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Lebendige Seelsorge 1/2015: Demenz
Lebendige Seelsorge 1/2015: Demenz
Lebendige Seelsorge 1/2015: Demenz
Ebook167 pages1 hour

Lebendige Seelsorge 1/2015: Demenz

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About this ebook

Demenz ist ein Begriff, der Angst und Abwehr auslöst. Dieses Heft sucht den Weg zu Menschen, die einen anderen Weg wählen, weg von der Pathologisierung hin zur konstruktiven Zuwendung.
Arno Geiger, der über seinen dementen Vater das Buch geschrieben hat "Der alte König in seinem Exil" spricht in einem ausführlichen und das Heft eröffnenden Interview über seine Erfahrungen mit seinem Vater, der im letzten Jahr gestorben ist. Damit unterscheidet sich die Heftkonzeption von anderen Heften: nicht ein Streitgespräch ist der Zugang, sondern die Erfahrung eines Poeten, dem eine neue Sprache gelingt. Den Vorwurf, Persönliches an die Öffentlichkeit zu zerren lässt er nicht gelten. Schriftsteller sollten über das schreiben, was sie an der Gurgel packt.
Dieses Gespräch ist der Leitfaden für die weiteren Beiträge: Hans Förstl bezeichnet Demenz aus medizinischer Sicht als natürlich und Andreas Kruse blickt auf die Demenz aus geriatrischer Perspektive: es ist ein Grenzgang zwischen Verlusten und Ressourcen.
Verena Wetzstein fordert eine Abwendung von der Dämonisierung dieser Krankheit hin zu einer solidarischen und sorgenden Gesellschaft. Das Projekt aus Fürstenzell macht deutlich: im Umgang mit Demenz ist absolute Ehrlichkeit gefragt, alle anderen Wege haben keine Chance. Marina Kojer gesteht, sie habe am meisten von Hochbetagten gelernt, es bedürfe aber einer besonderen Kunst der Kommunikation zu ihnen. Das gilt auch für Seelsorge (Christoph Seidl) und Pflege (Maria Kammermeier); sie brauchen einen Perspektivenwechsel: Kontakt geht vor Funktion. Ein Landarzt (Peter Landendörfer) berichtet schließlich, welche Konzepte für ihn hilfreich sind; er baut vor allem auf das Silviahemmet-Konzept der Malteser: "Der Kranke ist der Lehrer". Martina Schmidhuber fragt nach der Relevanz der Patientenverfügung bei Menschen mit Demenz.
Am Schluss wird das Literaturprojekt der Deutschen Bischofskonferenz vorgestellt, das im April und Mai in München und Freising anlässlich des 50.
LanguageDeutsch
PublisherEchter Verlag
Release dateFeb 1, 2015
ISBN9783429062293
Lebendige Seelsorge 1/2015: Demenz

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    Lebendige Seelsorge 1/2015 - Echter Verlag

    Sehnsucht nach einem Zuhause, in dem wir genug sind

    Ein Gespräch mit Arno Geiger

    LS: Gehen wir zunächst die biographischen Stationen ab, die Ihnen einfallen, wenn ich sage „Ihr Vater".

    Geiger: Mein Vater, August Geiger, ist 1926 in Vorarlberg geboren, in einer damals kleinen Rheintalgemeinde in der Nähe von Bregenz, als drittes von zehn Kindern. Seine Eltern waren Kleinbauern. Das ist schon mal etwas Bedeutendes, dieses Aufwachsen in einer großen Familie mit vielen Geschwistern. Freunde hatte er eigentlich nie. Mein Vater hatte Familie. Familie bot ihm den sprichwörtlichen Schoß. Er hat das Gymnasium in Bregenz besucht, einerseits weil man zuhause die Söhne zum Mitarbeiten gebraucht hat und Schüler eher zur Verfügung standen als Lehrlinge. Andererseits, weil das lauter kluge Kinder waren, die allermeisten haben eine höhere Schule besucht. Mein Vater ist vom Gymnasium in den Krieg, hat vom Krieg nicht viel mitbekommen, aber nach Kriegsschluss ist er in Gefangenschaft geraten, auf dem Heimweg. Dort hat er dann wirklich traumatische Erfahrungen gemacht, in einem Lazarett der Roten Armee, in dem viel gestorben wurde. Ruhr und schlechte Betreuung. Mein Vater wurde schließlich entlassen, er war jung, gerade 19 Jahre geworden, hatte noch 40 kg. So hat er sich nach Hause durchgeschlagen. Und dann hat er sich von Wolfurt nicht mehr weggerührt. Urlaub gab es bei uns nie. Wolfurt, sein Heimatort, seine Familie: das war für ihn Sicherheit und Vertrautheit. Dort hat er gestaltet. Mit 26 Jahren wurde er Amtsleiter in Wolfurt und ist es geblieben bis zur Pensionierung. Er hat geheiratet, ein Haus gebaut, vier Kinder ins Leben begleitet. Für uns Kinder ein schönes Familienleben. Aber die Ehe war nicht so toll. Meine Eltern waren sehr unterschiedlich. Meine Mutter war Lehrerin, weltoffen. Aber für uns Kinder, wie gesagt, war es ein schönes Aufwachsen. Bald nach der Pensionierung ist mein Vater leider krank geworden.

    LS: Wenn Sie auf die Sohn-Vater-Beziehung schauen, wie würden Sie die beschreiben?

    Geiger: Mein Vater war ein begeisterter Vater von kleinen Kindern: extrem herzlich, begeisterungsfähig, einfach ein netter Vater. Wir haben ihn wahnsinnig gemocht. Aber mit Jugendlichen konnte er nichts anfangen, Jugendliche haben ihn verunsichert. Er war ein sehr freundlicher, aber auch konfliktscheuer Mensch.

    LS: War er sehr fürsorglich?

    Geiger: Eher freundschaftlich. Jugendliche gehen halt oft auf Konfrontation, damit konnte er nicht umgehen. Ich glaube, meine Auflehnung muss er als extrem enttäuschend empfunden haben.

    LS: Können Sie sich an einen Konflikt erinnern, dem er sich nicht gestellt hat? Wo Sie gerne gehabt hätten, dass er Position bezieht?

    Geiger: Dass man nie in den Urlaub gefahren ist, dass man nichts unternommen hat, dass er sich aus meiner Sicht in allzu engen Kreisen bewegt hat. Ich habe ihn oft aufgefordert, über den Tellerrand hinaus zu gehen, habe auf die Nachteile seiner Anspruchslosigkeit hingewiesen. Ich habe ihn spüren lassen, dass ich mir mein Leben anders vorstelle, dass ich mich von Vielfalt und nicht vom immer Gleichen angezogen fühle. Erst viel später habe ich begriffen, dass auch die Welt meines Vaters vielfältig war und dass auch die kleine Welt mehr hergibt als der Mensch zu begreifen vermag.

    LS: Also der Makrokosmos im Mikrokosmos?

    Geiger: So viel Einsicht hatte ich als Jugendlicher nicht, und mein Vater hat es mir nicht erklärt.

    LS: Sie haben schon angedeutet, dass sich nach der Pensionierung bei Ihrem Vater eine Veränderung eingestellt hat. Wie haben Sie das gemerkt? Was hat sich da gezeigt? Was haben Sie beobachtet?

    Geiger: Dass er vergesslich wurde. Da haben wir zuerst einmal gesagt: „Na gut, er merkt sich auch nicht mehr alles. Und im Hintergrund immer die Frage: „Wie sehr interessiert ihn das überhaupt noch. Er zieht sich offenbar zurück. Die Vergesslichkeit wurde eher familienintern gedeutet, weil die Ehe auseinander gegangen war, die Kinder ihre eigenen Wege gingen und der Vater offenbar keine Strategien besaß, wie er sein Leben jetzt selbst gestalten könnte. Und sukzessive wurde es schlechter. Man gewöhnte sich an die schleichenden Einbußen. Bis dann Dinge geschahen, die mit Vergesslichkeit nicht mehr zu erklären waren. Also, wir haben lange verdrängt, dass der Vater langsam dement wird. Und plötzlich gab es Ereignisse, da konnten wir die Augen nicht mehr davor verschließen.

    LS: Wie geht es Ihrem Vater heute?

    Geiger: Mein Vater ist vor fünf Monaten gestorben. Er ist 88 Jahre alt geworden, war rückblickend fast 20 Jahre durch Demenz beeinträchtigt. Fast zwanzig Jahre, das ist eine lange Zeit, das trübt das erreichte hohe Alter beträchtlich. Klar wusste ich, dass der Tag irgendwann kommen wird. Trotzdem kam sein Tod plötzlich. Mein Vater war eineinhalb Tage krank, hat sich kurz ins Bett gelegt und ist gestorben. Er war offenbar schon sehr schwach, obwohl man es ihm nicht unbedingt angesehen hat. Er war physisch ein beeindruckender Mensch, ein schöner alter Mann.

    LS: Hat sich durch den Tod für Sie nochmal etwas verändert? Oder auch im Sterben nochmal etwas gezeigt?

    Geiger: Er fehlt mir. Jetzt habe ich keinen Vater mehr. Und mir tut es unendlich leid, dass seine letzte Lebensetappe, das Alter – dass das für ihn so schwierig war und traurig in vielerlei Hinsicht. Aber ich konnte loslassen. Das hat sich eben auch so entwickelt. Ich war jeden Monat für etwa eine Woche in Wolfurt. Ich habe immer den halben Sommer in Wolfurt verbracht. Ich habe so viel Zeit wie möglich mit meinem Vater geteilt, auch im Wissen, dass es nichts aufzuschieben gibt und dass man den Toten nichts hinterherrufen kann. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass das, was ich ihm jetzt noch hinterherrufen will, Dinge sind, die ich ihm oft gesagt habe, und das Bedürfnis, es noch einmal zu sagen, hört nicht auf. Aber nichts, was ich vergessen habe zu sagen. Das kommt vielleicht noch. Aber ich würde mir wünschen, es bliebe so.

    LS: Also ein versöhnter Blick.

    Geiger: Ja.

    LS: Wann ist Ihnen klar geworden, dass Sie über die Erkrankung Ihres Vaters schreiben werden?

    Geiger: Das muss um das Jahr 2004/2005 gewesen sein, als wir mittendrin waren in einer schwierigen Zeit. Da habe ich begriffen, dass wir initiativ bleiben müssen, dass wir uns nicht dem Schicksal ergeben dürfen und dass es weiterhin Möglichkeiten gibt, das Leben zu gestalten. Ich habe gemerkt, was für einen einschneidenden Lernprozess ich gerade durchmache in Konfrontation mit der Zerbrechlichkeit meines Vaters. Das hat mich auf meine eigene Zerbrechlichkeit verwiesen und wie schwer es mir fällt, mit dieser Situation umzugehen. Ich hatte mir eingebildet, ich bin jung, ich bin intelligent, ich bin gesund, mich kann nichts aufhalten. Und dann kommt eine Krankheit: und ich bin völlig hilflos. Für mich sehr wichtige Erfahrungen. Und dann auch manches Erstaunliche: dass die Krankheit nicht nur nimmt, sondern auch gibt, durch das familiäre Zusammenrücken. Und da habe ich mir gedacht, eigentlich solltest du darüber schreiben. In meinen Augen ist es die Aufgabe von Schriftstellern, über die Dinge zu schreiben, die ihnen am wichtigsten sind. Nicht über irgendein Bla-bla-bla, sondern über das, was einen an der Gurgel packt.

    LS: Mir fiel besonders Ihre Schreibhaltung auf. Sie verwenden dafür ein Derrida-Zitat: man bittet um Vergebung, wenn man schreibt.

    Geiger: Das ist geschrieben im Rückblick auf die Anfänge der Krankheit, als Hilflosigkeit und Ungeduld Hand in Hand gegangen sind. Ich wollte nicht wahrhaben, dass mein Vater krank ist. Es wäre natürlich schöner gewesen, es hätte sich um Antriebslosigkeit gehandelt, dann hätte man von heute auf morgen sagen können: „Okay, ich reiß mich zusammen. Und dann wäre alles wie ein böser Traum verflogen. Also habe ich versucht, den Vater aufzurütteln. Aber im Nachhinein hätte ich mich besser mit ihm solidarisiert gegen die Krankheit, statt ihm auf die Nerven zu fallen mit meiner Ungeduld und Enttäuschung. Ja, es steckt auch das Bedauern in dem Buch, dass ich am Anfang nicht klüger und freundlicher war. Aber klar, wer ist schon von Anfang an klüger? Aber es ist wichtig für mich, dass ich das Buch aus der Haltung heraus geschrieben habe, dass ich schwach bin. „Der alte König in seinem Exil ist kein Buch, das Stärke signalisieren will. Es ist ein Buch, in dem ich mir meiner Schwäche bewusst bin.

    LS: Immer wieder spürbar ist der Respekt dem Menschen gegenüber. Es fallen Begriffe wie „immer noch ein beachtlicher Mensch oder natürlich auch der Titel „Der alte König in seinem Exil. Wie kamen Sie darauf?

    Geiger: Das ist ein modifiziertes Zitat aus einem Roman von Virginia Woolf, „Die Fahrt zum Leuchtturm, ein autobiographisch stark beeinflusstes Buch. Da stolpert der Vater dieser Familie verloren durch den Garten, und dann kommt dieser Satz „wie ein König in seinem Exil. Das hat mich emotional angesprochen, weil daraus einerseits die Verlorenheit spricht und andererseits der Respekt vor der Person. Für Kinder ist der Vater im besten Fall so etwas wie ein König, positiv besetzt, ein König, der sowohl Macht besitzt als auch Güte. Auf meinen Vater passt das sehr gut. Als ich den Titel formuliert hatte, wusste ich, es gibt keinen besseren.

    LS: Ihre Gefühle gehen hin und her. Zum einen schreiben Sie: „Ich bin nicht nur erschöpft, sondern es gibt immer wieder auch Zustände der Inspiriertheit. Und dann wieder: „Mir ist als würde ich dem Vater in Zeitlupe beim Verbluten zuschauen. Also ganz unterschiedliche Gefühle.

    Geiger: Es wechselt stark. Es war bis zuletzt erstaunlich, wie unmittelbar ich an das Gefühlssystem meines Vaters angekoppelt war. Wenn es ihm gut ging, ging’s auch mir gut. Wenn es ihm

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