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Buffett: Die Geschichte eines amerikanischen Kapitalisten
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Ebook842 pages18 hours

Buffett: Die Geschichte eines amerikanischen Kapitalisten

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About this ebook

Warren Buffett hat es geschafft: An der Börse wurde er zu einem der reichsten Männer der Welt. Sein unglaublicher Investmenterfolg machte Buffett zur Ikone vieler Anleger. Buffett fasziniert: Er ist ein Milliardär, der einen unglaublich bescheidenen Lebensstil pflegt. Er ist ein sagenhaft erfolgreicher Anleger, der die Trading-Methoden der modernen Börsen verabscheut. Er ist ein brillanter Verhandler mit einer beinahe hausbackenen Ausstrahlung.
LanguageDeutsch
Release dateJun 30, 2010
ISBN9783941493513
Buffett: Die Geschichte eines amerikanischen Kapitalisten

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Reviews for Buffett

Rating: 4.333333333333333 out of 5 stars
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  • Rating: 4 out of 5 stars
    4/5
    It's a great read. Amazing for an author who did not have direct access to the subject. I've read Snowball and realized now, how detailed Snowball is!! Events mentioned in passing here are described in such detail there. But there is more emphasis on Buffett's investment philosophy and how it weaved into his life, and less on his personal life. It could be because of the limited access he had. Only topic which is covered in more detail here is the EMT (Efficient Market Theory) and Buffet's disagreement and distaste with it. If you are not interested in a really detailed account of Buffett's life and don't care much about his personal life, this is the book.
  • Rating: 4 out of 5 stars
    4/5
    Mr. Lowenstein does a fantastic job making the financial world understandable to people who aren't involved in it. This book did a great job as a biography. I found it a fascinating look into Mr. Buffets life.
  • Rating: 5 out of 5 stars
    5/5
    Outstanding and enlightening, this biography reveals the influences, trials, tribulations, and successes Mr. Buffett enjoyed and/or endured. His road has not been an easy one and I am not sure his focus and isolation would be enabled now as it was then by those surrounding him. Just reading about his experiences will affect my future investment decisions. Anybody who has an interest in the development of Buffett's career and in developing their investing skills should read this book. I would enjoy a new edition that continues into the 21st century.

Book preview

Buffett - Roger Lowenstein

Lynch.

OMAHA

„Wie ein in Smaragde gefasster Diamant, eine Zierde am Westufer des Missouri, da liegt es, Omaha, die Wunderstadt des Westens, ein Wunderding an Unternehmergeist, an Fähigkeiten und Fortschrittlichkeit."

WERBUNG EINER TELEFONGESELLSCHAFT, 1900

Fast ab dem Tag, als Dr. Pollard ihn sechs Pfund schwer und fünf Wochen zu früh auf die Welt holte, war Warren Buffett zahlenhungrig. Als Junge verbrachte er mit seinem Freund Bob Russell Nachmittage auf der vorderen Veranda des Hauses der Russells, von wo aus man eine belebte Kreuzung überblicken konnte, und sie notierten die Nummernschilder der vorbeifahrenden Autos. Wenn sich der Himmel verdunkelte, gingen sie ins Haus, breiteten den Omaha World-Herald aus und zählten, wie oft jeder Buchstabe vorkam. Sie füllten ganze Notizbücher mit Zahlenreihen, so als enthielten sie den Schlüssel zu einem euklidischen Rätsel. Oft griff Russel nach dem Almanach und las eine Liste von Städten vor. Eine nach der anderen spuckte Warren die Einwohnerzahl aus. „Ich sagte eine Stadt und er wusste es ganz genau, erinnerte sich Russell ein halbes Jahrhundert später. „Ich sagte etwa ‚Davenport, Iowa; Topeka, Kansas ; Akron, Ohio.‘ Ich sagte ihm zehn Städte und er wusste sie alle. Baseball-Ergebnisse, Pferdewetten – Zahlen aller Art waren Futter für dieses kostbare Gedächtnis. Gekämmt, geschrubbt und in eine Bank der Dundee Presbyterian Church gesteckt, vertrieb sich Warren sonntags die Zeit mit der Berechnung der Lebenszeit von Kirchenkomponisten. Er stand mit einem Tischtennisschläger und einem Ball im Wohnzimmer und zählte, zählte stundenlang. Er spielte Ewigkeiten lang Monopoly – und zählte seine imaginären Reichtümer.

Der blauäugige, blasse, rotwangige Warren war aber nicht nur von Zahlen fasziniert, sondern auch von Geld. Sein erstes Besitztum war ein vernickelter Geldwechsler, den ihm seine Tante Alice geschenkt hatte und den er fortan stolz am Gürtel trug. Als er fünf war, baute er auf dem Gehsteig vor dem Haus einen Kaugummistand auf und verkaufte den Passanten Chiclets. Später verkaufte er Limonade – aber nicht in der ruhigen Straße der Buffetts, sondern vor dem Haus der Russells, wo mehr Verkehr war.

Mit neun zählten Warren und „Russ" die Kronkorken aus dem Getränkeautomaten an der Tankstelle gegenüber vom Haus der Russells. Das war kein leeres Zählen, sondern primitive Marktforschung. Wie viele Orange Crush-Deckel? Wie viele Cola-Deckel, wie viele Root-Beer-Deckel? Die Jungs fuhren die Kronkorken in einem Karren weg und lagerten sie in Warrens Keller, und zwar haufenweise. Es fragte sich, welche Marke verkaufte sich am besten? Was war das beste Geschäft?

In einem Alter, in dem die wenigsten Kinder wussten, was Geschäfte waren, bekam Warren von seinem Vater, der Börsenmakler war, Tickerstreifen; er breitete sie auf dem Boden aus und entzifferte mithilfe des Standard & Poor’s seines Vaters die Aktiensymbole. Er suchte den örtlichen Golfplatz nach gebrauchten, aber verkäuflichen Bällen ab. Er ging zur Rennbahn Ak-Sar-Ben („Nebraska rückwärts) und durchkämmte den sägemehlbedeckten Boden; er schaute sich die zerknüllten, weggeworfenen Zettel an und häufig fand er einen Gewinn, der versehentlich weggeworfen worden war. Während der drückend heißen Sommer von Nebraska trugen Warren und Russ die Golfschläger für die reichen Gentlemen im Omaha Country Club und verdienten drei Dollar am Tag. Und als sie am Abend im stillen Zwielicht des Mittelwestens auf der Bank auf der Veranda der Russells schaukelten, brachten die Parade der Nashes und Studebakers und das Scheppern der Straßenbahn Warren auf einen Gedanken. Dieser ganze Verkehr hatte nichts Besseres zu tun als genau am Haus der Russells vorbeizufahren, sagte er immer – wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, damit Geld zu machen. Russells Mutter Evelyn erinnerte sich nach 50 Jahren noch daran. „Der viele Verkehr, sagte er immer wieder zu ihr. „Was für eine Schande, dass Ihr an den vorbeifahrenden Leuten kein Geld verdient. Als könnten die Russells an der North 52nd Street ein Mauthäuschen aufstellen. „Was für eine Schande, Frau Russell.

Aber wo kam das her?

Warren war das zweite von drei Kindern und der einzige Sohn. Seine Mutter war eine zierliche, resolute Frau aus einer Kleinstadt in Nebraska. Sie hatte ein lebhaftes Temperament und – wie man von Frauen zu sagen pflegte, die in eine unterstützende Rolle verbannt waren – „konnte gut kopfrechnen. Warrens Vater, ein ernster, aber freundlicher Mann, übte mit Sicherheit den größten Einfluss auf Warren aus. Indem er Warrens Augen für die Welt der Aktien und Anleihen öffnete, hat er wohl einen Keim gelegt, aber soweit sich das in Erfahrung bringen lässt, reichte Howard Buffetts Zahlenverstand nicht an den seines Sohnes heran. Das gilt auch für seine Leidenschaft, Geld zu verdienen. Was also veranlasste Warren, diesen gesitteten, gemütlichen Haushalt zu verlassen – und auf dem Boden der Rennbahn herumzukriechen, als wäre er eine Austernbank mit Perlen? Was versetzte ihn Jahre später in die Lage, seine Geschäftskollegen – immer und immer wieder – dadurch in Staunen zu versetzen, dass er Zahlenkolonnen im Kopf durchrechnete und dass er sich enzyklopädische Datenmengen genauso leicht merkte wie die Einwohnerzahl von Akron? Warrens jüngere Schwester Roberta sagt dazu einfach: „Ich glaube, das waren die Gene.

Es hieß, die Buffetts seien freundlich und sanftmütig, und diese Züge hielten sich. Sie waren geschickt im Beruf und gaben ungern etwas aus. Der erste bekannte Buffett in Amerika war John Buffett, ein Sergeweber, der von Hugenotten abstammte. Im Jahr 1696 heiratete er in Huntington an der Nordküste von Long Island Hannah Titus.¹ Die Buffetts blieben bis nach dem Bürgerkrieg als Bauern auf Long Island. Aber sie hatten auch einen ehrgeizigen Zug, der zu der genügsamen Art der Familie in Widerspruch stand. Im Jahr 1867 sollte Sidney Homan Buffett im Auftrag seines Großvaters Zebulon Buffett Land roden. Als er hörte, dass er einen Tagelohn von 50 Cent bekommen sollte, war er so empört, dass er die Axt niederlegte und sich in den Westen aufmachte. Er nahm in Omaha eine Stelle als Postkutscher an und 1869 eröffnete er das Lebensmittelgeschäft S.H Buffett. Als sich Omaha noch in den Anfängen als Pionierstadt befand, ließen sich die Buffetts im Geschäftsleben der Stadt nieder – anderthalb Meilen von dem bewaldeten Ort entfernt, an dem sich später das Büro des reichsten Mannes Amerikas befinden sollte.

Omaha war eine Anhäufung von Blockhäusern, die sich gegen die zerklüfteten Felsen lehnte, die sich vom Missouri her erheben. Die Prärie lag zwar vor der Tür, aber die Stadt selbst war hügelig. Das Gebiet war bis 1854 Wildnis gewesen, als ein Vertrag mit den Maha-Indianern (später Omahas) das Territorium Nebraska für Siedlungen freigab. Der wegweisende Moment für das Wachstum der Stadt war 1859, als ein Eisenbahnanwalt aus Illinois namens Abraham Lincoln die Region besuchte und ein Stück Land in Besitz nahm, das als Sicherheit für einen geplatzten Kredit gedient hatte. Ein paar Jahre später bestimmte Präsident Lincoln die Stadt zum östlichen Endpunkt der Union Pacific Railroad.² Sidney Buffett eröffnete seinen Laden zum perfekten Zeitpunkt, nämlich drei Monate, nachdem die Eisenbahnen den Kontinent verbunden hatten. Omaha war schon „der große Absprungplatz" für Lokomotiven, die durch die Prärie schnauften.³ Schon bald wimmelteesvor Siedlern, Nichtstuern, Spekulanten, Bürgerkriegsveteranen, Eisenbahnleuten, ehemaligen Sträflingen und Prostituierten. Viele kamen in das Lebensmittelgeschäft Buffett, wo Sidney Wachteln, Wildenten und Präriehühner verkaufte. Zebulon beurteilte seine Aussichten höchst skeptisch. In einem Brief an seinen 21-jährigen Enkel betonte er, dass geschäftliche Vorsicht die Parole der Buffetts war.

„Du kannst nicht erwarten, dass du viel verdienst, aber ich hoffe, dass die Geschäfte im Frühjahr besser gehen. Aber wenn du es nicht schaffst, höre rechtzeitig auf, damit du deine Schulden bezahlen und deine Kreditwürdigkeit bewahren kannst, denn das ist besser als Geld."

Aber die junge Stadt gedieh und mit ihr gedieh auch Sidney. In den 1870er-Jahren gab es in Omaha gusseiserne Architektur und ein Opernhaus. Um die Jahrhundertwende gab es Hochhäuser, eine Kabelbahn und die Einwohnerzahl stieg über 140.000. Sidney baute ein größeres Geschäft und nahm zwei Söhne in die Firma. Der jüngere von ihnen, Ernest – der spätere Großvater von Warren – hatte den Geschäftssinn der Familie. Er stritt sich mit seinem Bruder um eine Frau, und als er sie heiratete, sprachen die Brüder nicht mehr miteinander. Im Jahr 1915 verließ Ernest das Geschäft in der Stadtmitte und eröffnete im westlichen Teil der Stadt ein neues Geschäft namens Buffett & Son.

Wieder einmal hatte ein Buffett den Zeitpunkt äußerst geschickt gewählt. Die Bevölkerung Omahas verlagerte sich vom Fluss aus nach Westen. Ernest erkannte die Chancen in der Vorstadt; er richtete einen Lieferdienst ein und verkaufte auf Kredit. Schon bald gaben die Köche reicher Familien ihre Bestellungen telefonisch an Buffett & Son durch. Das Geschäft wuchs und Ernest schlug in die knauserige Art der Buffetts. Er bezahlte den Lageristen die fürstliche Summe von zwei Dollar für eine Elf-Stunden-Schicht und lieferte dazu noch einen Vortrag über die Übel des Mindestlohns und ähnlicher „sozialistischer" Verordnungen. Der große, imposante Ernest führte den Laden nicht nur – er tyrannisierte ihn.

Ernests Sohn Howard – Warrens Vater – hatte keine Lust, Lebensmittelhändler in der dritten Generation zu werden. Howard war ein ebenso unabhängiger Geist wie Ernest, aber mit mehr Wärme und ohne das Getöse. Er arbeitete kurz an einer Ölpipeline in Wyoming, aber sein eigentliches Interesse galt geistigen Dingen. An der University of Nebraska in Lincoln arbeitete Howard als Redakteur für den Daily Nebraskan und strebte eine Laufbahn als Journalist an. Er war nicht besonders attraktiv, er hatte dunkle Haare und einen fesselnden Blick. Als Präsident der Studentenverbindung konnte er sich die Schönheiten aus der Gesellschaft aussuchen. Aber in seinem Abschlussjahr lernte Howard ein Landmädchen aus einfachen Verhältnissen kennen, das alles andere als Teil der „Gesellschaft" war.

Leila Stahl war in West Point in Nebraska aufgewachsen, einem farblosen, ländlichen Städtchen mit 2.200 Einwohnern. Ihr Vater John Ammon Stahl war Besitzer der Wochenzeitung Cuming County Democrat. Die meisten Menschen in der Stadt waren deutscher Abstammung und die englischsprachigen Stahls waren Außenseiter. Leilas Mutter fühlte sich besonders isoliert, sie war häufig bettlägerig und depressiv. Leila, ihr Bruder und ihre zwei Schwestern mussten sich selbst durchschlagen und Leila musste ihrem Vater beim County Democrat helfen. Ab der fünften Klasse saß sie auf einem Hocker und setzte Typen, zuerst von Hand und später mit einer Linotype. Wenn ein Zug in West Point hielt, rannte sie manchmal schnell in einen Wagon und interviewte Passagiere, um Material für die Nachrichtenspalten zu bekommen. An den Donnerstagen stand das schmale Schulmädchen neben der Walze der riesigen Druckerpresse, nahm die Zeitungsbögen mit festem Griff und achtete genau darauf, dass sie sie exakt im richtigen Moment herauszog. Schon bald bekam Leila pochende Kopfschmerzen, synchron zum Rhythmus der Druckerpresse des County Democrat.

Nach dem Abschluss der Highschool mit 16 Jahren musste Leila noch drei Jahre lang arbeiten, damit sie sich das Schulgeld für Lincoln leisten konnte. Auf der Suche nach einer Stelle beim Daily Nebraskan erschien sie in Howard Buffetts Büro; sie hatte ihre Kindheit mit einer spitzen Zunge und einem schrägen Sinn für Humor überlebt. Sie war hübsch, kaum über einen Meter fünfzig, hatte sanfte Gesichtszüge und wellige braune Haare. Sie hat einmal gesagt, sie habe „im Hauptfach Heiraten studiert" ⁵ – für eine Frau mit der Aussicht, nach West Point zurückzukehren, kein unvernünftiges Fach.

Howard stellte sie ein und bat sie gleich um ein Rendezvous. Sie fühlten sich beide sofort zueinander hingezogen. Als Howards Abschluss näher rückte, hielt er um ihre Hand an. John Stahl war ein gebildeter Mann und hatte gehofft, dass seine Tochter das College abschließen würde, aber er gab ihnen seinen Segen. Die Hochzeit fand am Tag nach Heiligabend im Jahr 1925 bei 23 Grad minus statt. Laut den Memoiren, die Leila für ihre Enkel aufschrieb, sagte ihr Howard später: „Dass ich dich geheiratet habe, war das beste Geschäft meines Lebens." An Flitterwochen war nicht zu denken. Sofort nach der Hochzeit stiegen sie in einen Bus nach Omaha.

Howard war eine Zeitungsstelle angeboten worden, was ja sein Traum war, aber ein Freund seines Vaters hatte für ihn eine Stellung für 25 Dollar die Woche bei einer Versicherungsgesellschaft. Howards Kapitulation sagt etwas über die damalige Zeit aus. Leila notierte: „Er gab seinem Vater nach, der das College bezahlt hatte ."

Das Paar zog in ein einstöckiges, mit Schindeln gedecktes Haus mit Kohleofen in der Barker Avenue. Für Leila war der Anfang schwer. Da sie von einer hinfälligen Mutter aufgezogen worden war, war sie auf das Hausfrauendasein nicht vorbereitet. Während Howard das Auto nahm, ging sie zur Straßenbahnhaltestelle, wenn sie vorübergehende Stellungen als Sekretärin oder Druckerin annahm – in jenen Jahren verdiente sie manchmal mehr pro Woche als er. Und dann kam sie heim und hatte eine Menge Hausarbeit. Im Jahr 1927 ließ sich Leila an den Augen operieren und ihre Kopfschmerzen ließen nach. Im nächsten Jahr wurde Doris, ihr erstes Kind geboren, und Leila bekam 40,5 Fieber, was alle in Angst versetzte. Zwei Jahre später bekam das Paar einen Sohn und nannte ihn Warren Edward. Es war ein feuchter Sommertag – der 30. August 1930 – und ein Wolkenbruch zerschnitt die Hitze von über 30 Grad.

Warren war von Anfang an sehr vorsichtig für sein Alter. Als er laufen lernte, tat er das mit gebeugten Knien, so als wollte er dafür sorgen, dass er nicht so tief fällt. Wenn ihre Mutter Doris und Warren zu Versammlungen des Kirchenkreises mitnahm, ging Doris auf Erkundungstour und verirrte sich, aber Warren saß artig neben seiner Mutter. „Als kleines Kind nie große Probleme", schrieb Leila.

Auf einem Foto, das aufgenommen wurde, als Warren zwei Jahre alt war, ist er ein stämmiger blonder Junge mit weißen Schnürstiefeln und weißen Socken, mit einer Hand hält er einen würfelförmigen Klotz umklammert, mit einem leichten Lächeln und tiefem Blick. Sein anfangs blondes Haar wurde später kastanienbraun, aber sein Temperament änderte sich nicht. Weder ging er irgendwo hin, wo er sich nicht auskannte, noch machte er Ärger oder prügelte sich. Roberta, die drei Jahre jünger war als Warren, beschützte ihn vor den Schlägern aus der Nachbarschaft. Einmal brachte Howard Boxhandschuhe mit nach Hause und lud einen Jungen ein, mit Warren zu boxen. „Sie wurden dann nie wieder benutzt", notierte Leila. Warren hatte eine dermaßen sanfte Art, dass er bei seinen Schwestern und bei anderen Menschen den Beschützerinstinkt weckte. Es schien, als sei er für den Kampf nicht gerüstet.

Warrens erste Lebensjahre waren schwierige Jahre für die Familie. Howard arbeitete als Wertpapierverkäufer bei der Union Street Bank. Der griesgrämige Ernest hielt dies für einen dubiosen Beruf. Er formulierte das in einem Brief an Warrens Onkel Clarence:

„Ich weiß alles, was man über Aktien wissen kann, und kurz gesagt ist es so, das jeder Mann, der es geschafft hat, bis zum Alter von 50 Jahren ein paar Dollar zu sparen, ein verdammter Narr ist, wenn er an der Börse spekuliert – und ich meine nicht nur vielleicht."

Howard kritzelte an den Rand: „Wirklich geschäftsfördernd!" Aber schon nach einem Jahr klangen Ernests Worte prophetisch. Am 13. August 1931 – zwei Wochen vor Warrens erstem Geburtstag – kam sein Vater mit der Mitteilung von der Arbeit heim, dass seine Bank zugemacht hatte. Das war eine typische Szene der Großen Depression, die Schicksale zerschmetterte. Seine Arbeit war weg, seine Ersparnisse verloren.⁸ Ernest ließ Howard ein bisschen Zeit, seine Lebensmittelrechnungen zu bezahlen – für Howard, der die Verachtung der Buffetts für das Borgen geerbt hatte, eine bittere Pille. „Bewahre deine Kreditwürdigkeit, denn das ist besser als Geld. Seine Aussichten waren so trübe, dass er darüber nachdachte, mit der Familie zurück nach West Point zu ziehen. Doch nach kurzer Zeit verkündete Howard die Eröffnung von Buffett, Sklenicka & Co. im Gebäude der Union State Bank in der Farnam Street – in der Straße, in der Warren später leben und arbeiten würde. Howard und sein Partner George Sklenicka hausierten mit „Anlage-Wertpapieren, städtischen, privaten und staatlichen Versorgungsunternehmen, Aktien und Anleihen. Howard nahm jetzt seinen Mut und seine Willenskraft zusammen, denn der Börsencrash hatte das Vertrauen der Allgemeinheit getrübt. Omaha hatte anfangs gedacht, es sei gegen die Depression gefeit, aber im Jahr 1932 fielen die Weizenpreise in den Keller und Farmer aßen in Suppenküchen. Das stramm republikanische Omaha wählte erdrutschartig Roosevelt; im nächsten Jahr beantragten 11.000 Menschen Fürsorge. Das Unternehmen Buffett Sklenicka, das in dieser denkbar schwierigen Zeit geboren wurde, schien anfangs nur dem Namen nach ein Unternehmen zu sein – ein Ort, an dem Howard seinen Hut aufhängen und gegen Gebühren arbeiten konnte. Es dauerte lange, bis er erstmals etwas verkaufte, und die Gebühren waren niedrig. Ernest war Präsident des Rotary Clubs von Omaha und ließ seine Rotarier-Kollegen wissen, dass sein wohlmeinender Sohn keine große Ahnung von Aktien habe und dass sie gut beraten wären, keine Geschäfte mit ihm zu machen. ⁹ Leila gelang es, ein Essen auf den Tisch zu bringen, aber häufig verzichtete sie selbst, damit Howard eine ganze Portion bekam. Die Familie war derart abgebrannt, dass Leila nicht mehr zu ihrem Kirchenkreis ging, weil sie keine 29 Cent für ein Pfund Kaffee hatte.

Und die Buffetts wurden auch von jenen Extremen der Natur im Mittelwesten gequält, die scheinbar von der Depression selbst gezündet wurden. Leila schrieb in ihr Notizbuch: „Die Große Depression begann mit einer schrecklichen Hitze von 45 Grad. Von Oklahoma her wehten Staubstürme und die Bewohner von Omaha dichteten vergeblich ihre Häuser gegen die Heuschrecken ab. An Warrens viertem Geburtstag wehte ein „scharfer, sengender Wind die Pappteller und Papiertischdecken vom Tisch und begrub die Veranda unter rotem Staub. Warren und Doris hielten draußen in der sengenden Hitze aus, um auf den Eismann zu warten, der von seinem Pferdefuhrwerk sprang und ihnen Eiszapfen gab, an denen sie lutschen konnten. Noch schlimmer als die Hitze war die bittere Kälte im Winter. Dick eingepackt gingen Warren und seine Schwester acht Blocks weit zur Columbian School. Es war so kalt, dass die Vertreter während ihrer Besuche den Motor laufen ließen, weil sie befürchteten, er würde hinterher nicht mehr anspringen.

Als Warren in die Schule kam, besserten sich die Geschicke seines Vaters rapide. Als Warren sechs Jahre alt war, zogen die Buffetts in ein geräumigeres Backsteinhaus im Tudor-Stil mit Schindeldach in der North 53rd Street. Über die schlechten Zeiten wurde im Hause Buffett nicht gesprochen; sie wurden verbannt.

Aber sie scheinen Warren tief geprägt zu haben. Er ging aus diesen ersten Jahren mit dem absoluten Bestreben hervor, sehr, sehr reich zu werden. Er dachte schon daran, als er noch keine fünf Jahre alt war. Und von jener Zeit an hörte er kaum auf, daran zu denken.

Als Warren sechs war, machten die Buffetts ausnahmsweise Urlaub am Lake Okoboji im Norden von Iowa; sie mieteten dort eine Blockhütte. Warren schaffte es, einen Sechserpack Coca-Cola für 25 Cent zu kaufen. Dann watschelte er um den See herum und verkaufte die Getränke für 5 Cent das Stück, sodass er einen Nickel Gewinn machte. Als sie wieder in Omaha waren, kaufte er im Laden seines Großvaters Brause und verkaufte sie an den Sommerabenden von Haus zu Haus, während andere Kinder auf der Straße spielten.

Von da an hörten diese Unternehmungen nicht mehr auf. Und Warrens Geldverdienen hatte einen Zweck. Er hatte es nicht auf Taschengeld abgesehen, sondern er wollte seinen großen Ehrgeiz befördern.

Als Warren sieben war, kam er mit einem mysteriösen Fieber ins Krankenhaus. Die Ärzte nahmen ihm den Blinddarm heraus, aber er blieb so krank, dass sie um sein Leben fürchteten. Warren wollte nicht einmal essen, als ihm sein Vater seine Lieblings-Nudelsuppe brachte. Aber als er allein war, nahm er einen Bleistift und schrieb eine Seite mit Zahlen voll. Der Krankenschwester sagte er, das sei sein künftiges Kapital. „Jetzt habe ich noch nicht viel Geld", sagte Warren fröhlich, „aber eines Tages habe ich viel

Geld und mein Foto ist in der Zeitung." ¹⁰Als man Warren im Todeskampf wähnte, suchte er nicht in der Suppe Beistand, sondern in Träumen von Geld.

Howard Buffett beschloss, dass Warren seine eigenen harten Erfahrungen nie wiederholen sollte. Außerdem fasste er den Entschluss, dass er als Elternteil niemals dem Beispiel von Ernest folgen und seinen eigenen Sohn erniedrigen würde. Er hatte unerschütterliches Vertrauen in Warren und unterstützte ihn bei allem, was er tat. Und obwohl Warren den Esprit seiner Mutter geerbt hatte, drehte sich sein Universum um seinen Vater.

Der mehr als einen Meter achtzig große Howard dominierte die Familie nicht nur körperlich, sondern auch in anderen Dingen. Er arbeitete hart für den Unterhalt seiner Familie und besaß nicht nur seine Brokerfirma, sondern auch noch die South Omaha Feed Co., ein kleines Geschäft am Viehhof von Omaha. Aber er begeisterte sich nicht für Geld; seine Leidenschaften waren Religion und Politik. Er war ein selbstbewusster, moralischer Mann und stand mutig zu seinen Überzeugungen, die extrem konservativ waren. (Ein ortsansässiger Banker sagte dazu: „Nach göttlichem Recht.")

Da Howard überzeugt war, dass Roosevelt den Dollar zugrunde richten würde, gab er seinen Kindern Goldmünzen und kaufte hübsche Sachen für das Haus – einen kristallenen Leuchter, Besteck aus Sterling-Silber und Orient-Brücken – alles im Hinblick darauf, dass materielle Güter besser als Dollars wären. Er legte sogar einen Konservenvorrat an und kaufte eine Farm, die als Zuflucht der Familie vor dem Höllenfeuer der Inflation gedacht war.

Außerdem betonte Howard einen Grundsatz, der dauerhafter war als alle seine politischen Überzeugungen, nämlich die Unabhängigkeit des Denkens. Mit seinen Kindern an seiner Seite pflegte Howard eine Maxime von Emerson zu zitieren:

„Der ist ein großer Mann, der inmitten der Menge in vollkommener Süße die Unabhängigkeit der Einsamkeit bewahrt."

Howard bläute seinen Kindern religiöse, aber auch weltliche Werte ein. Er hielt Unterricht an einer Sonntagsschule für Erwachsene, gehörte aber auch dem Board der öffentlichen Schule an. Es verging kaum eine Woche, in der er Warren und seine Schwestern nicht an ihre Pflicht ermahnte – nicht nur gegen Gott, sondern auch gegen die Gemeinschaft. Er sagte ihnen gerne: „Ihr müsst nicht die ganze Bürde alleine tragen – aber Ihr dürft euren Teil auch nicht einfach niederlegen."

Es ist für die damalige Zeit wohl nicht so unüblich, dass er solche Sprüche nicht nur äußerte, sondern auch sein Bestes tat, danach zu leben. Er trank nie und er rauchte nie. Wenn sich die Wertpapiere eines guten Kunden schwach entwickelten, ging es Howard so schlecht, dass er sie auf eigene Rechnung zurückkaufte.

Wenn ihm jemand etwas über einen sozialen Missstand sagte, erwiderte er: „Du bist ein guter Bürger. Was willst du dagegen tun?"

Er saß immer in einem roten Ledersessel im Wohnzimmer, mit einem Victrola-Radio am Ohr, aus dem Stephen Foster und seine geliebten Hymnen und Märsche plärrten. Der Broker mit den Grübchen war ein Gewohnheitstier und führte die Familie an Sonntagen zum Essen in der betriebsamen terrakottafarbenen Union Station aus; danach ging es zu Evans Ice Cream in der Center Street. Er trug zwar nüchterne schwarze Anzüge, aber er lächelte viel. Herbert Davis, der zeitweise mit Howard zusammenarbeitete, sagt dazu: „Er war genau so, wie man sich einen Vater wünscht."

Seine Kinder lebten in der Angst, sie könnten ihn enttäuschen. Doris weigerte sich sogar, mit Freunden zusammen am Tisch zu sitzen, wenn sie Bier tranken, damit ihr Vater sie nicht sehen und mit einer solchen Sündhaftigkeit in Verbindung bringen könnte. „Er hatte solche hohen Prinzipien", erinnert sich Roberta. „Man hatte das Gefühl, man müsste ein guter Mensch sein."

Warren idealisierte ihn am allermeisten. Er stand seinem Papa nahe und ging locker und unbefangen mit ihm um. In der Kirche sagte Warren einmal zu ihm, als er ziemlich daneben lag: „Papi, entweder singst du, oder ich singe, aber zusammen singen können wir nicht. Howard nannte ihn liebevoll „Feuerball.

Als Warren zehn Jahre alt war, fuhr Howard mit ihm im Nachtzug nach New York – das machte er mit allen Kindern. Leila schaute zu, wie Warren mit seinem „besten Freund an der Hand und seinem Briefmarkenalbum unter dem Arm wegging. Ihr Weg führte sie zu einem Baseballspiel, zu einer Briefmarkenausstellung und zu einem „Haus mit Lionel-Spielzeugeisenbahnen.¹¹ An der Wall Street ging Warren in die Börse.

Warren war von Aktien genauso fasziniert wie andere Jungs von Modellflugzeugen. Er ging oft in Howards inzwischen florierende Brokerfirma, die inzwischen in das mit Marmorsäulen ausgestattete Gebäude der Omaha National Bank an der 17th Street und Farnam Street umgezogen war. Oben in Vaters Büro bewunderte Warren die Aktien- und Anleihenurkunden, die hinter golden bemalten Schienen verstaut waren und auf Warren eine geheimnisvolle Faszination ausübten.¹² Oft rannte er die Treppe hinunter in die Brokerfirma Harris Upham, die im gleichen Gebäude untergebracht war und von der die Finanziers von Omaha ihre Aktienkurse bezogen. Der berüchtigte Ostküstenspekulant Jesse Livermore kam kurz vorbei, wenn er in der Stadt war, kritzelte eine Order auf ein Blatt Papier und ging schweigend wieder. Die Broker von Harris Upham machten dem jungen Warren mit den großen Ohren eine Freude damit, dass er die Aktienkurse mit Kreide auf die Tafel schreiben durfte. ¹³

Zu Hause fing Warren an, selbst Kursdiagramme zu zeichnen. Er beobachtete das Auf und Ab und war verzaubert von dem Gedanken, die Muster zu entschlüsseln. Mit elf Jahren wagte er den Sprung und kaufte drei Vorzugsaktien von Cities Service und drei Aktien für seine Schwester Doris für 38 Dollar das Stück. „Ich wusste damals, dass er wusste, was er tat, erinnerte sich Doris später. „Der Junge lebte und atmete Zahlen. Aber Cities Service brach auf 27 Dollar ein. Sie hielten aus und die Aktie erholte sich auf 40 Dollar, woraufhin Warren verkaufte und nach Abzug der Gebühren seinen ersten Börsengewinn von 5 Dollar machte. Direkt nach dem Verkauf stieg Cities Service auf 200 Dollar. Das war seine erste Lektion in Geduld.

An der Rennbahn schlug sich Warren besser. Er und Russell waren von der Mathematik der Quotenberechnung fasziniert und sie entwickelten ein Tippsystem für Pferdewetten. Nach ein paar Tagen hatten sie festgestellt, dass das System funktionierte; sie schrieben ihre Tipps unter dem Schriftzug Stable-Boy Selections auf und nahmen einen Stapel davon an die Ak-Sar-Ben-Rennbahn mit. Russell dazu: „Wir merkten, dass wir die verkaufen konnten. Wir wedelten damit und riefen ‚Holen Sie sich Ihre Stable-Boy Selections‘. Aber wir hatten keine Konzession und die haben uns das verboten." ¹⁴

Warrens Heldentaten beruhten immer auf Zahlen und ihnen vertraute er mehr als allem anderen. Im Gegenzug hing er nicht der Religiosität seiner Familie an. Schon in jungen Jahren war er zu mathematisch und zu logisch für den Sprung zum Glauben. Er übernahm das moralische Gerüst seines Vaters, nicht aber seinen Glauben an eine unsichtbare Gottheit. Bei einem Menschen, der in seinen Gedanken ehrlich ist – und besonders bei einem Jungen – kann eine solche ungemilderte Logik nur in einer schrecklichen Angst münden – der Angst vor dem Tod. Und Warren wurde von dieser Angst erfasst.¹⁵

Leila und Howard bestanden jede Woche darauf, dass Warren in die Sonntagsschule ging, auch wenn einen Meter hoch Schnee lag. Das brachte ihm aber nichts. Wenn er in der Kirche saß und die Lebenszeiten der Geistlichen berechnete, hatte das einen bestimmten Sinn. Er wollte wissen, ob der Glaube zu einem längeren Leben führt.¹⁶ Er dachte nicht wie ein Gläubiger an das Leben nach dem Tod, sondern es ging ihm darum, dieses Leben zu verlängern.

Wenn er und Bob Russell auf der Schaukelbank auf der Veranda vor dem Haus der Russells saßen, in der nachmittäglichen Stille, da sagte Warren manchmal, als hätte ein Präriesturm die Worte hergebracht: „Russ, es gibt da eine Sache, vor der ich mich fürchte. Ich habe Angst zu sterben." Er sagte das vielleicht einmal im Jahr oder so – jedenfalls oft genug, damit es sich in Russells Geist einprägte. Das schien so überhaupt nicht zu allem zu passen, was Russell an Warren kannte, der sonst so heiter war. Manchmal streute Russell Vogelfutter in einen Milchkarton und fing einen Vogel darin; und Warren bat ihn immer, ihm nicht weh zu tun. Russell zog an der Schnur, die mit der Klappe des Kartons verbunden war, und ließ ihn fliegen. Aber er konnte Warren nicht von der Furcht vor seiner eigenen Sterblichkeit erlösen.

„Wenn du das tust, wofür dich Gott begabt hat, kannst du erfolgreich werden, anderen helfen und lächelnd sterben, sagte Russell immer. „Bob, ich habe einfach Angst, gab Warren darauf zurück.

Der Katholik Russell verstand das nicht. Er fragte sich, wie es kam, dass jemand, dem es so gut ging, solche Angst haben konnte. Aber im häuslichen Leben von Warren Buffett gab es einen Aspekt, von dem Russell nichts wusste.

Nach außen hin entsprach der Haushalt der Buffetts dem Ideal: liebevoll, wohlhabend, von moralischen Grundsätzen geprägt und auf die Familie zentriert. Und diese Auffassungen waren echt. Leila bezeichnete den Tag, an dem sie Howard kennengelernt hatte, als „glücklichsten Tag meines Lebens".

Sie behandelte ihren Mann wie einen König – einen gutmütigen König zwar, aber nichtsdestoweniger einen König. Als praktisch denkende Frau hatte Leila ihre eigenen Ideen über Aktien, aber Howard gegenüber erwähnte sie davon nichts. Sogar wenn Leila die pochenden Kopfschmerzen hatte, achtete sie darauf, dass sie Howard nicht damit belästigte oder ihn beim Lesen störte. Sie wollte die perfekte Ehefrau sein. Warrens Freunde kannten sie als zierliche, fröhliche Frau mit einem hübschen Lächeln – süß und umgänglich und fürchterlich aufgeregt, wie die gute Hexe aus dem Norden.

Aber wenn das Bemühen, perfekt zu sein, über Leilas Kräfte ging, fiel sie mit dem Zorn Gottes über Warren und seine Schwestern her. Ohne Vorwarnung wurde diese gut gelaunte Frau unsagbar wütend und wandte sich rasend vor unerbittlicher Niedertracht gegen ihre Kinder, manchmal stundenlang. Sie schimpfte mit ihnen und machte sie schlecht. Das stand in keinem Verhältnis zu dem, was sie etwa getan hatten. Sie verglich, sie kritisierte und ritt auf jeder denkbaren Verfehlung herum.

Leila schien in ihrer Raserei von einer fürchterlichen Un-Gerechtigkeit getrieben zu sein. Nichts, was Warren und seine Schwestern getan hatten, entging ihrer Aufmerksamkeit, keine noch so winzige Verfehlung war zu klein für ihre boshaften Vorwürfe. Und wenn sie kein Verbrechen begangen hatten, beschwor ihre Fantasie eines herauf.

Soweit Warren und seine Schwestern wussten, waren Leilas Launen vollkommen unvorhersehbar und darum umso erschreckender. Und wenn man ihr dann in die Finger kam, gab es kein Entrinnen. Sie war eine kräftige Frau, so stark wie das Mädchen, das mit elf Jahren die Linotype bedient hatte. Wenn sie sich befreien wollten, bellte sie: „Ich bin noch nicht fertig. " ¹⁷ Und dann war die Laune ganz plötzlich vorüber. Dann kehrte die süße kleine Frau zurück. Als in der jüngeren Vergangenheit einer von Warrens Söhnen, der vom College heimgekommen war, bei Leila anrief, um ihr hallo zu sagen, stieß sie wie der Blitz mit ihrer ganzen Wut auf ihn herab. Sie sagte, er wäre ein schrecklicher Mensch, weil er nicht öfter anrufe, und sie zählte seine angeblich unzähligen Charakterfehler auf – stundenlang machte sie das. Als Warrens Sohn den Hörer auflegte, standen ihm die Tränen in den Augen. Warren sagte sanft: „Jetzt weißt du, wie ich mich an jedem Tag meines Lebens gefühlt habe."

Eine Weile nachdem Leila West Point verlassen hatte, erlebte die Familie mehrere Tragödien. Eine ihrer Schwestern beging Selbstmord; eine andere Schwester und Leilas Mutter kamen in eine Anstalt. Unter welchem Anflug von Wahnsinn oder emotionalem Ungleichgewicht die Stahl-Frauen leiden mochten, Leila hat ihn zumindest überlebt.

Aber Warren und seine Schwestern mussten mit der Granate ihrer Wutanfälle allein zurechtkommen. Jedenfalls wurde im Haus der Buffetts nicht darüber gesprochen. Als Warren noch klein war, kam Howard eines Morgens die Treppe herunter und warnte ihn: „Mama ist wieder auf dem Kriegspfad." ¹⁸Aber meistens lauschten Warren und die Mädchen auf den verräterischen Klang ihrer Stimme, wenn Howard das Haus verlassen hatte, und warnten einander gegenseitig. Ihre Eltern stritten sich nicht; die Auseinandersetzung fand zwischen Leila und ihren Kindern statt. Warren und seine Schwestern hatten keine Chance, diesen Konflikt zu gewinnen.

Warren bewältigte diesen hoffnungslosen Kampf, indem er nicht zurückschlug. „Er regte sich nicht auf. Er behielt das für sich", erzählt seine Schwester Roberta. Jerry Moore, der gegenüber wohnte, bemerkt dazu, dass Warren mit niemandem kämpfte. Den üblichen Raufereien im Viertel wich er aus – er wich jeglichem Konflikt aus.

Seinen Freunden erzählte er nichts von den „Launen seiner Mutter und nichts an seiner fröhlichen Art verriet etwas davon. Aber einigen Jungen fiel auf, dass Warren mehr Zeit bei ihnen zu Hause als bei sich zu Hause verbrachte. Frau Russell sagte immer: „Ich habe ihn mit der Katze hinausgesetzt und ihn mit der Milch wieder hereingeholt. Der Klassenkamerad Byron Swanson kam manchmal heim und – in jenen glücklichen Tagen, als die Amerikaner ihre Türen unverschlossen ließen – fand dort Warren, der unschuldig und entzückend in der Küche saß, eine Pepsi trank und Kartoffelchips aß. Walter Loomis erzählt, dass seine Mutter Warren wegjagen musste, wenn Loomis‘ Vater heimkam, damit die Familie essen konnte. (Rückblickend setzte er noch trocken hinzu: „Zu schade, dass wir ihn hinausgeworfen haben.")

Warrens Sohn Peter fragte sich später, ob der Erfolg seines Vaters nicht zum Teil von dem Drang getrieben war, aus dem Haus zu kommen. Diese Frage lässt sich nicht beantworten, aber er von irgendwoher musste er diesen Drang haben. Warren saß manchmal auf der Feuertreppe der Grundschule Rosehill und sagte seinen Kumpanen knallhart, er würde reich sein, bevor er 35 wäre.¹⁹ Er wurde nie als Aufschneider oder als aufgeblasen empfunden (Russell drückte das in dem schlichten Satz aus: „Die Mütze hat ihm immer gepasst."). Er war davon ganz einfach überzeugt.

Er vergrub sich gern in einem seiner Lieblingsbücher: One Thousand Ways to Make $1.000. Darin wurden künftige Rockefellers mit Geschichten wie „Aus selbstgemachten Toffees ein Geschäft machen oder „Frau MacDougall machte aus 38 Dollar eine Million ermuntert. Und wie lebhaft stellte sich Warren vor, er wäre der Mann auf der Abbildung – überragt von einem Berg aus Münzen, der ihn mehr in Ekstase versetzte als ein Berg Süßigkeiten! Auf jeden Fall war er der Leser, den sich ein Verleger erträumt – so gut befolgte er den Rat des Buches, dass man „anfangen, gleich anfangen" sollte, egal welche Pläne man hat, dass man unter keinen Umständen damit warten soll.

In der 53rd Street war Warren als Bücherwurm bekannt und in der Nachbarschaft galt als sicher, dass er ein „fotografisches Gedächtnis hatte. Er war groß für sein Alter und trieb gern Sport, war aber eher unbeholfen. Doch er sprach mit ansteckender Leidenschaft über seine finanziellen Großtaten und wenn Warren sprach, spitzten seine Freunde die Ohren. Es war weniger so, dass er die anderen davon überzeugte, sich ihm anzuschließen, sondern eher so, dass er sie anlockte – ein Feuerball, wie sein Vater sagte, der die Motten anlockte. Warren beauftragte Stuart Erickson, Russell und Byron Swanson, auf der Ak-Sar-Ben nach Zetteln zu wühlen. Er engagierte das halbe Viertel für die Golfballsammlung. Schon bald hatte er 35-Liter-Säcke voller nach Marke und Preis sortierter Golfbälle in seinem Zimmer. Sein Nachbar Bill Pritchard erinnert sich: „Er verteilte ein Dutzend Golfbälle. Wir verkauften sie und er nahm seinen Schnitt. Warren und Erickson bauten sogar im Elmwood Park einen Golfball-Stand auf, doch wie sich Erickson erinnert, lief das Geschäft so gut, dass „uns jemand verpfiffen hat und die uns hinauswarfen".

In einem Porträt von Omaha aus jener Zeit in der Saturday Evening Post wird eine öde Stadt dargestellt. Darin findet sich die vielsagende Stichelei, Omaha liege westlich der Zivilisation – die in Des Moines aufhört – und östlich der schönen Landschaft – die mit den Rocky Mountains anfängt. ²⁰ Das Einzige, was die Stadt auszeichne, sei ihre „Eintönigkeit; extrem sei nur das Wetter. Ihr Beitrag zu Kultur war das TV-Dinner. Überlagert wurde der Mythos von Omaha als kulturellem Ödland von einer romantischeren Sichtweise – Omaha als Zuflucht vor dem sündigen Osten, „einfach und irgendwie pastoral. Darin steckte zwar ein Körnchen Wahrheit, aber es war maßlos übertrieben. Und das hat teilweise zu der späteren Tendenz beigetragen, Buffett eher als orakelhaft denn als begabt und klug darzustellen, wie man einen New Yorker beschrieben hätte. Er war das „Orakel von Omaha oder manchmal auch der „Zauberer von Omaha (Der Zauberer von Oz kommt aus Omaha).

Für Warren war Omaha allerdings nicht öde. Die Buffetts und ihre Nachbarn waren gebildet, städtisch, und sie waren kulturell auf der Höhe. Fred Astaire hat in der Chambers Academy in der Farnam Street tanzen gelernt. Henry Fonda, der aus der Gegend stammte, trat auf Bühnen in Omaha auf. Warrens Omaha war zwar eine kleine Stadt – 220.000 Einwohner –, aber auf keinen Fall eine Kleinstadt. Carl Sandburg, der hier Kohlen schaufelte, schrieb: „Omaha, das Raubein, füttert Armeen, isst und flicht mit dreckigem Gesicht. " ²¹

In dem Sommer, in dem Warren elf wurde, gab Howard, der seinen Kindern das Erlebnis des angeblich reinen Farmlebens gönnen wollte, eine Suchanzeige für eine Unterkunft auf dem Lande auf. Warren und Doris wohnten ein paar Wochen lang bei einem Farmer namens Elmer Benne. Warren schmeckte zwar Frau Bennes Kuchen, aber er interessierte sich nicht für Kühe oder Maiskolben. Ein Silo lag ihm so fern wie einem Farmjungen die modernen Jugendstilhochhäuser von Omaha. Warren war ein Stadt-Kind.

In der 53rd Street kannte er die Menschen in jedem Haus. Und die Häuser waren einander ähnlich – Zwillingsgiebel, brauner Backstein, die Haustür in der Mitte. Er erkannte den Laster von Roberts Dairy, die Musik der Straßenbahn und der nicht allzu weit entfernten Güterzüge, den Kaffeeduft von der Rösterei im Stadtzentrum und sogar – wenn an warmen Sommerabenden der Wind von Süd her wehte – den dicken, unerträglichen Gestank von den fleischverarbeitenden Betrieben. Ob zu Fuß, auf seinem Drei-Gang-Rad oder mit der Straßenbahn – er konnte Ausflüge durch die ganze Stadt unternehmen, zu den Golfplätzen, zum Büro seines Vaters oder zum Laden seines Großvaters. Egal welche Probleme Warren mit seiner Mutter hatte oder welche Qualen er in der Kirche litt – seine Stadt war die große Konstante, die ihn trug.

Aber der heftige Schock, der im Dezember 1941 ganz Amerika aus der Fassung brachte, bedrohte auch Warren Buffetts Leben in Omaha. An dem Sonntag von Pearl Harbor besuchten die Buffetts Opa Stahl in West Point. Auf der Heimfahrt hörten sie martialische Musik. Während sich Amerika in den nächsten Monaten an den Krieg gewöhnte, ging Warrens Leben weiter wie zuvor. Aber im Jahr 1942 konnten die Republikaner im zweiten Kongresswahlbezirk von Nebraska keinen Kandidaten finden, der gegen die Partei des populären Kriegs-Präsidenten antreten wollte. In ihrer Verzweiflung wandte sich die „Grand Old Party" an einen ausgesprochenen New-Deal-Hasser: Howard Buffett.

Als Isolationist hatte Howard kaum Chancen auf einen Sieg. In seinen Wahlkampfreden verspritzte er nicht etwa Gift gegen Hitler oder Mussolini, sondern gegen Franklin Roosevelt.

„Mir ist vollständig bewusst, dass die Chancen heute gegen einen republikanischen Kandidaten stehen. Er kämpft gegen die mächtigste politische Maschinerie an, die die Welt gesehen hat. Unter dem Deckmantel des Krieges plant diese ruchlose Bande, Amerika die Schlinge der politischen Bevormundung um den Hals zu legen." ²²

Mit seiner Schimpferei gegen die Inflation und gegen den starken Staat war Howard seiner Zeit 40 Jahre voraus. Als Person war er in Omaha allerdings populär. Geld hatte er nicht viel – seine Ausgaben beliefen sich nur auf 2.361 Dollar –, aber er führte einen hartnäckigen Wahlkampf.

Am Wahltag tippte Howard eine Rede, in der er seine Niederlage eingestand, und ging um neun Uhr zu Bett. Am nächsten Tag stellte er fest, dass er gewonnen hatte. Er bezeichnete das als „eine der erfreulichsten Überraschungen" seines Lebens.

Als Warren sein Schicksal begriff, versetzte ihm das einen Schock: Zum ersten Mal in seinem gut zwölfjährigen Leben verließ er Omaha. Auf einem Familienfoto, das direkt nach der Wahl aufgenommen wurde, sieht man Warren an, dass er sich entschieden nicht wohl fühlte; sein hübsches Gesicht blickt ins Leere und seinen zusammengepressten Lippen gelingt nur ein schwach angedeutetes Lächeln.

Da Wohnraum in Washington während des Kriegs knapp war, mietete Howard ein Haus in der bezaubernden, aber abgelegenen Stadt Fredericksburg in Virginia. Das Haus stand auf einem Hügel und überblickte den Rappahannock River. Es war ein weitläufiger weißer Bau im Kolonialstil, mit einer Veranda und Rosen davor. Für Roberta sah es aus „wie aus einem Kinofilm". Warren hasste es.

Auch wenn es nach Kino aussehen mochte, so war Fredericksburg doch isoliert, südstaatlich und unvertraut. Warren wäre jegliche Veränderung unwillkommen gewesen, aber diese Veränderung stellte seine Welt auf den Kopf. Er wurde nämlich nicht nur von seinen Freunden und seinem Viertel weggerissen, sondern unter der Woche war er auch noch von seinem Vater getrennt, der 50 Meilen weiter nördlich im Dodge Hotel in Washington residierte. Der frischgebackene Kongressabgeordnete sagte seiner Familie zwar, dass er nur eine Amtszeit absolvieren würde, aber das tröstete seinen Sohn nicht. Weg von Omaha und von allem, was er kannte, hatte Warren „elendes Heimweh".²³

Er wollte zwar verzweifelt wieder weg, aber es lag nicht in seiner Art, seiner Familie damit gegenüberzutreten. Er sagte nur, er leide unter einer mysteriösen „Allergie und könne nachts nicht schlafen. Natürlich war sein Zen-gleicher Stoizismus perfekt darauf berechnet, seine Eltern aus der Fassung zu bringen. Er erinnerte sich später: „Ich sagte meinen Eltern, ich bekäme keine Luft. Ich sagte ihnen, sie sollten sich keine Sorgen machen und selber schön schlafen, ich würde einfach die ganze Nacht aufbleiben. ²⁴ Natürlich waren sie krank vor Sorge um ihn.a Indes schrieb Warren seinem Opa Ernest, dass er unglücklich war. Nach kurzer Zeit schrieb Ernest zurück und schlug vor, dass Warren zu ihm und zu Tante Alice ziehen und die achte Klasse in Omaha beenden könnte. Nach ein paar Wochen in Fredericksburg waren seine Eltern einverstanden.

Warren stieg wieder in den Zug und teilte sich ein Nachtabteil mit Senator Hugh Butler aus Nebraska. Senator Butler, der gemerkt hatte, dass der junge Mann die ganze Nacht fest geschlafen hatte, sagte zu ihm: „Ich dachte, du kannst nicht schlafen. Warren antwortete unbekümmert: „Ach, das war in Pennsylvania schon weg. ²⁵

In Omaha erwachten Warrens Lebensgeister wieder. Tante Alice war eine freigeistige Hauswirtschaftslehrerin; sie war eine freundliche Hüterin und interessierte sich für Warren. Sie wurde ebenso wie andere Lehrer von seiner Klugheit und seiner Neugier angezogen. Auch Opa Ernest, der ein instinktiver Lehrer war, hatte Warren es angetan. Er arbeitete an einem Buch und jeden Abend diktierte er Warren ein paar Seiten.²⁶ Der geschraubte Titel des Buches lautete: „Wie man ein Lebensmittelgeschäft betreibt, und ein paar Dinge, die ich über das Angeln gelernt habe." In welche Richtung das gehen sollte, geht aus einem Brief hervor, in dem Ernest zuversichtlich verkündete, der Supermarkt sei eine vorübergehende Modeerscheinung:

„Ich glaube, Kroger, Montgomery & Ward und Safeway haben ihre besten Zeiten hinter sich. Jetzt kommen auf die Ladenketten harte Zeiten zu." ²⁷

Zum Glück wurde „Wie man ein Lebensmittelgeschäft betreibt" nie veröffentlicht.

Aber Warren fing auch an, bei Buffett & Son zu arbeiten, wo er die Maximen seines Großvaters aus erster Hand beobachten konnte. Ernest übernahm persönlich die Aufgabe, Warren von seinem mageren Lohn täglich zwei Penny abzuziehen – zusammen mit seinen Vorträgen über Arbeitsethos sollte diese Geste Warren die untragbaren Kosten vermitteln, die durch staatliche Programme wie die Sozialversicherung entstehen. Die Arbeit war für einen Zwölfjährigen hart: Kisten schleppen, Brause abladen. Warren machte das nichts aus. Er mochte den Geruch von Lebensmittelgeschäften nicht. Wenn Obst verfault war, musste er die Behälter putzen.²⁸

Aber er mochte den Laden. Buffett & Son war ein gemütliches, verwinkeltes Lebensmittelgeschäft mit knarrenden Holzdielen, rotierenden Ventilatoren und reihenweise hölzernen Regalen, die bis zur Decke reichten. Wenn jemand eine Dose aus dem obersten Regal wollte, schob Warren oder ein anderer Mitarbeiter eine rollbare Leiter an die richtige Stelle und erstieg den Gipfel.

Das war das erste erfolgreiche Geschäft, das Warren gesehen hatte. Sein Onkel Fred, der hinter der Theke stand, hatte für jeden Kunden ein freundliches Wort. Außer knusprigem, frisch gebackenem Brot und verpackten Keksen und Nüssen hatte Buffett & Son ein „gewisses Etwas" – vielleicht die Einhaltung von Großvaters pfennigfuchserischen Tugenden – das die Menschen wieder herzog.²⁹ Charlie Munger, Warrens späterer Geschäftspartner, arbeitete an Samstagen auch dort (allerdings lernte er Warren erst Jahre später kennen). Munger sah in diesem Geschäft die Einimpfung einer Kultur, etwas aus einem Gemälde von Norman Rockwell. Niemand trödelte dort jemals. „Man war verdammt nochmal von der ersten Morgenstunde bis zum Abend beschäftigt. Wenn Warrens Cousin Bill Buffett ein paar Minuten zu spät hereinstapfte, begrüßte ihn sein stattlicher, weißhaariger Großvater von einem Balkon im zweiten Stock aus, indem er ihn anblaffte: „Bill, wie viel Uhr ist es?

Als Warren bei Ernest wohnte, ging er zum Mittagessen oft zu Carl Falk, dem damaligen Geschäftspartner seines Vaters. Während Frau Falk kochte, setzte er sich mit einem Investment-Buch aus Falks Arbeitszimmer hin – das war eher seine Kragenweite als Lebensmittelgeschäfte. Einmal verkündete er, während er Mary Falks Hühnersuppe mit Nudeln schlürfte, mit 30 würde er Millionär sein – und dann setzte er noch geheimnisvoll hinzu: „Und wenn nicht, dann springe ich von dem höchsten Gebäude in Omaha."

Mary Falk war entsetzt und sagte ihm, so etwas solle er nicht mehr sagen. Warren schaute sie an und lachte. Sie konnte seinem Charme jedoch nicht widerstehen und er war im Hause Falk stets willkommen. Mary Falk war offenbar die Erste, die ihn fragte: „Warren, wieso hast du den Drang, so viel Geld zu verdienen? " „Es ist nicht so, dass ich Geld haben will, erwiderte Warren. „Es macht nur Spaß, Geld zu verdienen und zuzusehen wie es sich vermehrt.

Die letzten Monate der achten Klasse genoss Warren Buffett wie eine Galgenfrist. Er war wieder mit seinen Freunden vereint und er durchstreifte die Stadt von dem Buffett-Laden in der westlichen Vorstadt bis zu den Pflasterstraßen des Stadtzentrums mit den geschäftigen Märkten unter freiem Himmel, mit den Lagerhäusern aus rotem Backstein und Eisen, wo Sidney, der erste Buffett in Omaha, vor einem Dreivierteljahrhundert sein Geschäft eröffnet hatte. Warren gehörte schon zur vierten Generation von Buffetts in Omaha und er fühlte sich hier überaus heimisch. Er besaß die zwanglose Art der Stadt, ihre einfache Prärie-Syntax und auch ihre undurchsichtige, emotionslose Hülle. Er war wohl kaum „einfach", aber in seinen wesentlichen Grundzügen – seiner heraufdämmernden Eigenständigkeit, seinem ehrgeizigen, aber vorsichtigen kapitalistischen Eifer und seinem beherrschten, ruhigen Äußeren – war er unverkennbar ein Mittelwestler. Doch leider waren Warren im Herbst 1943 die Ausreden dafür ausgegangen, nicht nach Washington zu seiner Familie zurückzukehren. Seine Galgenfrist war abgelaufen.

ANMERKUNGEN:

1 Doris Buffett Bryant hat den Stammbaum der Familie erforscht.

2 Zuerst bestimmte Lincoln die Nachbarstadt Council Bluffs in Iowa zur Endstation, aber dann wurde sie nach Omaha verlegt. Leighton, George R.: „Omaha, Nebraska: The Glory Is Departed", in: Harper’ s Monthly , Juli/August 1938; Larsen, Lawrence H. und Barbara J. Cottrell: The Gate City: A History of Omaha , Boulder, Colorado, Pruett 1982.

3 Leighton: „Omaha, Nebraska".

4 Taylor, John: „Grocery Will Close After 100 Years", in: Omaha World-Herald , 29. Oktober 1969 [eigene Hervorhebung].

5 McMorris, Robert: „Leila Buffett Basks in Value of Son’s Life, Not Fortune", in: Omaha World-Herald , 16. Mai 1987.

6 Leila Buffetts Memoiren.

7 Brief von Ernest Buffett an Clarence Buffett, 28. März 1930.

8 Leila Buffetts Memoiren.

9 Davis, L.J.: „Buffett Takes Stock", in: New York Times , 1. April 1990.

10 Leila Buffetts Memoiren.

11 Ebenda.

12 Robert Falk.

13 „The Money Men: How Omaha Beats Wall Street", in: Forbes , 1. November 1969; Davis: „Buffett Takes Stock".

14 Bob Russell

15 Warrens Schwester bezeugte seine Angst.

16 Loomis, Carol J.: „The Inside Story of Warren Buffett", in: Fortune , 11. April 1988.

17 Warrens Schwestern wollten über die „Launen" ihrer Mutter nicht ausführlich sprechen, bestätigten jedoch, dass Leila solche Ausbrüche hatte, und lieferten Hintergrundinformationen.

18 Peter Buffett.

19 Stuart Erickson.

20 Baum, Arthur W.: „Omaha", in: Saturday Evening Post , 10. September 1949.

21 „Omaha: A Guide to the City and Environs" (unveröffentlichter Teil der American Guide Series , Federal Writers Project, Works Progress Administration, 1930er-Jahre).

Für Beschreibungen der Depression in Omaha siehe auch: A Comprehensive Program for Historic Preservation in Omaha, Omaha, Landmarks Heritage Preservation Commission 1980 ; Baum: „Omaha"; Larsen und Cottrell: The Gate City; Leighton: „Omaha, Nebraska".

22 „Buffett Files for Congress, Fights ‚Political Servitude‘", in: Omaha World-Herald , 29. Juni 1942.

23 Davis: „Buffett Takes Stock".

24 Ebenda.

25 Doris Buffett Bryant.

26 Berkshire Hathaway Inc., 1985 Annual Report , S. 10.

27 Brief von Ernest Buffett an Clarence Buffett, 28. März 1930.

28 Gladys Mary Falk.

29 Charles Munger.

DURCHGEBRANNT

Die Buffetts waren in ein Haus mit vier Schlafzimmern in Spring Valley gezogen, einen Außenbezirk von Washington an der Northwest 49th Street. Das war ein weiß gestrichenes Backsteinhaus mit einer offenen Veranda davor und mit einer Einfahrt, die nach hinten abfiel. Das war das typische bescheidene Haus eines jungen Kongressabgeordneten – die Familie von Richard Nixon gehörte zu den Nachbarn – und es lag einen kurzen Fußmarsch von der Massachusetts Avenue entfernt. Hinter dem Haus war nichts als Wald. Warrens neues Leben drehte sich um seine Arbeit als Zeitungsausträger für die Washington Post. Er war inzwischen 13 Jahre alt, führte über seine Geschäfte Buch und machte eine Steuererklärung – und wehrte sich trotzig dagegen, dass sein Vater die Steuern bezahlte.¹

Doch abgesehen von seiner Zeitungsroute war Warren zutiefst unglücklich. Auf der Alice Deal Junior High machte er den Lehrern ein bisschen Ärger und seine Noten waren mittelmäßig.² Er war zu jung für seine Klasse, weil er ein Jahr übersprungen hatte, er war Brillenträger und war nicht in die Gemeinschaft integriert. Er sah so schlampig aus, dass der Direktor Leila warnte, er solle sich lieber etwas zusammenreißen.³

Im Juni, am Ende jenes ersten, unglücklichen Jahres, lief Warren weg – die erste echte Rebellion seines Lebens. Er, Roger Bell – der Sohn eines Kongressabgeordneten aus Missouri – und noch ein Kumpel wollten nach Hershey in Pennsylvania trampen. Warren kannte dort einen Golfplatz und dachte, dort könnten sie ein paar Tage als Caddies bleiben. Aber dieses eine Mal hatte er keine wirtschaftlichen Motive. Ihm stank seine Familie, ihm stank es, in Washington zu sein – ihm stank einfach alles.

Die Jungs kamen bei Einbruch der Nacht an und nahmen sich ein Zimmer im Community Inn – sie hatten nicht einmal Zahnbürsten dabei. Am nächsten Morgen wurden sie von der Polizei angehalten, kaum dass sie durch die Tür getreten waren. Bell war klein, während Warren und der andere Junge fast einen Meter achtzig waren. Von Weitem hatten die Polizisten Bell für viel jünger gehalten – vielleicht das Opfer einer Entführung – und nahmen das Trio zum Verhör mit. Man mag sich vorstellen, wie der nicht ganz 14-jährige Warren Buffett die Behörden wortgewandt von ihrer Unschuld überzeugte, ohne viel darüber zu sagen, was sie eigentlich wirklich machten. Die Polizei ließ sie gehen, aber die Luft war raus. Am gleichen Tag trampten sie wieder nach Hause.

Es erscheint unwahrscheinlich, dass Warren vorhatte, seine eher halbherzige Revolte fortzusetzen. Seine Anflüge, in der Schule über die Stränge zu schlagen, waren ziemlich zahm; laut seiner Schwester Roberta war „rebellisch für ihn ein „ziemlich starkes Wort.

Aber Howard und Leila waren schockiert. Als Warren nach Washington zurückkam, waren sie zwar freundlich zu ihm, aber Howard beschloss, die Meuterei im Keim zu ersticken. Er sagte Warren, entweder müssten seine Schulnoten besser werden, oder er müsste das Zeitungaustragen aufgeben.

Das wirkte auf Warrens Noten wie ein Elixier. Anstatt die Zeitungsroute aufzugeben, erweiterte er sie. Bedenkenlos übernahm er noch eine Route für den Times-Herald, das morgendliche Konkurrenzblatt der Post, die in dem gleichen Gebiet lag wie seine Post-Route. Buffett erinnert sich, wenn ein Abonnent die eine Zeitung abbestellen und dafür die andere haben wollte, „sah er am nächsten Morgen mein strahlendes Gesicht".⁵ Bald hatte Warren fünf Touren und musste jeden Morgen an die 500 Zeitungen austragen. Leila stand früh auf und machte ihm Frühstück. Um 20 nach fünf ging Warren aus dem Haus und nahm den Bus hinunter zur Massachusetts Avenue. In den seltenen Fällen, in denen er krank war, machte Leila die Tour für ihn, aber das Geld tastete sie nicht an. „Die Einnahmen waren alles für ihn, schrieb sie. „Man wagte es nicht, die Schublade anzurühren, in dem er sein Geld aufbewahrte. Jeder Penny musste da sein.

Warrens Kronjuwel waren die Westchester Apartments, eine Ansammlung achtstöckiger Backsteinhäuser in der Cathedral Avenue. Schnell entwickelte er eine Art Fließbandmethode, die des jungen Henry Ford würdig gewesen wäre. Vom Aufzug aus legte er die Hälfte der Zeitungen für das Gebäude in den achten Stock und die Hälfte in den vierten Stock. Dann eilte er zu Fuß durch das Gebäude und legte die Zeitungen vor den einzelnen Wohnungen ab. Am Zahltag hinterließ er einen Umschlag am Empfang, sodass er nicht von Tür zu Tür zu gehen brauchte. Als die Buffetts für den Sommer nach Omaha fuhren, vertraute Warren die Route einem Freund namens Walter Diehl an und erklärte ihm, wie er das machen musste. Diehl erinnert sich: „Da lag dieser Stapel Zeitungen vor einem – ein Berg! Aber das dauerte nur etwa eineinviertel Stunden. Das war eine schöne Tour. Alle Gebäude waren unterirdisch miteinander verbunden. Man brauchte nie hinauszugehen."

Warren dachte sich, er könnte seinen Gewinn steigern, wenn er sein Sortiment erweiterte, und so verkaufte er an den Wohnungstüren auch Zeitschriften. Der Trick bestand darin, die Abonnements genau zum richtigen Zeitpunkt anzubieten. Manche Kunden, so erinnert sich Buffett, „ließen ihre Zeitschriften draußen im Treppenhaus liegen, und wenn man den Adressaufkleber abriss, wusste man, wann die Abonnements ausliefen. Also merkte ich mir, wann die Abonnements der Leute ausliefen."

Die Wohnungen galten zwar als nobel – Warren sah im Aufzug Jacqueline Bouvier –, aber trotzdem waren Schnorrer ein Problem. Im Washington der Kriegszeit zogen häufig Menschen ein und aus und vergaßen ihn manchmal zu bezahlen. Also machte Warren mit den Aufzugmädchen einen Deal: Sie bekamen umsonst Zeitungen und Warren bekam einen Tipp, wenn irgendjemand vorhatte auszuziehen!

Kurz gesagt hatte Warren aus seiner Zeitungstour ein Geschäft gemacht. Er verdiente 175 Dollar im Monat – so viel bekam mancher junge Mann als Lohn für eine Vollzeitarbeit – und sparte jeden Groschen.⁸ Im Jahr 1945, als er immer noch 14 war, nahm er 1.200 Dollar von seinem Gewinn und investierte sie in 40 Morgen (16 Hektar) Farmland in Nebraska.

Natürlich war der Zweite Weltkrieg der ständige Hintergrund von Warrens Jahren in Washington. An der Schule gab es Propagandaveranstaltungen und zu Hause gab es Verdunklungsvorhänge. Trotzdem hatte der Krieg kaum direkte Auswirkungen auf ihn. Die einzige Ausnahme war der August 1945, als die Buffetts den Sommer in Omaha verbrachten. Warren hörte die Meldung über Hiroshima und hatte mit Jerry Moore, seinem Nachbarn in Omaha, eine lebhafte Diskussion über die Atombombe. Moore erinnert sich, dass Warren sehr besorgt war. Er betrachtete die Wirklichkeit genauso wie die Religion – mit unerschütterlicher, schrecklicher Logik. „Wir unterhielten uns – ich erinnere mich lebhaft daran – auf dem Rasen vor meinem Haus. Er fürchtete die Konsequenzen der Kettenreaktion ... die mögliche Vernichtung der Welt."

Wieder zurück in Washington und auf der Woodrow Wilson High fügte sich Warren ein bisschen besser ein. Seine Zeitungstouren waren ein Fluchtweg vor dem Heimweh und er fing an, einen Freundeskreis aufzubauen. Wie in Omaha stellte er eine Mannschaft zusammen, die Golfbälle sammelte. Außerdem spielte er ziemlich gut Golf und trat in die Schulmannschaft ein.

Robert Dwyer, der Golftrainer, war eine weitere Lehrergestalt, die Warren pflegte. Dwyer fand ihn seltsam – fleißig, aber nicht streberhaft. Er nahm Buffett mit auf die Rennbahn und erklärte ihm, wie man Daily Racing Form liest. Im Sommer nach Warrens elftem Schuljahr spielten Dwyer und Warren zufällig am Tag des All-Star-Spiels Golf. Es fing an zu regnen, also setzten sie sich in Dwyers Auto und schalteten das Spiel ein. Charlie Keller von den New York Yankees war am Schlag und Dwyer sagte: „Ich wette 20 zu eins, dass er einen Homerun schlägt. Warren sagte: „Einen Dollar dagegen. Natürlich schlug Keller einen Homerun. Dwyer war so freundlich, die 20 Dollar bei einer anderen Wette wieder zu verlieren.

Sie wussten allerdings beide, dass Warren mehr Geld verdiente als sein Trainer.⁹ Ausgesetzt in einer

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