Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Tage des Niedergangs: Band 1 der Siegel-Chroniken
Tage des Niedergangs: Band 1 der Siegel-Chroniken
Tage des Niedergangs: Band 1 der Siegel-Chroniken
Ebook328 pages4 hours

Tage des Niedergangs: Band 1 der Siegel-Chroniken

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

"Laut den letzten Informationen ist die Lage völlig außer Kontrolle geraten. Die Unruhen haben längst das ganze Stadtgebiet ergriffen. Noch immer liegen keine offiziellen Berichte über den Auslöser dieser Katastrophe vor. Wir wurden aufgefordert, das Studio zu verlassen, da unsere Sicherheit nicht mehr garantiert werden kann. Bitte treffen sie alle nötigen Schutzmaßnahmen. Bringen sie sich in Sicherheit! Wir stellen mit sofortiger Wirkung den Sendebetrieb ein. Wir wünschen unseren Zuhörern alles Gute. Passen sie auf sich auf!"

Der Beginn einer post-apokalyptischen Hetzjagd, deren Ende jenseits aller Vorstellungskraft liegt!
LanguageDeutsch
Release dateFeb 26, 2014
ISBN9783939212676
Tage des Niedergangs: Band 1 der Siegel-Chroniken

Related to Tage des Niedergangs

Titles in the series (2)

View More

Related ebooks

Science Fiction For You

View More

Related articles

Reviews for Tage des Niedergangs

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Tage des Niedergangs - Andreas Schnell

    Rozvadov

    Erstes Kapitel

    Wenn man nur noch ein paar Monate zu leben hat, beginnt man sich vorzubereiten. Sind es nur noch Tage oder Stunden, hat man sich damit abgefunden oder man stemmt sich dagegen und hält am Leben fest.

    So oder so: Der Sensenmann legte keinen Stopp auf seiner Welttournee ein. Er kommt vorbei, nimmt dich mit. Egal ob du glaubst, du seist vorbereitet oder dir ein paar Momente erkaufen möchtest. Er kennt kein Pardon.

    Mein Vater gehörte ohne Zweifel zu den Menschen, die gerne noch dageblieben wären. Seit zwei Wochen verbrachte ich jeden Tag im Hospiz. Saß an seinem Bett und beobachtete, wie der einst so kräftige Mann immer mehr zu einem Häufchen Elend wurde. Er wollte einfach nicht loslassen.

    Am Anfang hatten wir noch geredet. Lange Gespräche über meine Kindheit, den Tod meiner Mutter und was er alles falsch gemacht hatte. Ich konnte ihm keine Absolution erteilen – sofern er denn überhaupt eine wollte – aber ich hörte zu und das schien schon genug zu sein. Tag für Tag wurden unsere Gespräche kürzer und verebbten schließen zu wenigen Sätzen am Tag.

    Es war sonst niemand da. Es war meine Pflicht bei ihm zu sein. Vergessen waren die verletzenden Worte oder die Tatsache, dass er den größten Teil meiner Kindheit schlicht und ergreifend nicht da gewesen war. Es zählte das Hier und Jetzt.

    Wenn mich jemand gefragt hätte, was ich mir jetzt gerade wünschen würde, so hätte ich geantwortet: »Mein Vater soll sterben.« Vielleicht hätte ich noch hinzugefügt, dass es dabei natürlich nur um sein Bestes gehen würde. Eigentlich kurios, denn es war schließlich das Ende seines Lebens. Aber es wäre politisch korrekt. In Wirklichkeit wollte ich einfach nur, dass es vorbei war.

    »Kann ich ein Schluck Wasser haben?«, fragte mein Vater und riss mich aus meinen Gedanken.

    »Klar«, sagte ich, stellte aber im nächsten Moment fest, dass die Karaffe leer war. »Ich hole was. Bin gleich wieder da.«

    Mein Vater nickte, was nicht viel mehr war als ein langsames Sinkenlassen des Kopfes. Ein »Danke« bekam er nicht mehr heraus und noch bevor ich den Raum verlassen hatte, waren seine Augen schon wieder geschlossen und der flach röchelnde Atem setzte ein.

    So hört es sich also an, wenn man stirbt, dachte ich auf dem Weg durch den cremefarben gestrichenen Flur. Es hatte nichts Mystisches, Verklärtes oder gar Harmonisches. Es war beschissen. Es stank und war grauenvoll. Nein, der Tod war keine Freude und in meinen Augen war jeder, der behauptete, er hätte keine Angst davor, ein verdammter Lügner.

    Als ich in der kleinen Küche angekommen war, die – genau wie im Flur – mit einigen, meiner Meinung nach geschmacklosen Bildern geschmückt war, traf ich Agnes. Sie war eine der Angestellten. Anfangs hatte ich mich in die Nesseln gesetzt, als ich sie Krankenschwester genannt hatte. In recht rigorosem Ton hatte sie klargestellt, dass sie keine Krankenschwester sei, sondern einfach jemand, der Menschen beim Sterben begleitete.

    Mittlerweile war aber das Eis zwischen uns gebrochen. Wir hatten in den letzten Tagen einige nette Unterhaltungen gehabt. Sie waren allesamt kurz und irgendwie belanglos gewesen, aber gut genug, um meinen desaströsen ersten Eindruck wieder wettzumachen.

    »Hallo Agnes«, sagte ich und nickte ihr mit einem Lächeln zu. Es war nicht echt, mir war nicht nach Lächeln zumute, aber es gehörte alles zu dem Spiel „Ich habe keine Angst vor dem Tod", das alle Beteiligten nur allzu gut zu spielen wussten.

    »Guten Abend, Karol«, erwidert sie und auch ihre Mundwinkel zuckten für einen Augenblick nach oben. Sie war schön. Nicht die Art von Schönheit, die mich dazu verleitet hätte, sofort in feuchtfröhliche Tagträume zu versinken. Es war etwas, das man erst sehen konnte, wenn man sie das zweite oder dritte Mal zu Gesicht bekommen hatte und sich die Mühe machte, hinter die Mauer aus müden Augen und fahrig zusammengeflochtenen Haaren zu schauen.

    Mir war nicht einmal bewusst gewesen, dass es schon Abend war, aber es ergab Sinn. Agnes war seit einigen Tagen in der Spätschicht. Sie hatte mir vor einiger Zeit erzählt, dass sie mit einer Kollegin die Schicht getauscht hatte, weil ihr Sohn krank war und sie nur für abends einen Babysitter hatte. Ich wusste nicht, wie alt ihr Sohn war, wer sonst auf ihn aufpasste oder was genau er hatte. Nette, aber belanglose Gespräche eben.

    Ich hatte die Karaffe wieder aufgefüllt und hätte direkt wieder zu meinem Vater gehen können, aber redete mir ein, eine Pause verdient zu haben. Mein Vater lag im Nebenzimmer im Sterben, aber ich wollte noch nicht zurück.

    »Wie geht es Deinem Sohn?«, fragte ich und setzte mich auf die Tischkante. Agnes schenkte sich gerade einen Kaffee ein und ich konnte sehen, wie sie einen Moment zuckte. War das Thema nicht mehr belanglos genug gewesen oder hatte sie das einfach nicht erwartet?

    »Schon besser«, sagte sie und drehte sich zur mir um. Sie lächelte wieder – es sah echter aus – und lehnte sich gegen die kleine Anrichte, auf der die Kaffeemaschine und ein paar andere Geräte standen. »Danke.«

    »Was hat er denn gehabt?«

    »Du weißt doch, wie das ist«, antwortete sie und hielt sich dabei mit beiden Händen an ihrer Tasse fest, so als würde sie ohne diese Stütze geradewegs nach vorne umfallen. »Irgendjemand schleppt was in die Klasse ein und dann macht es die Runde. Husten, Schnupfen und ein bisschen Temperatur. So was in der Art.«

    Nein, eigentlich habe ich keine Ahnung davon, dachte ich und nickte verständnisvoll. Ich hatte keine Kinder. Es war nicht so, dass ich keine haben wollte, aber für Vera hatte es nie die richtige Zeit gegeben. Erst war es die Karriere, dann die Depressionen und dann ein zehn Jahre jüngerer Mann mit Sixpack und blonden Haaren gewesen.

    Ich taxierte Agnes und versuchte zu schätzen, wie alt sie war. Dunkle Haare, keine einzige graue Strähne, ein paar Falten um die Augen und den Mund. Sie sah definitiv älter aus, als sie war.

    »Dritte Klasse?«

    »Gut geraten«, sagte Agnes und nun drang das Lächeln auch in ihren Augen vor. »Vierte.«

    Dann kehrte Stille ein. Ich war an der Reihe etwas zu sagen, vielleicht etwas Amüsantes oder zumindest etwas, dass die Unterhaltung am Leben halten würde. Aber für nichts dergleichen schien der richtige Moment zu sein. Tatsächliches hätte ich ihr am liebsten irgendein Kompliment gemacht. Dass sie eine tolle Mutter sei – obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, ob sie das wirklich war – oder wie gut sie ihren Job machte, zumindest das konnte ich einigermaßen einschätzen.

    Aber egal was, in der Küche, umgeben von sterbenden Menschen – einer davon mein eigener Vater – war weder der richtige Platz noch die passende Zeit.

    »Mein Vater hat Durst«, sagte ich und hielt demonstrativ die Karaffe nach oben.

    Agnes nickte. »Wir sehen uns.« Dann trennten sich unsere Wege.

    Man verlor jegliches Zeitgefühl, wenn man im Bett lag und nicht einschlafen konnte. Ich starrte die Decke an und fragte mich, wie lange ich nun schon wach lag. Dreißig Minuten, eine Stunde, zwei?

    Das Zimmer, in dem ich schlief, nur ein paar Meter von dem entfernt, in dem mein alter Herr einfach nicht sterben wollte, war schlicht und funktionell. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, das Waschbecken und nicht zu vergessen die Bilder. Von der gleichen schrecklichen Art, wie sie auch sonst im Hospiz zu finden waren.

    Ich fragte mich, ob alle vom selben Künstler stammten. Vielleicht jemand, der auch hier gestorben war und posthum alle anderen für die schlechte Behandlung bestrafen wollte, die ihm hier zuteil geworden war? Ihr habt mich einfach verrecken lassen! Wo waren euer Gott oder die beschissenen Schutzengel, als ich sie gebraucht habe? Pech gehabt, nun müsst ihr euch meine Bilder anschauen, bis ihr selber den Löffel abgebt.

    Am Ende war es aber nicht das Bild in meinem Zimmer, das mich um den – zugegebenermaßen dringen benötigten – Schlaf brachte. Es war das schlechte Gewissen. Wie zur Hölle konnte ich schlafen, wo doch jeden Moment mein Vater zum letzten Ritt satteln konnte? Müsste ich nicht bei ihm sein und mit wachen Augen diesen Moment abwarten, um ihm dann das kalte Händchen zu halten?

    »Zwecklos«, murmelte ich, warf die Decke beiseite und setzte mich auf die Bettkante. Ein Blick auf die Uhr verriet mir nicht nur, dass es fünf Uhr morgens war, sondern auch, dass ich eine geschlagene Stunde versucht hatte einzuschlafen. Was mir bis jetzt nicht gelungen ist, wird auch die nächste Stunde nicht klappen.

    Ich ging zum Waschbecken und während ich das kalte Wasser anstellte, warf ich einen Blick in den Spiegel vor mir. »Du siehst beschissen aus, Karol«, stellte ich fest und schaute meinem Spiegelbild tief in die Augen.

    Ich war keine 40, aber heute sah ich aus, als könnte ich mich direkt in die lange Schlange bei der Rentenstelle einreihen, um meine nicht vorhandenen Ansprüche anzumelden. Kein Tag mehr als vier Stunden Schlaf. Das hatte seine Spuren hinterlassen.

    Ich ließ das Wasser über meine Hände laufen und schüttete mir ein paar Spritzer ins Gesicht. Meine Mutter hätte es Katzenwäsche genannt und mich ermahnt, dass man so nicht vor die Tür gehen könne. Ich fragte mich ob sie – wo auch immer sie war – bereits auf meinen Vater wartete. Sicher konnte man sich nicht sein, aber ich bezweifelte es.

    »Gott ist tot«, sagte ich und dachte an die Vorlesungen meiner Studienzeit. Erinnerungen, die mir vorkamen, als wären sie die eines anderen Menschen. Eines Karol Formann, der irgendetwas in seinem Leben vollbracht hatte, das es seinem Vater ermöglicht hätte, stolz auf ihn zu sein. Vermutlich ist das eine Aufgabe, die für keinen Sohn zu erfüllen ist.

    Ich zog mich an. Dieselben Sachen wie gestern. Ich hörte schon wieder die Stimme meiner Mutter, die mir sagte, dass ich meinen Hintern endlich mal wieder nach Hause schwingen sollte, um mir ein paar frische Klamotten zu besorgen. Ich vermisste sie. Mal mehr, mal weniger, aber heute war einer dieser Tage, an denen ich sie gerne hier gehabt hätte.

    Als ich mein Zimmer verließ und auf den Flur ging, war es mucksmäuschenstill. Zugegebenermaßen war das Hospiz auch sonst kein Ort, an dem der viel zitierte Bär steppte, aber um kurz nach fünf Uhr morgens regte sich rein gar nichts.

    Ich ging in die Küche, machte mir einen Kaffee und schlurfte zu dem Zimmer meines Vaters. Dort angekommen blieb ich einen Moment vor der Tür stehen und stellte mir vor, was passierte, wenn ich in das Zimmer betrat und meinen alten Herren tot vorfinden würde. Trauer, Tränen oder – Gott behüte – vielleicht sogar Freude?

    Genau wie in den Tagen zuvor fand ich keine Antwort auf diese Frage und öffnete schließlich die Tür. Und genau wie sonst war mein Vater nicht tot. Er lag in seinem Bett und obwohl ich es nicht für möglich gehalten hätte, sah er noch ein wenig bleicher und eingefallener aus, als ich es in Erinnerung hatte. Aber vielleicht spielte mir mein Gehirn auch nur einen Streich.

    Ich nahm mir einen Stuhl, setzte mich neben ihn und trank meinen Kaffee. Ich konnte sehen, wie die Augen meines Vaters hinter den geschlossenen Liedern Kapriolen schlugen und fragte mich, was er gerade träumen mochte. Vielleicht zog sein Leben an ihm vorbei oder er malte sich im Unterbewusstsein bereits aus, was nach dem Tod passieren würde.

    Ich schaute dem Treiben eine Weile zu und begann schließlich, in dem kleinen Zimmer auf und ab zu laufen. Mit einem Blick aus dem Fenster versicherte ich mich, dass die Zeit nicht aufgehört hatte weiter voranzuschreiten, auch wenn es mir in den letzten Tagen des Öfteren so vorgekommen war. Die Sonne begann ihren mühsamen Aufstieg über den Horizont, die Dächer und Baumwipfel.

    Der Blick nach draußen entwickelte sich zusehends zu einem Ausflug in die vermeintliche Freiheit. Der Hausmeister, der sich in aller Frühe darum kümmert, das Unkraut zwischen den Pflastersteinen zu entfernen, die Vögel, die ihren Gesang anstimmten und der Duft der Freiheit, der nicht versetzt war mit den Ausdünstungen des herannahenden Todes. Alles schien so viel besser zu sein, als inmitten dieser Mauern mit dem Sterben eines Mannes zu hadern, der sich stets darauf verstanden hatte, mir keinen Platz in seinem Leben einzuräumen.

    »Guten Morgen«, hörte ich die Stimme meines Vaters hinter mir. Schuldbewusst fuhr ich herum, sicher, dass er nur deswegen aufgewacht war, weil er meine bitterbösen Gedanken in seinem unruhigen Traum aufgeschnappt hatte.

    »Morgen«, erwiderte ich und musste mich selbst ermahnen, nicht die Welpenblick-Pose einzunehmen, die ich als kleiner Junge perfektioniert hatte, um mich aus jeglicher Art von Schlamassel zu befreien.

    »Wie geht es dir?«, fragte mein Vater und schaute mich mit einem annähernd klaren Blick an. Es war einer der seltenen Momente, in denen man tatsächlich eine vernünftige Unterhaltung mit ihm hätte führen können. Die Schmerzmittel ließen langsam nach, sodass er nicht zu betäubt war, um mehr als einen sinnvollen Satz zu formen. Die Schmerzen waren aber noch nicht so schlimm, um ihn vollends im Griff zu haben.

    Ich ließ wertvolle Sekunden verstreichen, indem ich darüber sinnierte, was ich auf so eine Frage entgegnen sollte. So oder so würde mich die Antwort schlecht aussehen lassen. Wenn ich sage, dass es mir gut geht, weiß er, dass ich lüge. Sage ich aber, dass es mir beschissen geht, wirkt das gegen seinen Todeskampf geradezu lächerlich.

    »Müde«, sagte ich und hoffte, dass ich damit durchkommen würde. Es entsprach auch der Wahrheit. Vor nicht allzu langer Zeit war ich vor meinem Bett und dem herannahenden Schlaf entflohen. Nun sehnte ich mich nach beidem. Ich schob alle unnützen Gedanken beiseite und setzte mich wieder zu meinem Vater.

    »Glaubst du, sie wartet auf mich?«, fragte mein Vater.

    Mein Mutter war Jüdin gewesen und meinen Vater hatte man Zeit seines Lebens guten Gewissens zu den Agnostikern zählen können. Selbst wenn ich an das Konzept eines mystischen Schöpfergottes geglaubt hätte – was nicht der Fall war – konnte meine Antwort nur Nein lauten. Definitiv wären beide in verschiedenen Zimmern, vermutlich sogar unterschiedlichen Stockwerken des Hotels „Letzte Ruhe" untergebracht gewesen.

    »Was sonst?«, log ich meinen Vater ins Gesicht. »Sie hat dich doch nie aus den Augen gelassen.«

    Ich sah meinen Vater an und er hatte es geschluckt. Ob es daran lag, dass er einfach daran glauben wollte oder meine offensichtliche Lüge nicht erkennen konnte, wusste ich nicht und es spielte auch keine Rolle.

    »Ich habe Angst«, sagte mein Vater.

    Er war so leise gewesen, dass ich es kaum verstanden hatte, was aber nicht daran lag, dass er gerade zu schwach war. Es hatte etwas von einer unheilvollen Lüge, die man sein ganzes Leben lang mitgeschleppt hatte und vor der man sich fürchtete, sie laut auszusprechen.

    Ich konnte darauf nichts erwidern. Ich nahm die Hand meines Vaters – sie war feucht und kalt – und blieb einfach neben ihm sitzen.

    »Dieser Gedanke ist so weit weg. Selbst jetzt«, sagte mein Vater und drückte meine Hand ein wenig fester. »Du machst die Augen zu, so als würdest du einfach normal schlafen, doch du wachst nicht mehr auf. Es ist einfach vorbei. Die Dunkelheit. Endlos.«

    »Glaubst du denn daran?«

    »Ich weiß nicht, woran ich glauben soll«, antwortete mein Vater. »Ich habe … konnte das nie so sagen, aber insgeheim habe ich deine Mutter immer um ihren Glauben beneidet.«

    Das ist nicht das Einzige, was du ihr hättest sagen sollen, dachte ich, versuchte aber, den Gedanken sofort wieder zu verdrängen.

    »Ich möchte …«, begann mein Vater, bevor er aber den Satz zu Ende bringen konnte, überfiel ihn ein schrecklicher Hustenanfall, der etwa eine halbe Minute anhielt. Ich half ihm sich aufzusetzen, klopfte ihm ein paarmal auf den Rücken – wobei ich in dem Moment, als ich damit begonnen hatte, wusste, dass es vollkommen sinnlos war. Mein Vater hatte sich nicht etwa verschluckt, vielmehr gab seine Lunge langsam, aber sicher den Geist auf, genau wie die meisten anderen Organe.

    Nach dem Hustenanfall, der meinem Vater den letzten Rest Kraft geraubt hatte, sank er zurück in sein Bett. Nichts war mehr übrig von der kurzzeitigen Vitalität zwischen Schmerzen und komatösem Schlaf. Er schaute mich aus wässrigen Augen an, in denen kaum mehr Leben vorhanden war. Ich wusste, es würde nicht mehr lange dauern.

    Der kleine Aufenthaltsraum neben der Küche hatte seinen Namen kaum verdient. In den zwei Wochen, die ich nun hier im Hospiz war, hatte sich abgesehen von mir kaum jemand hier aufgehalten. Dabei war dies meiner Ansicht nach der Raum, der noch am freundlichsten war. Zweifarbige Wände – weiß und blau – ein paar großblättrige Pflanzen und natürlich das obligatorische Mobiliar.

    An der Wand hing ein Flachbildfernseher. Die Fernbedienung lag vor mir auf dem Tisch, neben einer Tasse Kaffee und etwas, von dem ich vermutete, dass es sich um einen Bagel handelte. Bereits nach dem ersten Biss hatte ich es bereut, mir das geschmacklose Ding aus der hauseigenen Küche mitgenommen zu haben.

    Gerade begannen die Nachrichten und ich versuchte meine spärliche Aufmerksamkeit auf den Fernseher zu richten. Alles war mir recht, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Nur weg von dem Gedanken an den Tod meines Vaters. Oh ja, das Spiel beherrsche ich auch bestens. Den Herrn Tod? Nein, denn kenne ich nicht. Nie gehört!

    Nachdem das übliche Gedudel und das Logo der Nachrichten abgelaufen waren, kamen aber meine Gedanken tatsächlich im Hier und Jetzt an. Ich machte ein wenig lauter, setzte mich aufrecht hin und beobachtete gespannt, was sich vor meinen Augen abspielte.

    Tatsächlich war ich die letzten Tage nicht wirklich auf dem Laufenden geblieben, hatte keine Nachrichten gesehen und keine Tageszeitung gelesen. Selbst mein Handy hatte ich ausgeschaltet. Das Hospiz war für mich wie eine Blase gewesen, in der die Zeit keine Rolle gespielt hatte. Ich bereute es augenblicklich, denn die Realität traf mich wie ein Hammer.

    Überall in Deutschland gab es Unruhen und seit gestern Abend schienen diese auch in Frankfurt angekommen zu sein. Die Worte des Sprechers liefen an mir vorbei und ich konnte nur entgeistert die Bilder anschauen. Tote, Verletzte, beinahe schon bürgerkriegsähnliche Zustände. Ich sah die Frankfurter Innenstadt: Überall Polizei und scheinbar verrückt gewordene Menschen, die sich erbitterte Kämpfe lieferten.

    Was mich überraschte, war nicht die zur Schau gestellte Brutalität, in den vergangenen Monaten war kaum ein Tag vergangen, in denen in den Nachrichten nicht irgendeine Hiobsbotschaft verkündet worden war: Krieg im Nahen Osten, blutige Straßenschlachten zwischen der Obrigkeit und linken Aktivisten, Tod und Chaos, wohin man blickte. Was mich in seinen Bann zog, war die nun greifbare Nähe des Ganzen. Nicht einmal eine Viertelstunde Autofahrt entfernt fand das statt, was ich nun gerade im Fernseher sah.

    »Nach dem Ende meiner letzten Schicht habe ich meinen Sohn zu meinen Eltern in den Taunus gebracht«, hörte ich die Stimme von Agnes hinter mir. Vor Schreck fegte ich die Fernbedienung vom Tisch und hätte mir um ein Haar den heißen Kaffee in den Schoß geschüttet.

    »Tut mir leid«, fügte sie hastig an und hielt sich ihre Hand vor den Mund. Ich war mir nicht sicher, ob sie sich über meine Reaktion amüsierte oder ihr es tatsächlich peinlich war. Ich winkte ab und hob die Fernbedienung wieder auf.

    »Macht nichts«, sagte ich. »Ich war so vertieft, ich hatte dich nicht kommen hören.«

    »Dein Vater?«

    Ich zuckte nur mit den Schultern. »Es geht langsam zu Ende.«

    Dann wieder Schweigen. Ich richtete meinen Blick zurück auf den Fernseher und versuchte, die angezeigte Grafik zu entschlüsseln, in der scheinbar die unterschiedlichsten Unruheherde in Deutschland aufgezeigt wurden. Piktogramme in der Form von Flammen. Mal größer, mal kleiner, je nachdem, wo viele Tote zu beklagen waren.

    »Was passiert da draußen?«, fragte ich.

    »Die Experten schlagen sich in den Talkshows die Köpfe ein«, sagte sie. »Keiner weiß es so richtig, denke ich.«

    Sie kam ein paar Schritte näher und legte mir eine Tageszeitung auf den Tisch. »Ist alles voll davon. Vielleicht lenkt es dich ab.«

    Ich klappte die Zeitung auf und wie es Agnes prophezeit hatte, schlug mir schon auf den ersten Seiten ein Potpourri aus Meinungen, Expertenstatements und wahnwitzigen Bildern entgegen. Ich schaute zu Agnes und nickte dankend. In diesem Momente drehte sie sich bereits um und ging aus dem Raum. Die Sterbenden verlangten nach ihr.

    Für den Moment alles um mich herum vergessend – allein dafür war ich Agnes schon dankbar – blätterte ich in der Zeitung. Es wurde von Drogen geredet, einem Virus, Massenpsychose und noch weitaus abstruseren Dingen. Es schien tatsächlich so, dass die sonst so redegewandten Experten im Dunkeln tappten. Sicher schien nur zu sein: Sehr viele Menschen – den Schätzungen zufolge Abertausende – verhielten sich wie Irre und töten alles, was nicht schnell genug wegrennen konnte oder aber verrückt genug war, sich zu wehren.

    »Egal ob offene Brüche, schwerste Schussverletzungen oder Reizgas. Nichts scheint der tollwutgleichen Angriffslust der Betroffenen Einhalt bieten zu können«, las ich leise aus einem Artikel. Immer wieder fiel mein Blick auf die Nachrichtensendung, die das Chaos, das in der Zeitung beschrieben wurde, nur noch zu untermauern und verstärken schien. Eine Gänsehaut überfiel meinen ganzen Körper und ich warf die Zeitung von mir, als hätte sich die Druckerschwärze plötzlich in Säure verwandelt.

    Ich stürmte regelrecht aus dem Aufenthaltsraum, der sich – mit dem noch immer plärrenden Fernseher – gar nicht mehr so angenehm anfühlte wie noch wenige Minuten zuvor. Ich ärgerte mich über die Welt. Konnte sie mich nicht einmal jetzt in Ruhe lassen, wo mein Vater starb? Hätte das alles nicht Zeit gehabt?

    Aber die Zeit, genau wie der Tod, war ein Raubtier, das einem im Schatten auflauerte und jede Schwäche ausnutzte. Bereit, sich auf einen zu stürzen und in Fetzen zu reißen.

    Als ich den Flur entlangging, zuerst gar nicht wissend wohin, dann auf das Zimmer meines Vaters zuhaltend, blieb ich für eine Weile an dem Abgang stehen, der zum Ausgang führte. Einige Sekunden haderte ich mit mir und war versucht, einfach das Hospiz zu verlassen, um zu schauen, was vor sich ging, warum die Welt scheinbar verrückt geworden war. Gleichsam war ich mir sicher, dass ich dann nicht mehr den Mut gefunden hätte, zurückzukommen.

    Mit jeder Stunde, die der Tag weiter voranschritt, verschlechterte sich der Zustand meines Vaters. Agnes und ein weiterer anwesender Arzt waren sich sicher, dass es noch heute mit ihm zu Ende gehen würde. Seit dem Hustenanfall in den frühen Morgenstunden war er nicht mehr bei Bewusstsein gewesen. Einige Male hatte er noch die Augen geöffnet, sagte jedoch kein Wort und ich war mir nicht sicher, ob er mich noch wahrnehmen konnte.

    Ich dachte an unser letztes Gespräch zurück. Man maß diesen vermeintlich magischen letzten Worten eine Bedeutung zu, aber sie hatten kein Gewicht. Ich rätselte darüber nach, was er noch hatte sagen wollen, aber auch das glich eher einer gedanklichen Fingerübung denn einem Mysterium, über das man noch Jahre später philosophieren würde.

    Als am späten Nachmittag lautstarke Gespräche in das Zimmer drangen – etwas, das ich während meiner Zeit im Hospiz noch nicht erlebt hatte – sah ich das als Gelegenheit meinen Vater für einen Moment zu verlassen und im Flur nach dem Rechten zu schauen.

    Eine kleine Gruppe von Polizisten, die allerdings in Sachen Ausrüstung eher an einen Militärtrupp erinnerten, diskutierten lautstark mit Herrn Rotfeld, dem Leiter des Hospizes, und zwei weiteren Angestellten, darunter auch Agnes.

    »Sie haben eine Stunde Zeit«, hörte ich den Polizisten sagen. »Danach kann ich für nichts mehr garantieren.«

    Dann sagte Agnes etwas. Ich konnte es aber nicht genau verstehen, da ich noch zu weit entfernt war und sie wesentlich leiser sprach als der Rest der Beteiligten. Überhaupt gehörte sie zu den leisen Menschen: Alles was sie sagte und tat, war auf einer merkwürdige Weise sanft. Sie hat auf jeden Fall den richtigen Job.

    Ich ging ein paar Schritte näher, um besser verstehen zu können. Die große Erregung der

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1