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Die unglaublichen Abenteuer des Senor Sastre
Die unglaublichen Abenteuer des Senor Sastre
Die unglaublichen Abenteuer des Senor Sastre
Ebook283 pages3 hours

Die unglaublichen Abenteuer des Senor Sastre

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About this ebook

Die wirklich echten Helden sind keine besonderen Menschen. Es sind die kleinen Leute, die durch die Umstände in ihre Abenteuer hineinrutschen. Das ist es, was diese Menschen dann doch so besonders macht. In noch so ungewöhnlichen Situationen noch irgendwie einen Draht zur Realität zu behalten, das ist es, was Sastres Protagonisten ausmacht. Manchmal entstehen die abgedrehtesten Abenteuer alleine dadurch. Fast alle diese besonderen Leute haben noch etwas gemeinsam. Was? Finden Sie es heraus!
LanguageDeutsch
Publisher110th
Release dateJan 9, 2015
ISBN9783958655164
Die unglaublichen Abenteuer des Senor Sastre

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    Book preview

    Die unglaublichen Abenteuer des Senor Sastre - Roberto Sastre

    Roberto Sastre

    Die unglaublichen Abenteuer des Señor Sastre

    Geschichten über ziemlich besondere Leute

    Das Buch

    Besondere Menschen erleben besondere Abenteuer. Die Protagonisten dieser Geschichten sind ganz besondere Menschen. Aber auch die Geschichten von Roberto Sastre haben etwas Besonderes: Man weiß nie, wie viel Autobiografisches drin steckt.

    Der Autor

    Roberto Sastre, eigentlich Roberto de Sastre, ist in Deutschland geboren und führte als Computerspezialist ein einigermaßen geruhsames Leben, das nur von gelegentlichen Eskapaden des passionierten Rockmusikers unterbrochen wurde. Als ihn ein Kundenauftrag ins Ausland führte, packte ihn das Reisefieber. Einige Jahre lebte er in Lateinamerika, wo man seinen Namen kurzerhand verspanischte. Seit einem Unfall sitzt er querschnittgelähmt im Rollstuhl. Seine Abenteuerlust und den Spaß am Erzählen tobt er jetzt an der Tastatur aus.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Impressum

    1. Auflage

    Deutsche Erstausgabe

    Copyright © 2014 110th / Chichili Agency

    Umschlaggestaltung: Robert Schneider / Karsten Sturm - Chichili Agency

    Coverfoto: fotolia.de

    Herstellung und Verlag: 110th

    EPUB ISBN: 978-3-95865-516-4

    MOBI ISBN: 978-3-95865-517-1

    Published in Germany

    „Robosito, sagte mein Freund, der Traumdeuter. „Das sind aber doch nicht deine Abenteuer.

    „Bist du da so sicher?", antwortete ich und rückte näher zum Feuer.

    Roberto Sastres unglaubliche Abenteuer

    oder

    Kurzgeschichten über ziemlich besondere Leute

    Was diese gemeinsam haben?

    Eigentlich nicht viel. Es geht um Menschen, deren Leben nicht so ganz gradlinig verläuft. Die kleinen Leute eben, die nicht die Kraft haben, das System aus den Angeln zu heben. Wenn man aber geduldig genug an den Schrauben wackelt, wer weiß, was da passiert?

    Wie das mit Anthologien und Serien so ist, irgendwann werden sie eingestellt. Ich habe für manche Serien geschrieben, sogar eine eigene Mini-Serie war dabei.

    Kurzgeschichten haben etwas Besonderes an sich. In einem Roman kann ich weit ausholen und meine Leser genüsslich auf die Geschichte vorbereiten. In Kurzgeschichten muss ich auf den Punkt kommen. Das macht die ganze Sache auch für den Autor immer aufs Neue spannend. Naja, und eines Tages wollte ich einfach alle meine Kurzgeschichten zusammen haben – oder wenigstens die, die ich für gelungen halte…

    Ach ja, alle Protagonisten haben alle noch eine eigene, kleine Besonderheit. Welche? Finden Sie es heraus.

    Die Klinik

    Nach der Gesundheitsreform

    Oder: Vom krank sein durch krank sein

    Eine Kurzgeschichte aus nicht allzu ferner Zukunft

    Wie jeden Mittwoch traf ich mich auch gestern Abend mit meinem Freund Heinrich zu unserer allwöchentlichen Schachpartie. Kennen Sie Rollstuhlfahrerschach? Ist ganz einfach. Man baut an einem nicht zu niedrigen Tisch ein Schachbrett auf, mit Schachuhr, Block, Stift, etc.

    Dazu kommen pro Person drei Gläser auf den Tisch. Nachdem die Unbeteiligten den Raum verlassen haben, bittet man die Schiedsrichter herein. Gestern hießen sie: Cabernet Sauvignon, Dornfelder Weißherbst, unterstützt von einem sensationellen Merlot von der Halbinsel Tihany. In einem unverfänglichen Gespräch versucht man, die Gedanken des Gegners nachzuvollziehen und dabei das Schachbrett zu ignorieren. Gewonnen hat, wer den Gegner dazu bringt, für mindestens 15 Sekunden die Augen zu schließen, ohne selbst das Schachbrett zu berühren. Meinem Kopf nach zu urteilen, hat Heinrich gewonnen. Die Südamerikaner können es einfach nicht lassen, ihre Cabernets mit einer gehörigen Portion Schwefel auf die Ozeanreise vorzubereiten.

    Die Klinik

    Es ist mal wieder an der Zeit für meinen alljährlichen Check-up. Als querschnittgelähmter Rollstuhlfahrer sollte man diese Termine ernst nehmen, speziell, wenn ein Teil des Körpers unsensibel ist. Das angeblich so schwache Geschlecht wirft uns ja von Haus aus vor, unsensibel zu sein. Bis heute habe ich vergeblich versucht, herauszubekommen, worauf diese Annahme basiert. Ich für meinen Teil spüre ungefähr die Hälfte meines Körpers nicht. Schmerz ist ein Warnsignal, kein Schmerz ist normalerweise ein gutes Zeichen, wenn der ganze Körper zu fühlen ist.

    Ich bat den untersuchenden Arzt, den Lendenbereich röntgen zu lassen. Seit einiger Zeit habe ich das Gefühl, dass meine Rumpfstabilität nicht mehr stimmt. Das Ergebnis war verblüffend. Zwei meiner Lendenwirbel haben sich buchstäblich verkrümelt. Ich musste schnellstmöglich operiert werden. Der nächste freie Termin wäre nächste Woche. Ich sollte nach Hause fahren, ein paar Sachen packen und in zwei Tagen wieder da sein, damit alle Voruntersuchungen gemacht werden können.

    Gut, das mit den Voruntersuchungen habe ich in die Ansprache des Arztes hineininterpretiert, aber wozu sollte ich sonst früher kommen? An die Auswirkungen der Gesundheitsreform habe ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht gedacht.

    Zum vereinbarten Zeitpunkt lasse ich mich von einem Bekannten zur Klinik bringen. Natürlich hätte ich auch selbst fahren können, aber der unbewachte Parkplatz für Patienten kostet fünf Euro am Tag. Direkt an der Pforte werde ich aufgehalten, wie lange mein stationärer Aufenthalt wohl dauern würde. Weiß ich doch nicht. Name, Sozialversicherungsnummer oder Geburtsdatum? Die weiß ich natürlich auswendig. Schon bin ich im Computer gefunden. Gut, dann buche ich Ihre Zuzahlung von 50 Euro pro Tag erst mal für 4 Wochen ab. Sollte es länger gehen, dann erfolgt eine Nachbelastung. Übrigens, ich sehe gerade, ihre Miete und die Nebenkosten sollen heute ebenfalls abgebucht werden. Ihr Konto weist aber nicht mehr genügend Deckung auf. Tja, das wird wohl zurückgehen.

    Hören Sie mal, Sie können doch nicht ohne meine Erlaubnis an mein Konto ...

    Natürlich kann ich! Nach der letzten Kostenreform kann ich mir sogar die 60.000 Dollar Schwarzgeld, die Sie auf den Caiman Islands gebunkert haben, holen. Was ich im Übrigen gerade getan habe. Die nehme ich als Sicherheit, falls Ihre Kasse die Kosten für die Operation verweigert. Die gesetzlichen Kassen haben seit der Reform die merkwürdigsten Ideen. Unser System hat diese Transaktion selbstverständlich den Finanzbehörden gemeldet, nicht dass Sie glauben, wir würden hier irgendwelche illegalen Dinge tun. Warum bestellt übrigens Ihre Frau gerade über Ihre Kreditkartennummer bei der fliegenden Kondomerie eine solche Ladung Material? Da sollten Sie sich mal Gedanken machen, nicht über die paar Euro, die Sie sowieso hätten zahlen müssen. So, bitteschön, hier ist Ihre Anmeldebestätigung, damit melden Sie sich auf Station. Einen schönen Tag noch.

    Und schon bin ich wieder draußen auf dem Flur. Mit dem Aufzug fahre ich hinauf in den 22. Stock. Die Schwester, die mich aufnimmt, macht einen etwas überarbeiteten aber ziemlich netten Eindruck.

    Sie können Ihre Sachen auf das Bett gleich hier drüben legen. Auf dem Gang stehen mehrere Betten, eines davon ist nicht belegt. Die Matratze hat zwar schon bessere Tage gesehen, dafür hat sich aber ein unbekannter Künstler Mühe gegeben, sie mit konzentrischen Figuren zu verschönern. Es sieht ein bisschen aus, wie eine Hundertwasser-Konstruktion. Die ineinanderfließenden Braun- und Gelb-Töne treffen die Tristesse eines Krankenhausaufenthalts auf den Punkt. Es tut mir schon fast weh, dieses gefühlvolle Kunstwerk mit einem Laken zu bedecken, aber die Hausverwaltung beweist Kunstsinn. In Höhe der Ornamente weist das Laken Strukturschwächen und Aussparungen auf, die das Gesamtkunstwerk erst abrunden. Wenn einem Kassenpatienten schon solch ein Luxus geboten wird, dann kann ich verstehen, warum die Kostenreform ins Leere lief.

    In welches Zimmer komme ich denn? Dann könnte ich zu Hause schon mal Bescheid sagen.

    Zimmer? Die Schwester sieht mich an, als wäre ich ein Erstklässler, der verkündet hat, er wolle sich auf Teilchenphysik spezialisieren. Das hat Zeit. Jetzt werden Sie erst mal eingewiesen. GEEERTRUUUD!

    WAS?

    ICH HAB HIER NE EINWEISUNG!

    GRAD 'N MOMENT!

    Dieser in höchster Lautstärke geführte Wortwechsel ist für ein Krankenhaus doch ein wenig unüblich. Schließlich liegen hier doch auch mit Sicherheit Patienten, die Ruhe brauchen. Die Rufanlage ist schon lange kaputt, erfahre ich. Deswegen liegt auch auf jedem Nachttisch eine Trillerpfeife. Auf den Zimmern. Die Patienten, die auf dem Gang auf einen Zimmerplatz warten, können ja jederzeit eine Schwester oder einen Pfleger anhalten. Das ist Innovation! Statt in eine Strom fressende Technik noch Geld hinein zu stopfen, besinnt man sich auf traditionelle und genauso wirksame Kommunikationsformen. In Tirol wird bestimmt gejodelt.

    Warum mich Schwester Gertrud, so stark an den Hauptfeldwebel meiner Ausbildungskompanie erinnert, mag daran liegen, wie zartfühlend sie mit den neu eingetroffenen Patienten umgeht. Mit dem Wegfall der Wehrpflicht hat man auch den Zivildienst beendet. Der wäre auch unnötig gewesen, denn nach der Kostenreform konnte sich ja sowieso keine Klinik mehr Zivildienstleistende leisten. Und die Nachfolger vom Bundesfreiwilligendienst, die waren ja noch teurer. Deren Aufgaben werden jetzt von Patienten übernommen. Nicht jeder kann sich die Eigenanteile der Krankenhauskosten leisten und so bietet sich die Möglichkeit, diese abzuarbeiten. Eine Win-win-Situation nennen Betriebswirtschaftler so etwas. Als Erstes bekommt jeder einen Auffrischungslehrgang in Erster Hilfe verpasst. Kostenpflichtig, versteht sich. Stabile Seitenlage, Beatmen, Herzdruckmassage, Schocklagerung, die ganze Palette eben. Nachdem ich das dritte Mal beim Ansetzen der Herzdruckmassage aus dem Rollstuhl gerutscht und neben dem Übungspatienten gelandet bin, jedes Mal mit erfrischenden Kommentaren von Schwester Gertrud, darf ich diese Übung überspringen.

    Dafür darf ich als erster die Reanimation mit dem Defibrillator ausprobieren, zunächst an mir selbst. Aber selbst in solchen Situationen ist man vor Neidern nicht gefeit. Gerade, als ich mich über das lustige Pritzeln freue, haut mir jemand ein Brett oder so etwas voll vor die Brust. Schlagartig wird es dunkel. Als ich wieder zu mir komme, ist es immer noch dunkel. Ganz langsam kann ich im Dämmerlicht Einzelheiten erkennen. Eine mitleidige Seele hat meinen Rollstuhl an das Bett geschoben, auf dem meine Sachen liegen. Weit und breit ist niemand zu sehen. Glücklicherweise habe ich mir den Pflegebedarf für ein paar Tage mitgenommen. Also hieve ich mich ins Bett und mache mich fertig, soweit ich komme. Die Kompressionsstrümpfe kann ich ruhig mal eine Nacht anlassen. Wichtig ist, dass ich an alle Utensilien zum Katheterisieren drankomme. Mülleimer sehe ich keinen, also nehme ich die Verpackung eines Einmalkatheters, um meine Abfälle zu entsorgen. Das Abendessen habe ich entweder verpasst, oder bekomme keins, da kann ich auch gleich schlafen.

    Tag zwei.

    WAS IST DENN HIER LOS? DA LIEGT DER MENSCH IN DER FURZMULLE WIE GRAF ROTZ! SIND WIR HIER DAS RITZ, ODER WAS? Die Stentorstimme von Schwester Gertrud reißt mich übergangslos vom traumlosen Tiefschlaf in volle Alarmbereitschaft. Die würde wirklich einen prima Spieß abgeben. Zaghaft erkundige ich mich nach den Hygienemöglichkeiten, Waschen, Zähne putzen, etc. Der Patientenwaschraum ist da drüben, aber hurtig, die anderen warten schon auf ihr Frühstück.

    Die können doch ohne mich ...

    Wie kommen sie denn auf das schmale Brett, was glauben Sie denn, wer das Frühstück austeilt?

    Aha, da weiß ich doch schon, was heute früh auf mich zukommt. Das mit der Erstversorgung war wohl nicht so prickelnd gelaufen. Mal sehen, mit ein bisschen Glück bekomme ich heute sogar einen Untersuchungstermin.

    Der Waschraum für Kassenpatienten begeistert aber auch den alleranspruchsvollsten Abenteuerurlauber. Schon die Tür ist eine echte Herausforderung. Der Türgriff muss kurz vor oder nach den Kreuzzügen verloren gegangen sein. Wenn ich schräg über den Gang voll beschleunige und im letzten Moment auf einem Rad eine 180°-Drehung schaffe, dann bekomme ich mit der Schulter die Tür ganz leicht auf. Tut auch kaum weh. Die Waschbecken machen einen ziemlich sauberen Eindruck. Ich schätze, die werden mindestens einmal im Monat ausgewischt. Mit Handtüchern oder Seifenspendern habe ich nicht gerechnet, deswegen überrascht es mich umso angenehmer, dass an einem Waschbecken ein leerer Handtuchhaken sein einsames Dasein fristet. Der Münzautomat neben dem Becken möchte 10 Ct pro Minute Wasser haben. Für Heißwasser sind 50 Ct pro Minute fällig. Naja, ich habe schon einige Klinikaufenthalte überlebt, daher kenne ich die Dinger. Frischwasser bedeutet nicht allzu abgestanden und ungefähr auf Zimmertemperatur. Heißwasser ist noch mit Eisenhydroxid, Magnesium und Schwerionen versetzt. Diese Kostbarkeit ist an der bräunlichen Verfärbung und einem leicht bitteren Moschusgeschmack im Abgang erkennbar. Mit viel Glück erwische ich sogar noch eine Ahnung von Ammoniak. In richtig guten Häusern werden zur Stärkung des Immunsystems noch E.coli-Bakterien zugesetzt. Das Wasser wird auf fast Körpertemperatur erwärmt, damit die Blume richtig zur Geltung kommt. Dem Gourmet in mir bildet sich eine metertiefe Pfütze unter der Zunge. Mein innerer Abenteurer kann gerade noch eingreifen, als meine Hand schon zum Geldbeutel zuckt. Aus dem Rucksack hole ich meinen Faltbecher, der mich schon durch so viele Verrücktheiten begleitet hat. Vorsichtig verkeile ich ihn mit einem Fetzen Toilettenpapier unter dem Anschluss des Kaltwasserhahns. Zum Glück kommt die Zuleitung von oben, sonst hätte ich in meinem Rollstuhl ein echtes Problem. Dann lege ich vorsichtig die gefalteten Hände um die Zuleitung oberhalb des Anschlusses und blase in die entstandene Öffnung leicht hinein. Hab ich mir´s doch gedacht! Der Kitt wird durch die Erwärmung porös und das Wasser tröpfelt mir gemütlich meinen Becher voll. Dass die begehrten Zusätze dabei herausgefiltert werden und das nackte Wasser mit einer Ahnung von Chlorid den Becher füllt, damit muss ich eben leben. Wie ich mit einem Becher voll Wasser Gesicht und Oberkörper wasche, die Zähne putze und noch einen Schluck zum Trinken übrig lasse, damit möchte ich niemanden langweilen. Das lernen wir schließlich schon im Kindergarten. Die Unterseite meines Bechers habe ich zu einem Metallspiegel poliert. Verstellbare Spiegel in Behinderteneinrichtungen sind so etwas von unnütz. Entweder sie sind zu tief oder zu hoch oder festgefressen. Außerdem sind wir doch sowieso alle individuell. Ein eigener Spiegel ist für Rollstuhlfahrer essenziell. In dem berühmten Nachschlagewerk Im Rollstuhl durch die Galaxis wird der erfahrene Rollireisende, den man nur unter seine Kampfnamen Der Rollinator kennt, so beschrieben: Ein ganz ausgebuffter Kerl. Und er weiß immer, wo sein Spiegel ist.

    Erfrischt, wie nach einem ausgiebigen Schaumbad werfe ich mich wieder ins Leben. Schließlich habe ich nur sechs Tage Zeit, einen Voruntersuchungs- und danach einen OP-Termin zu bekommen. Schaffe ich das nicht, werde ich freundlich, aber bestimmt aus der Klinik komplimentiert. Der bereits bezahlte Selbstkostenanteil verfällt automatisch. Das gehört zu den allgemeinen Geschäftsbedingungen der Klinik, denen ich durch eine aktive Handlung, nämlich dem Passieren der Eingangstür, zugestimmt habe. Die gesamte 265-bändige Bestimmung liegt selbstverständlich öffentlich aus. Sie steht in einem Mikropunkt, der auf der Rückseite des Namensschildes des 2. Hausmeisterstellvertreters aufgedruckt ist. Dass dieser Mikropunkt genau dort sitzt, wo der Befestigungsclip für das Namensschild eingeklickt wird, das ist mit Sicherheit keine Absicht.

    Das Frühstück auszuteilen, ist jetzt nicht so die kognitive Herausforderung. Ich schätze die Zahl der Betten auf den Zimmern, dann die der Betten auf dem Gang. Mal sehen, vier Betten für jedes Zimmer, bei 10 Zimmern, macht 40 im Sinn. 12 Betten auf dem Gang, 44 Tabletts. Selbst mit der Infinitesimalbruchrechnung bei einer unendlichen Varianz bekomme ich nicht genug Futter zusammen. Manchmal macht es doch Sinn, vorher zu denken. Unter meinem Sitzkissen klappe ich den Faltcontainer heraus. Der Faltcontainer besteht aus einigen Kunststoffscheiben, die ich mit Gaffa-Tape so zusammengeklebt habe, dass sie sich leicht auseinander und ganz flach zusammenfalten lassen. Ein Stück Anti-Rutsch-Matte hält durch mein Gewicht die Konstruktion ausgeklappt zwischen meinen Beinen. Eingeklappt unter dem Sitzkissen ist sie quasi unsichtbar.

    Dann überprüfe ich die Tabletts. Hmm, Rührei. So viel ist gar nicht gut fürs Cholesterin. Die Unterteilung in unterschiedlich große Fächer macht den Klappcontainer noch wertvoller. Was haben wir da? Laugencroissants? Die sind sogar noch warm. Kann das sein, dass die Lieferung für die Privatstation ist? Nicht fragen, einpacken! Drei Croissants zum Frühstück? Und wieder ein Mensch, den ich vor einem Schlaganfall rette. Zwei sind viel gesünder. Butterstückchen liegen in einem extra Behälter – eins reicht mir, man ist ja nicht unverschämt. Auf der anderen Seite des Ganges schnüffelt ein Patient verstohlen am Getränkewagen. Für solche Fälle habe ich immer ein paar Papierbecher zur Verfügung, wie sie in jedem Getränkeautomaten stecken – außer in Kliniken natürlich. Ich rolle ganz selbstverständlich zu ihm rüber. Einen Papierbecher habe ich im Hosenbund eingeklemmt.

    Pssst, machst du ein Tauschgeschäft? Irritiert schaut er mich an, dann zieht Entrüstung über sein Gesicht. He, das sind die Frühstücksgetränke für die Zimmerpatienten, die haben die alle schon im Voraus gebucht und bezahlt, da kann ich doch nicht einfach ...

    Ich klappe mein Shirt ein wenig hoch und lasse ihn einen Blick auf meinen Hosenbund werfen. Seine Entrüstung wird übergangslos von einem sehnsüchtigen Seufzer weggewischt.

    Der Becher ist dir, wenn du in meinen ein kleines bisschen Kaffee mit Milch schüttest.

    Verstohlen schaut er sich um, dann streckt er die Hand nach dem Papierbecher aus. Mit einer geübten Bewegung schlenze ich den Klappbecher aus dem Ärmel, der sich dabei mit einer Folge leiser Klickgeräusche entfaltet.

    Erst da rein!

    Er füllt meinen Becher zu einem Drittel mit Kaffee, dann streckt er die Hand erneut aus. Ich lasse ein anerkennendes Brummen los. Jung lernst du, mein schneller Padavan. Ich lasse ihn den Papierbecher greifen, gleichzeitig hole ich mir das Tetra-Pack mit der Milch. Na also, wer sagt denn, dass Buttermilch keine Kraft gibt?

    Als unser verstohlenes Frühstück unter der Nase verschwunden ist, können wir den Rest wenigstens ohne allzu lautes Magenknurren austeilen.

    Das Einsammeln der Tabletts übernehmen wieder zwei andere Neuankömmlinge. Denen gehören dann die Reste. Schwester Gertrud scheint auch nicht ganz unzufrieden zu sein, denn ihre Stimme rutscht langsam unter 100 Dezibel.

    Als Nächstes werden wir der Raumpflege zugeteilt. Kehren, Nachtschränke abwischen, Betten abziehen, feucht raus wischen, alle Fenster auf und Durchzug, damit es wieder trocknet. Es gab zwar mal eine Maschine, die alles erledigt hat, aber die war äußerst wartungsintensiv und hat unglaublich viel Strom verbraucht. Für die Bedienung mussten speziell geschulte Fachkräfte eingestellt werden, die auch die diversen Chemikalien für die Maschine kontrollierten und nachfüllten. Industriereiniger, Desinfektionsmittel, Keim tötende Speziallauge, Bohnermilch, Wachsabrieb, um alles wieder rückstandsfrei aufzunehmen. Alleine die Entsorgung der kontaminierten Verbrauchsmaterialien war eine Wissenschaft für sich. Nach der letzten Reform verschwand die Maschine in den Tiefen der Archive. Ich muss schon sagen, hier in der Klinik versteht man es, Kosten zu reduzieren und gleichzeitig aktiv die Umwelt zu schützen.

    Meine fehlenden Lendenwirbel bringen mir jetzt einen unschätzbaren Vorteil: Wir alle haben als Kinder mit diesen Propellerflugzeugen gespielt, die als Antrieb einen normalen Haushaltsgummi haben. In jeder Hand einen Feudel drehe ich mich nach links, bis die Sehnen an der Dehnbarkeitsgrenze angekommen sind. Für einen Moment halte ich still. Wie eine Boxencrew kommen vier Patienten auf mich zugestürzt. Zwei nehmen mir die Feudel ab, die beiden anderen drücken mir frische Feudel in die Hände. Und rechts herum, das fängt an einen Heidenspaß zu machen. Rechts - Stopp – Tausch – Links – Stopp – Tausch. Wie in einem modernen Tanz haben wir in Rekordzeit den langen Krankenhausflur sauber gewischt und poliert.

    Der Oberarzt, der gerade mit wehendem Kittel aus seinem Zimmer sausen möchte, sieht aus den Augenwinkeln nur etwas sehr Blankes. Im selben Moment, als seine Zehenspitze den Fußboden berührt, hat er zu einem blitzschnellen Salto rückwärts angesetzt, der ihn wieder in sein Zimmer bringt. Hallo, das war aber genau so spektakulär wie elegant. Der Junge scheint in seiner Freizeit Kampfsport zu betreiben. Ich tippe mal auf diesen brasilianischen Kampftanz, dessen Namen ich mir nie merken kann. Schon taucht sein Kopf wieder im Türrahmen auf.

    Warum steht da kein 'Vorsicht Nass' Schild?

    Weils nicht nass, sondern sauber ist, normalerweise bin ich nicht so respektlos, aber die Nummer von eben hat mich so beeindruckt, dass mein ganzes Wertesystem ins Wanken gerät. Mit der Fußspitze probiert er vorsichtig. Junge, junge, DAS Grinsen kann sich sehen lassen. Geschätzte 60 ebenmäßige Zähne verteilen sich gleichmäßig in seinem Gesicht. Zum Glück hat er Ohren, sonst würde er rundherum grinsen. Ein anerkennendes Pfeifen dringt zwischen seinen Zähnen hervor. So sauber habe ich den Flur schon lange nicht mehr gesehen. Ich glaube, da hat sich jemand ein Bett verdient. Und schon hat er einen kleinen Taschencomputer in der Hand. Name? Der kommt wie aus der Pistole geschossen.

    Alles klar, das nächste freie Bett ist Ihnen. Ihre Voruntersuchung mache ich gleich morgen früh. Schönen Tag noch. Irgendwo auf dem frisch polierten Boden muss mein Unterkiefer liegen. Die beiden kleinen Sätze haben mein Kinn ausgeklinkt, das sich sofort im freien Fall davon gemacht hat. Das nächste frei werdende Bett ist meins, das lasse ich mir noch einmal genüsslich auf der Zunge zergehen.Die nächsten Stunden verbringe ich unbeweglich leicht geduckt neben meinem Bett. Alarmbereitschaft. Es soll so wenig wie möglich dazwischenkommen. Eine Hand habe ich locker auf der Matratze liegen, die andere so auf dem Greifreifen, dass ich sofort starten kann.

    Tschüss, Herr Schießmichtot, machen sie's gut, der Satz ist noch nicht aus dem Mund der Pflegerin raus, da stehe ich schon wie ein Kastenteufel vor ihr.

    Der Chef hat gesagt -

    "Ja,

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