infolge der Ehescheidung ins „revolutionäre" West-Berlin aufmachte. Alle drei Zeitpunkte waren aber einschneidende Wendepunkte nicht nur für Meinhof, sondern auch für viele andere, d. h. dass sie, indem sie etwas Tiefgreifendes erfuhr und durchlebte, keine Ausnahme darstellte.
Ob es sich bei den Ereignissen um das Jahr 1968 und bei dem Handeln der sog. „68er um eine „Revolte
oder um eine gesellschaftliche Umbruchphase handelte, beschäftigt Wissenschaftler schon lange.⁵⁸ Am Anfang war der Vorwurf weit verbreitet, dass es sich eher um einen „Generationskonflikt handelte, d. h. um einen altersbedingten Protest der jüngeren Menschen gegenüber ihren Eltern bzw. Vätern. Gegen einen vergleichbaren Verharmlosungsversuch hat Meinhof – zusammen mit ihrem Kommilitonen Jürgen Seifert – schon 1958 in ihrem Artikel Stellung bezogen, ein Jahr später hat sie dann darüber berichtet, wie sie mit ihren Mitstreitern den politischen „Durchbruch
erlebt habe. Eine solche Erfahrung unter gleichaltrigen jungen Menschen kann als generationsstiftende Entwicklung durchlaufen und begriffen werden, was als Generationserscheinung auch Gegenstand wissenschaftliche Analyse ist. Als Begründer dieser Forschungsrichtung gilt gemeinhin Karl Mannheim, der schon 1928 die vielzitierte Abhandlung „Das Problem der Generationen veröffentlicht hat.⁵⁹ Es ist also zu fragen, ob es angesichts einer solchen Erfahrung von Meinhof und ihresgleichen tatsächlich zur Herausbildung einer neuen „Generation
gekommen ist,⁶⁰ ob es den Anfang einer neuen geistigen und politischen Ära bedeutete und, sollte dies zu verneinen sein, ob dies dann zumindest 1968 der Fall war. Folgt man Mannheim, sollte untersucht werden, wann Meinhof ihr spezifisches „Schlüsselerlebnis hatte. Durch die Fahndung wurde Meinhof mit den Ereignissen von 1970 aufs Engste verbunden, dabei handelte es sich aber nicht um die „ersten Eindrücke
und entscheidenden politischen „Jugenderlebnisse (Mannheim).⁶¹ Zur Analyse der Hintergründe der RAF als „Nachfolgeerscheinung
der APO wird das von Norbert Elias dargestellte Modell eines „sozialen Generationskonfliktes einbezogen,⁶² das bestimmte, meist weniger beachtete Erklärungsfaktoren betont. Nicht neu in diesem Zusammenhang ist die Last der NS-Vergangenheit, weit weniger bekannt ist die Frage, was bei einigen bestimmte Formen des Aufbaus des deutschen Nachkriegsstaates bewirkten, und völlig außen vor geblieben ist bis dato die von Elias vorgenommene Analyse der zentralen Rolle, die die marxistisch „angehauchten
Theorien für die RAF spielten.
Die Betrachtung der einschneidenden Veränderungen in Meinhofs Leben gibt auch Aufschluss darüber, wie die gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse auf andere Teilnehmer der Bewegung gewirkt haben. Der Umbruch von „68 bedeutete nicht nur Kritik und das generelle Infragestellen der politischen Verhältnisse, beispielsweise hinsichtlich der konkreten Studienbedingungen, sondern hatte vor allem soziale und kulturelle Komponenten. Im Hinblick auf Problemfelder wie Medien, Kindererziehung, Wohnkultur, Strafvollzug, Heime usw. könnte es daher sein, dass diese Art persönlicher Befreiungsprozesse allen RAF-Gründungsmitgliedern gemeinsam gewesen ist, d. h., dass das Bedürfnis, in einer solchen Umbruchphase nach der „eigenen Predigt zu leben
und seine Zukunft als die eines „richtigen Revolutionärs auch entsprechend „zu gestalten
, den Schlüssel zur Erklärung der sich vollzogenen Radikalisierung bietet.
Meine Annäherungsweise kann auch als „Doppellesung der geschichtlichen Empirie" beschrieben werden. Der Ausdruck stammt von einer norwegischen Forscherin, Kari Martinsen, die bei der Untersuchung des Lebens und Handelns einer Diakonissin aus dem 19. Jahrhundert, Rikke Nissen, versucht hat, unbefangen sowohl gegenüber der Religion als auch gegenüber der Frau zu bleiben, d. h. genügend Raum für ein nichttraditionelles Verständnis einer religiösen Berufung zu geben.⁶³ Bei Meinhof scheint eine solche Annäherungsweise an einige Momente ihres politisches Handelns ebenso angemessen, was erkennen lässt, dass diese und die Bedeutungen, die ihnen zukommen, nicht im herkömmlichen Rahmen als politische Tätigkeit analysiert werden können: Allein die Verbindung von Meinhof und Klaus Röhl zur KPD muss m. E. als eine völlig „unorthodoxe" Form der Zusammenarbeit betrachtet werden.
Zudem muss im Falle Meinhof eine „geschlechtsspezifische Analyse des Sprechens und Schreibens" vorgenommen werden, weil die Erfahrungen von Frauen nun einmal nicht identisch sind mit denjenigen der Männer, und es muss ebenso untersucht werden, in welcher Weise sie mit ihren spezifischen Erfahrungen umgegangen ist.⁶⁴ So wie Meinhofs Ziel darin bestand, „der Wahrheit näher zu kommen (vgl. das Zitat am Anfang), ist es mein Ziel, „ihrer Auffassung näher zu kommen
. Das bedeutet vor allem, die Geschehnisse unter eingehenderer Beachtung der weiblichen Erfahrung und des Stellenwerts, den die Wendepunkte für ihre Biografie wie auch für die Zeitgeschichte besaßen, zu würdigen.⁶⁵
Ein zentrales Anliegen dabei ist die Erläuterung und Problematisierung zentraler Begriffe wie „Sozialist, „68er-Revolte
, „privat/politisch bzw. öffentlich, „Macht/Gewaltanwendung
„marxistisch-leninistisch, „Terrorist
usw. Was bedeutet es beispielsweise, wenn Meinhof sich 1969 als eine „Sozialistin" definierte, die bei konkret für „Landlehrer schrieb, welche keine Verbindung zu anderen „sozialistischen
Gruppen hatten, und die erst nach zehn Jahren, als ihre Karriere bei dieser Zeitschrift schon fast vorbei war, zum ersten Mal marxistische Begriffe und Theorieelemente zur Untermauerung ihrer Argumentation in der Öffentlichkeit benutzte?⁶⁶ Viele markante Begriffe haben im Laufe der Zeit sehr wechselhafte Bedeutungen erfahren, und ich versuche zu verdeutlichen, dass man ihnen keinen eindeutigen Inhalt zuordnen noch entnehmen kann, wenn sie als Mittel der Politik dienen mussten – einer Politik, die immer in Bewegung war und ist, sodass auch die Begriffsinhalte einer ständigen Wandlung unterzogen und von daher auch weiterhin immer wieder „neu" zu definieren sind.
Bei allen Begriffen muss also genau überprüft werden, wie sie jeweils verstanden bzw. mit welchem Inhalt sie gefüllt worden sind: Insbesondere „politische Termini müssen in Bezug auf die jeweilige politische Situation reflektiert werden. In einigen Fällen gelingt es auf diese Weise, gewisse „zeitgenössische Attitüden
, bisweilen sogar Unterstellungen, nachvollziehen zu können. Als gutes Beispiel dafür mag das für Röhl charakteristische Zitat von Meinhof aus dem Jahr 1969 über die Notwendigkeit „anderer Mittel" dienen:⁶⁷ In seinem Buch von 1974 stellt er diese Formulierung in einen vermeintlich unausweichlichen und konsequenten Zusammenhang mit einem bestimmten Bild der RAF als einer Gruppe, die mit Maschinenpistolen und Sprengstoff hantiere, d. h., er zieht die Schlussfolgerung, dass der Ausdruck „andere Mittel nur der Einsatz von Waffen bedeuten könne. Die Analyse meines Erachtens bisher nicht problematisierter Definitionen und auch wissenschaftlich nicht immer korrekt verwendeter Begriffe muss bei der Erkenntnis ansetzen, dass die Auseinandersetzungen, die 1970 begannen, für die Täter einen „bewaffneten Kampf
darstellten, wobei sie sich selbst als „Revolutionäre ansahen, für ihre Gegner und die breite Öffentlichkeit aber die „Baader-Meinhof-Bande
waren, eine Gruppe von „anarchistischen Gewalttätern", die nach dem Überfall der palästinensischen Gruppe Schwarzer September im September 1972 in München zunehmend als „terroristisch" agierend bezeichnet wurde.
Wie Gisela Diewald-Kerkmann in ihrer Habilitationsschrift (2009) feststellt, steht „die Auseinandersetzung mit dem bundesdeutschen Terrorismus in der Geschichtswissenschaft noch am Anfang".⁶⁸ Ihr zufolge existieren drei vorherrschende Literaturgattungen zu dieser Thematik: Erstens die eher „journalistisch verfassten Arbeiten, zweitens die soziologischen, kriminologischen sowie politikwissenschaftlichen Studien, drittens die „Selbstzeugnisse
und weitere Erinnerungsliteratur sowie Brief- und Textveröffentlichungen.⁶⁹ In ihrer Arbeit geht es vorrangig um den Umgang der Justiz mit den weiblichen Mitgliedern der RAF und der Bewegung 2. Juni, die sie aufgrund der Fahndungs- und Prozessakten analysiert hat. Eine Frage, auf die später in dieser Untersuchung noch näher eingegangen wird, sind die bisher selten unternommenen Versuche, die Entwicklung im Kontext der Protestbewegung der 60er-Jahre bis hin zum Auftreten militanter bzw. bewaffneter Gruppen der 70er-Jahre zu betrachten: Leider ist es bis jetzt bei der Analyse einiger Einzelfälle geblieben, so geschehen beispielsweise im Hinblick auf Rudi Dutschke und Dieter Kunzelmann oder zu Andreas Baader.⁷⁰ Ich habe eingangs die bisherige Literatur zu Meinhof mit sehr „kritischen Augen" vorgestellt, werde aber im weiteren Verlauf dieser Untersuchung auch noch Brücken zwischen den unterschiedlichen Literaturgattungen schlagen und die Verbindung zwischen 68ern und RAF zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft machen.
1.3.2. Quellen und ihre Anwendung
Die wichtigsten Quellen dieser Arbeit sind unterschiedliche Texte von Meinhof selbst oder über sie. Von den Letztgenannten wurden einige schon erwähnt. Die zentralen Fundstellen sind jedoch ihre eigenen Beiträge.⁷¹ Davon haben bisher hauptsächlich einige Artikel zu tagespolitischen Themen das Interesse der Autoren gefunden, wohl nicht zuletzt wegen der Suche nach Anzeichen von Meinhofs vermuteter Bejahung der Gewaltanwendung. Dass ein enormer und nicht minder wichtiger Teil ihrer Veröffentlichungen zu anderen Themen weithin unbeachtet geblieben ist, hat zu einem völlig unzureichenden Bild über sie beigetragen – zum einem, weil es sich um eine beachtliche Zahl an Texten handelt, und zum anderen, weil dabei Themen behandelt wurden, die allesamt „hochaktuell" waren und sich einer breiten Leserschaft erfreuten.
Ich werde alle Texte Meinhofs in die Untersuchung einbeziehen und einige von ihnen, die kennzeichnend für ihre Entwicklung sind, einer noch genaueren Analyse unterziehen. Einer der wichtigsten von allen ist Meinhofs Abhandlung „Die Würde des Menschen" von 1962, in der es nicht nur um die Notstandsgesetzgebung, sondern um die Politik der Nachkriegszeit im Allgemeinen und insbesondere um die Politik der SPD geht.⁷² Allein die Einbeziehung sämtlicher konkret-Artikel erweitert den Blickwinkel, d. h., dass nicht nur ihre konkret-Veröffentlichungen zu heiklen politischen Themen, sondern u. a. auch die Beiträge zu der wegen Mordversuchs angeklagten Vera Brühne (1962) und des wegen mehrfachen Kindermordes angeklagten Jürgen Bartsch (1968), zur Krankenversicherung (1963) sowie zu weiteren sozialen Themen analysiert werden. Wenn der Forschungshorizont um ihre in anderen Medien erschienenen Werke erweitert wird, stellt sich das Bild noch facettenreicher dar: ihre Hörfunkfeatures zu verschiedenen Heimen mit mehr oder weniger autoritären Erziehungspraktiken und zum Thema „Leichtlohngruppen der Frauen", das Manuskript für das Fernsehspiel Bambule (1968) usw.⁷³ Ihre unveröffentlichten Texte sind nicht weniger bemerkenswert: So gibt es eine Stellungnahme aus einem Prozess gegen drei Heimjungen (1969), in dem Meinhof als Sachverständige tätig war, und zwei weitere, die sie in Stuttgart/Stammheim verfasst hat, nämlich die bereits erwähnte zu Röhls Buch von 1974 sowie eine weitere zu dem Thema „sexuelle Minderheiten".
Es gibt nicht viele persönliche Notizen von Meinhof, und deswegen muss die Entwicklung ihrer Gedanken anhand mehrerer Quellen aufgespürt werden. Sie hat sich auch auf verschiedene Weise ausgedrückt, u. a. durch ihren Habitus, d. h. mittels Kleidung, Frisur, vor allem aber durch ihr Verhalten und ihre Handlungsweisen, die – wie auch bei Rudi Dutschke – von den tradierten Werten und politischen Normen abwichen und Ausgangspunkt meines Quellenstudiums sowie der vorgenommenen Textanalysen sind.⁷⁴ Der Habitus kann mithin als Beleg bzw. als Anknüpfungspunkt fungieren und muss als solcher analysiert werden. Meinhof hat bewusst auch auf diese Weise politische Aussagen getroffen und signifikante Positionen vertreten – besonders, was ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen, mit deren Zielen sie einverstanden war, betrifft.⁷⁵
Bisher unbekannte Quellen sind für eine Historikerin immer von ganz besonderem Wert. Dabei handelt es sich hier um Briefe von Meinhof an einige ihrer Familienangehörigen sowie um Akten zu der Baader-Befreiung, die erst vor einigen Jahren von der Staatsanwaltschaft Berlin dem Landesarchiv Berlin übermittelt wurden.⁷⁶ Das Depositum „Christiane Leonhardt im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn beinhaltet ca. 50 ihrer Briefe aus fast drei Jahrzehnten, angefangen mit dem Tod ihrer Mutter, als Meinhof 14 Jahre alt war, bis zum Februar 1975, als sie den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen hat.⁷⁷ Genau so bedeutsam wie die Briefe sind auch die Akten zu dem Prozess (September bis November 1974) über die Baader-Befreiung, obwohl sie nicht viele neue Erkenntnisse hinsichtlich meiner Fragestellung geliefert haben, weil Meinhof sich darin nur einmal geäußert hat.⁷⁸ Aus den Akten gehen jedoch viele Einzelheiten des Geschehens hervor – z. B. der exakte Verlauf der Aktion und die Zahl der Waffen, die dabei benutzt wurden. Besonders aufschlussreich waren die Akten der Staatsanwaltschaft zu der Fahndung nach Meinhof: Wie akribisch sie angelegt wurden, zeigt sich allein daran, dass sie sogar ein handgeschriebenes Konzept für das Fahndungsplakat sowie Rechnungen zu der Aufstellung der Plakate u. a. an den U-Bahn-Stationen von West-Berlin enthalten.⁷⁹ Als die Akten zur Baader-Befreiung während meiner Recherchen unerwartet zur Verfügung standen, habe ich mir überlegt, eine Einsichtnahme in die Akten zu der sog. „Hauptverhandlung
gegen die Mitglieder der ersten Generation der RAF in Stuttgart/Stammheim zu beantragen, schließlich aber darauf verzichtet, weil sie mir als ziemlich unergiebig erschienen; nachträglich wurde mir die Richtigkeit dieser Entscheidung auch von Gisela Diewald-Kerkmann bestätigt, die erst nach jahrelangem Bemühen einen Teil der von ihr beantragten Dokumente einsehen durfte.⁸⁰
Im Stasi-Archiv (BStU)⁸¹ und in der SAPMO⁸² des Bundesarchivs – beide in Berlin ansässig – habe ich bei meinen Recherchen (1999-2000) nur ein Dokument gefunden, das unmittelbar von der Zusammenarbeit von konkret-Redakteuren und Vertretern der illegalen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) handelte, das legendäre Gründungsprotokoll des Studentenkuriers (ab 1957 konkret) von 1955.⁸³ Allerdings habe ich, als das Buch von Bettina Röhl 2006 veröffentlicht wurde, erfahren, dass es noch weitere Dokumente zu dieser Zusammenarbeit im Bundesarchiv gibt: Die schon oben erwähnte Tatsache, dass sie einige Dokumente ganz hat nachdrucken lassen, hat es mir sehr viel einfacher gemacht, meine Untersuchung auch in dieser Hinsicht zu ergänzen.⁸⁴ Die mir vorher unbekannten Unterlagen haben aber das Gesamtbild nicht verändert, sondern nur noch einen weiteren Beleg dafür geliefert, dass Klaus Röhl ab August 1956 die Herausgeberrechte alleine ohne jede Mitwirkung der westdeutschen Kommunistischen Studentengruppen bekommen hat.⁸⁵ Dies bestätigt, was Röhl selbst behauptete – meine Analyse dazu in Kapitel 3 –, dass er nämlich trotz zeitweise scharfer Kritik der Vertreter der FDJ die Forderungen des Geldgebers u. a. aufgrund erhöhter Verkaufszahlen zurückweisen und weiterhin, was den Inhalt anbelangt, stets seine „eigene Linie" durchsetzen konnte.⁸⁶
Bettina Röhl hat in ihrem Buch noch weitere Dokumente verwendet, z. B. einige Briefe von Ulrike Meinhof, allerdings fehlte ihr der Zugriff auf diejenigen der Friedrich-Ebert-Stiftung, die ich einsehen konnte und die sich als sehr wichtige Belege für meine Untersuchung erwiesen. Der Zugang zu Quellen, die sich in Privatbesitz befinden, ist eine generelle Schwierigkeit für alle Forscher und Autoren, die sich mit Meinhofs Biografie beschäftigen. Was aber den Nachlass von Ulrike Meinhof anbelangt, so ergänzen sich die verschiedenen Veröffentlichungen über sie in hervorragender Weise.
Im Landesarchiv Berlin habe ich ferner weitere vorher nicht erwähnte, von daher wohl auch nicht benutzte Quellen aufspüren können, und zwar einen Briefwechsel, amtliche Protokolle sowie Notizen („Vermerke), die mit einem größeren Projekt von Meinhof zusammenhängen: 1968 hat sie im Auftrag des Südwestfunks ein Manuskript für einen Fernsehspielfilm über das Thema Heimerziehung verfasst und dafür in Berliner Mädchenheimen recherchiert. Die Ergebnisse wusste sie als Möglichkeit zur politischen Aufklärungsarbeit unter Heimmädchen zu nutzen, ein Umstand, der in Kapitel 4 näher betrachtet wird. Weitere neue Quellen haben mir Zeitzeuginnen erschlossen, die ich getroffen und teilweise auch interviewt habe: So habe ich noch weitere Briefe von Meinhof von ihrer Schwester Wienke Zitzlaff und von der Zeitzeugin und Forscherin zum Thema „68er-Revolte
Heide Berndt, erhalten.⁸⁷
Nicht unerwähnt bleiben darf das Archiv „APO und soziale Bewegungen", das durch Akteure bzw. Zeitzeugen, vor allem von Siegward Lönnendonker, aufgebaut, organisiert und geleitet worden ist.⁸⁸ In meinen früheren Examensarbeiten⁸⁹ hatte ich die Archivbestände schon benutzt, dieses Mal konnte ich aufgrund der hervorragend zusammengestellten Quellenpublikationen meine Fragen verhältnismäßig schnell beantwortet bekommen.⁹⁰ Wenn Meinhofs Leben und Wirken noch nicht „richtig Geschichte geworden ist und die Literatur, die sich mit den „68ern
beschäftigt, bis in die jüngste Vergangenheit überwiegend von Journalisten verfasst worden ist, sodass eine „wissenschaftlich fundierte und empirisch gestützte vergleichende historische Analyse" noch aussteht,⁹¹ stellen das Standardwerk zur Geschichte des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes von Siegward Lönnendonker und Tilman Fichter ebenso wie die Dissertation von Fichter zum Thema SDS in ihrem wissenschaftlichen Anliegen wie in ihrem Reflexionsniveau Ausnahmen dar und sind eine große Hilfe für diese Arbeit gewesen.⁹²
Auf kontroverse Meinungen einiger Zeitzeuginnen wurde schon hingewiesen; diesen Stimmen werde ich anhand verschiedener Quellen ebenfalls Gehör verschaffen und sie entsprechend in der Analyse berücksichtigen. Wenn es schon mehrere biografische Darstellungen – unter Einbeziehung von Filmen und Printmedien – über Meinhof gibt, so sind sie – wie bereits erwähnt – selten aus einem femininen Blickwinkel heraus entstanden. Insofern ist ein Werk der Journalistin Ulrike Helwerth für diese Arbeit besonders wertvoll, und zwar ihr Hörfunkfeature „,Sie war mir nah wie eine große Schwester‘. Ulrike Marie Meinhof und die Frauen" (1996) – nicht zuletzt, weil sie darin auch solche Zeitzeuginnen zu Wort kommen lässt, die ich nicht persönlich erreicht habe, deren Auffassungen mir dadurch aber ebenfalls zugänglich geworden sind, vor allem was Irene Goergens, ein ehemaliges Heimmädchen und RAF-Mitglied, betrifft.⁹³
Ich selbst habe zwölf Interviews, sechs mit Zeitzeugen und sieben mit Zeitzeuginnen, die Meinhof persönlich gekannt haben, geführt.⁹⁴ Von diesen Interviewpartnern und -partnerinnen haben nur Hermann Gremliza und Hans Bohrmann Meinhof nicht persönlich gekannt, sie hat bei ihnen aber einen umso größeren Eindruck hinterlassen – besonders bei Gremliza, den derzeitigen Chefredakteur von konkret, dem Meinhof 1963 als Redakteurin eine Abfuhr erteilte, als er ihr sein Konzept für einen Artikel vorstellte; das Schreiben wurde dann 1990 als erster Beitrag in seiner Festschrift zum 60. Geburtstag veröffentlicht.⁹⁵ Diese Angelegenheit ist übrigens ein gutes Beispiel für die eingangs erwähnte alltägliche, weniger anspruchsvolle „Dreckarbeit", die Meinhof bei konkret geleistet hat. Die Interviews spielten eine ganz zentrale Rolle dabei, den durch die maskuline Sichtweise geprägten Horizont zu verlassen und zu Meinhofs eigenem Blickwinkel vorzustoßen. Trotz der thematischen Gliederung haben die Zeitzeugen und -Zeuginnen nicht darauf verzichtet, ihnen auch persönlich noch wichtige Erinnerungen an Meinhof zu erzählen; die Anekdote über ein bestimmtes Kleid, auf die später noch eingegangen wird, ist nur ein gutes Beispiel dafür, wie thematische Interviews um persönlich einschneidende Erinnerungen ergänzt werden können.⁹⁶
Das Interview mit Anja Röhl (geb. 1955) war das erste, das ich führte, und insofern ein guter Anfang, als durch die bereits erfolgten Recherchen über Meinhof ein sehr düsterer Eindruck entstanden war.⁹⁷ Anja Röhl hat mir ein völlig anderes Bild vermittelt. Sie hat Meinhof schon als Kind kennengelernt, zunächst als Freundin ihres Vaters, später als dessen Ehefrau und ihre Stiefmutter, und offenbar ein sehr vertrautes Verhältnis zu ihr gehabt: Meinhof wurde von ihr als Vorbild wahrgenommen, und sie hat sich daher auch stärker mit ihr als mit ihrem Vater identifiziert, was ihr ganzes Leben beträchtlich beeinflussen sollte.⁹⁸ Die Erinnerungen von Lili Holtkamp hingegen waren eher sporadischer Natur, auf bestimmte Ereignisse fixiert: In dem Interview ging es in erster Linie um die Kinderbetreuung während der Baader-Befreiung, aber auch um wertvolle Einzelheiten in Bezug auf die Ehen beider Frauen, um Kinderpflege, insbesondere das Kinderstillen. Die Beziehung war auch dadurch geprägt, dass Lili Holtkamp anders als Meinhof nach der Hochzeit Hausfrau geworden war und dass ihr Ehemann Jürgen Holtkamp als langjähriger konkret-Redakteur Meinhof als Chefin hatte. Trotz des – in Bezug auf Hausarbeit – eher traditionellen Lebensweges war Lili Holtkamp von der Baader-Befreiung und dem Treffen mit Meinhof, als diese im Untergrund war, nicht erschrocken, weil sie aus einem kommunistischen Elternhaus kam und ihr dadurch illegale Arbeit und Umgang mit der Polizei schon von früher her bekannt waren. Die „Erfahrung im Umgang mit der Routine der Gewalt" ist insofern nicht unwichtig, weil das mit ein Grund dafür sein kann, dass Meinhof gegenüber Lili Holtkamp so viel Vertrauen hatte, dass sie ihr für die Zeit der Baader-Befreiung ihre Zwillingstöchter zur Betreuung gab.⁹⁹
Ein interessanter Umstand in Bezug auf die Aussagen ist, dass, obwohl die Frauen sich viel weniger veranlasst sahen, sich von Meinhofs Handeln politisch zu distanzieren – was schon durch die Bereitschaft, sich für ein Interview zur Verfügung zu stellen, zum Vorschein kam – , ihr Augenmerk ungleich mehr als das der Männer darauf gerichtet war, wie ich sie zitiere. Die Männer, mit denen ich sprach, machten sich keine größeren Gedanken darüber, einer sagte sogar: „Von mir aus können Sie schreiben, was Sie wollen." Die Frauen haben eindeutig weniger Wert auf die politische Distanzierung gelegt, dafür umso mehr auf die zutreffende Wiedergabe ihrer persönlichen Stellungnahmen geachtet. Klaus Röhl hat es leider für unnötig befunden, mich persönlich zu treffen, und meinte, dass ich doch alles aus seinen Büchern herauslesen könne.¹⁰⁰ Glücklicherweise gibt es ein ausführliches Interview mit ihm in dem Film von Timon Koulmasis (1994), durch das ich weitere Informationen über seine Auffassungen bekommen konnte. Dadurch, dass Röhl seine Kommentare auf die Nachfrage des Regisseurs abgab und die zeitliche Distanz noch erheblich größer als beim Schreiben seines Buches im Jahr 1974 war, ist die Sichtweise schon ein wenig verändert, obwohl ich gerne noch weitere Fragen – besonders in Bezug auf die politischen Meinungsunterschiede zwischen Meinhof und ihm ab 1968-gestellt hätte.
Die RAF hat sich zwar 1998 endgültig aufgelöst, aber bei meinen Recherchen habe ich die Erfahrung machen müssen, dass zwischen den ehemaligen Gegnern dieses gesellschaftlichen Konflikts nach wie vor eine Art „Kriegszustand" herrscht. Es ist nach wie vor schwierig, Kontakt mit den Beteiligten vonseiten der RAF – seien es Aktivisten, sog. Sympathisanten oder Angehörige – zu bekommen. Und im Gegensatz zu den USA ist es in der BRD noch nicht üblich, dass ehemalige Beamte der Polizei oder anderer Sicherheitsbehörden nach der Pensionierung Aussagen machen und Fernsehinterviews geben.¹⁰¹ Die äußerst bedeutungsvollen Treffen mit Ulrike Meinhofs Schwester Wienke Zitzlaff hat ein freundlicher Historikerkollege vermittelt. Im Hinblick auf die ehemaligen RAF-Mitglieder habe ich mich leider mit den Stellungnahmen derjenigen begnügen müssen, die sich ohnehin schon im Fernsehen und in Zeitungsartikeln zur RAF geäußert haben. Dabei sind vor allem die Kommentare von Monika Berberich und Karl-Heinz Dellwo besonders hilfreich gewesen. Gleiches gilt für Ralf Reinders, ein Mitglied einer anderen bewaffneten Gruppe, der Bewegung 2. Juni: Bei ihm geht es vornehmlich darum, die Hintergründe des damaligen bewaffneten Kampfes im Allgemeinen zu verstehen.¹⁰²
Man sollte vermuten, dass je näher man zur Zeitgeschichte vordringt bzw. auf diesem Gebiet forscht, desto mehr Archivdokumente und sonstige Fundstellen zur Verfügung stehen, aber dies trifft nicht zu. Mein Umgang mit den vielfältigen „Überbleibseln aus der Vergangenheit, die ich durch meine Herangehensweise erst zu „Quellen
gemacht habe, ähnelt der Art, wie man üblicherweise mit Texten umgeht: Es muss zunächst herausgefunden werden, wann, von wem und zu welchem Zweck ein Text entstanden bzw. verfasst worden ist, und zwar in genau welcher bestimmten Situation.¹⁰³ Das impliziert, dass ich alle Quellen – seien es staatliche Unterlagen, die von Beamten verfasst worden sind, Aussagen zum Habitus von Meinhof oder zum Geschenk von Röhl – als amtliche oder persönliche Stellungnahmen nicht losgelöst von der jeweiligen Situation betrachte. Es handelt sich dabei um eine Art Kombination von traditioneller Quellenkritik und dem zeitgenössischen Umgang mit persönlichen Quellen wie autobiografischen bzw. biografischen Texten und Interviews, eine Vorgehensweise, die lange Zeit – und teilweise immer noch – von vielen Forschern strikt abgelehnt worden ist bzw. wird.¹⁰⁴ Ich habe das mir zur Verfügung stehende Quellenmaterial aber nicht willkürlich „klassifiziert" oder hierarchisch eingestuft, sondern mich vielmehr von dem Erkenntnisinteresse leiten lassen, dass es vertretbar ist – auch vor dem Hintergrund der Vorgehensweise in der Biografieforschung – , alles zur Verfügung gestellt Bekommende zu verwenden, ohne den wissenschaftlichen Anspruch der Untersuchung dabei zu gefährden. Das methodische Vorgehen und die Ausführungen hinsichtlich der Quellenkritik ebenso wie die Plausibilität und Konsistenz meiner Argumentation werde ich im Fortgang der Untersuchung an den zutreffenden Stellen beschreiben bzw. vornehmen, ferner als Beispiel den Film von Koulmasis von 1994 anführen und nicht zuletzt eine abweichende Meinung der Zeitzeugin Anja Röhl dazu vorstellen.
Den Film von Timon Koulmasis habe ich als eine narrative Beschreibung aufgefasst, als einen Beitrag zur Meinhof-Biografie aus dem Blickwinkel eines Altersgenossen von Meinhofs Töchtern aus der Nachbarschaft – die Interviewaussagen, die der Film enthält, werden sowohl als Teil dieser Stellungnahme angesehen als auch als getrennte, d. h. als selbstständige Einheiten betrachtet und als biografische Konstruktionen beleuchtet.¹⁰⁵ Von den in dem Film gezeigten Interviews sind diejenigen mit Jürgen Seifert, Klaus Rainer Röhl und Klaus Wagenbach für meine Arbeit am wertvollsten gewesen, zumal sie einen Teil der heutigen Diskurse über Meinhof darstellen – eine Tatsache, die sich in den Aussagen von Zuschauern des Filmes bestätigt.¹⁰⁶ Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist der Kommentar von Anja Röhl, die sich zur Rolle der interviewten Männer in diesem Film äußerte (siehe Kapitel 6.3.3.):
Diese Männer, Freimut Duve, Wagenbach und mein Vater, waren „kleine Jungs damals, heute wäre Ulrike auch eine alte Frau, sie reden aber so, man sieht sie mit ihren grauen Haaren und sie wirken erwachsen, und sie reden so, als ob Ulrike damals ein „kleines Baby
war, sie reden von oben herab über sie, und das ist ganz lächerlich, das verbirgt nur ihre eigene Schwäche, die waren damals eingeschüchtert von Ulrike! Ulrike war sehr, sehr stark, eine sehr starke Persönlichkeit, alleine wenn sie zur Tür reinkam, sie war eine einnehmende Persönlichkeit, die eine relativ leise ruhige Stimme hatte und alle beeindruckt hat, sie hat Sachen gesagt, wie ein Philosoph, Sätze, die man ganz lange behalten hat.¹⁰⁷
Anja Röhls Hinweis, dass nach unseren kulturellen Bräuchen und Gepflogenheiten grauhaarige Männer automatisch Vertrauen erwecken und dass sie eine Frau wohlwollend, wenn auch im gleichen Atemzug entmündigend betrachten können, ohne Widerspruch hervorzurufen, ist insofern wichtig, weil sie damit nicht nur den Film, sondern auch die ganze Meinhof-Rezeption einleuchtend charakterisiert. Die Beschreibung ist plausibel, insbesondere der Gedanke, dass man eine Frau, die sich nicht mehr verteidigen kann und deren Leben ein tragisches Ende nahm, wie ein hilfloses, niedliches Kind betrachtet, gleichsam als ein „Baby, und dass man sie für die vielen „Fehler
, die sie nach Meinung der Männer als erwachsene Frau begangen hat, nicht verantwortlich machen kann. Die Tatsache, dass offenkundig bis zum heutigen Tage die Männer das Sagen über Meinhof haben, ist bislang auch in der Öffentlichkeit kaum analysiert bzw. infrage gestellt worden.¹⁰⁸
Dieselben kritischen Anmerkungen gelten auch für die Archivquellen, z. B. die polizeilichen Protokolle und Stasi-Akten, von denen ich ein Schriftstück eines Beamten näher analysiere, der wie die Autoren des maskulinen Bildes die Gefühle von Meinhof hervorhebt, aber nicht danach fragt, woher diese stammen bzw. welche Erfahrungen sie verursacht haben könnten.¹⁰⁹ Obwohl „offiziell d. h. entsprechend der gesetzlichen Vorschriften produziert, sind Papiere solcher Art nicht automatisch „objektiver
bzw. „neutraler" als andere Quellen – besonders wenn es sich dabei um politische Tatbestände handelt. Alle Quellen müssen in jedem Fall kritisch gesichtet werden, d. h. sie müssen auch mit anderen verfügbaren Quellen eingehend verglichen und bewertet werden.¹¹⁰
1.3.3. Gliederung der Untersuchung
Die Gliederung der vorliegenden Untersuchung ist nach den drei entscheidenden Momenten in Meinhofs Leben strukturiert. Es wird zwar in seiner Gesamtheit betrachtet, aber weitgehend nach den politischen Ereignissen, die Meinhofs Zielsetzungen maßgeblich mitgestaltet haben, unterteilt. In Kapitel 2 liegt der Schwerpunkt auf Meinhofs Politisierung: 1958 entstand im Zusammenhang mit der Kampf-dem-Atomtod-Kampagne eine studentische Bewegung für Abrüstung, an der Meinhof teilnehmen wollte und die 1959 ihren Durchbruch erlebte.¹¹¹ Das Kapitel schließt ab mit ihrem Entschluss, sich künftig als politische Journalistin bei konkret zu betätigen, und es werden die Veränderungen der damaligen politischen Situation aus der Sicht der studentischen Anti-Atom-Bewegung sowie deren Wirkung auf Meinhofs Entscheidung analysiert. Nicht unwichtig ist dabei die Betrachtung ihrer ersten öffentlichen politischen Auseinandersetzung mit dem damaligen Bundestagsabgeordneten (MdB) und Wehrexperten der Bundestagsfraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Helmut Schmidt, der sich fortan immer mehr als ihr ständiger politischer Widersacher, sozusagen als ihr „Erbfeind" entpuppte.
In Kapitel 3 wird zuerst ihr Karrieresprung bei konkret betrachtet, danach die großen Veränderungen in ihrem Privatleben – Ehe und Geburt der Kinder –, die beide eng miteinander verbunden waren. Meinhofs Tätigkeit bei konkret war unmittelbar verknüpft mit der Entstehung einer neuen linken Opposition vor dem Hintergrund der Veränderung der gesamten politischen Situation: Der 2. Juni 1967 gilt als „Katalysator der Außerparlamentarischen Opposition und der „Studentenbewegung
,¹¹² die ihren Höhepunkt im Februar 1968 erreichte¹¹³. Das Kapitel endet mit der Scheidung, die – so die Hypothese – nicht losgelöst von den Geschehnissen in West-Berlin betrachtet werden kann; diese hatten für Meinhof eine äußerst wichtige Bedeutung und dürften sie in ihrer Entscheidung stark beeinflusst haben: Ohne Aussicht auf eine „attraktive bzw. „politisch fruchtbar
erscheinende Perspektive hätte sich Meinhof vielleicht anders entschieden.
In den Kapiteln 4, 5 und 6 geht es um Meinhofs Zeit in West-Berlin 1968-1970, die aus drei verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wird. Um die Verbindung dieser Entwicklung zu der 68er-Bewegung – d. h. den Griff zu „militanten Mitteln, teilweise sogar zur Gewaltanwendung, als eine mögliche Folge derselben politischen und gesellschaftlichen Umbruchsituation, die auch die Protestbewegung hervorgerufen hat –, sichtbar zu machen, müssen die davor liegenden Ereignisse und die Gedankengänge, die diese begleiteten, gründlich beleuchtet werden: Es wird der Hypothese nachgegangen, dass sich Terrorismus „in der Regel am Rande von radikalen Massenbewegungen bildet
¹¹⁴ die entstehen, wenn „bestimmte politische Forderungen einer Bevölkerungsgruppe, -Schicht oder -klasse über längere Zeit unerfüllt bleiben.¹¹⁵ In Kapitel 4 werden die Veränderungen dargestellt, die infolge der neuen Familienkonstellation, des anderen Wohnortes und der veränderten beruflichen Situation auf Meinhofs Leben einwirkten, und es wird der Versuch unternommen, ausfindig zu machen, welche Folgen das möglicherweise für ihre weitere politische Orientierung gehabt hat. In Kapitel 5 wird das im Hinblick auf sie als „Fegefeuer
beschreibbare und von ihr wohl auch so empfundene Erleben der Option einer Anwendung der „härteren Mittel" im politischen Kampf verglichen mit den teilweise anderen Meinungen prominenter Mitglieder der Protestbewegung. In Kapitel 6 folgen dann Ausführungen zu dem, was sich davor abgespielt hat, zum eigentlichen Ablauf und zu Meinhofs Anteil an der Baader-Befreiung sowie zu den eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen.
Das Jahr 1970 stellt den Beginn einer neuen Phase dar, sowohl in Meinhofs Leben als auch für die ganze Bundesrepublik Deutschland, die durch eine zunehmende Eskalation der Auseinandersetzungen zwischen RAF und Staatsapparat geprägt war. In Kapitel 7 werden die Gründung, der „Stadtguerillakampf von 1970-1972 und die Gefängniszeit der ersten RAF-Generation aus Meinhofs Blickwinkel analysiert – eine Phase, die im Nachhinein sehr stark durch Meinhofs Isolationshaft wie durch ihren Tod geprägt wurde. Um die Sichtweise zu untermauern, Meinhof sei weder bei den Protestbewegungen der 50er- und 60er-Jahre noch bei der RAF ein „Ausnahmefall
, sondern im Gegenteil die sogar auffälligste Person gewesen, werden in diesem Kapitel zwei Analyseexkurse unternommen. Auf die „späte Geburt des Begriffes „Terrorismus
in der heutigen Bedeutung wurde oben schon hingewiesen – die Analyse des Sinnzusammenhangs auch noch weiterer als selbstverständlich benutzter Termini wird in Kapitel