Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Spargelmord: Ein Rhein-Neckar Krimi
Spargelmord: Ein Rhein-Neckar Krimi
Spargelmord: Ein Rhein-Neckar Krimi
Ebook261 pages6 hours

Spargelmord: Ein Rhein-Neckar Krimi

Rating: 4 out of 5 stars

4/5

()

Read preview

About this ebook

Beschmierte Wände, Brandstiftung und ein versuchter Mord! Wer will mit allen Mitteln verhindern, dass die Lampertheimer Landwirte die romantischen alten Spargelhäuschen abreißen? Solo und Tarzan, Krämers kultige Ermittler, geraten wieder einmal unfreiwillig zwischen die Fronten. Birgt eine der maroden Hütten ein grausiges Geheimnis? Tarzan steht kurz davor, dieses Rätsel zu lösen, da wird er plötzlich selbst zur Zielscheibe eines kaltblütigen Mörders. Ein rasantes Abenteuer rund um die Spargelstadt Lampertheim. Solo und Tarzan in absoluter Topform!
LanguageDeutsch
Release dateMar 26, 2012
ISBN9783864765025
Spargelmord: Ein Rhein-Neckar Krimi

Read more from Manfred Krämer

Related to Spargelmord

Related ebooks

Crime Thriller For You

View More

Related articles

Related categories

Reviews for Spargelmord

Rating: 4 out of 5 stars
4/5

1 rating0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Spargelmord - Manfred Krämer

    1964

    Sie war noch immer schön. Auch jetzt noch, verrenkt und nackt auf dem festgestampften Sandboden des Spargelhäuschens. Ihre sonnengebräunten Beine, der sanft gerundete Leib, die schweren Brüste, fast weiß im Kontrast zu Armen, Gesicht und Hals. Das von der Sonne gebleichte Haar …

    Die geschlossenen Holzläden des winzigen Häuschens ließen nur ein paar wenige Sonnenstrahlen durch. Wie die Bahnen von Filmprojektoren schnitten sie durch den kleinen, quadratischen Raum. Staubpartikel tanzten darin, die stickige Luft roch nach Spargel, alten Kartoffelsäcken … und Blut.

    Sein Herz schlug bis hinauf in seinen dröhnenden Kopf. In den Ohren rauschte es. Ihr Haar … lang, blond und fransig. Er hatte es schon so oft bewundert, wie es im Sommerwind fröhlich flatterte, wie sie Strähnen davon lächelnd aus ihrem Gesicht wischte. Ihr Lächeln … oft hatte sie es ihm geschenkt. Mal freundlich, manchmal frech, dann wieder auffordernd neckend. So wie heute.

    Alle waren schon am frühen Morgen mit ihren Fahrrädern hinaus zum Klippelacker gekommen. Dort wartete schon ein rostiger VW-Pritschenwagen. Der alte Klippel stand daneben, die unvermeidliche Zigarre im Mund. Körbe wurden ausgegeben, die Stecheisen und die Kellen verteilt. Der Korb mit der Vesper und den Getränken wurde im Spargelhäuschen abgestellt. Dort befand sich auch ein großer steinerner Wassertrog samt Handpumpe. Hier würden später die Frauen den Spargel putzen, sortieren und sorgfältig in den großen braunen Weidenkörben ablegen.

    Sie waren fast durch, als sie ihm gegenüber am letzten Spargelbalken ankam. Tief bücken musste sich, wer Spargel stechen wollte. Er hatte es immer genossen, dabei den Frauen in den Ausschnitt zu schauen. Viel welkes Fleisch gab es da zu sehen, Altersflecken und Hälse wie von hundertjährigen Schildkröten. Aber auch die appetitlich gerundeten Äpfelchen der Schulmädchen. Am besten gefielen ihm jedoch große, vollentwickelte Brüste. Wie diese hier…

    Die Frauen waren längst fort, der VW-Bus des alten Klippel schon vor Stunden schwerbeladen in Richtung Spargelhalle gerumpelt.

    Sie war noch immer schön. Bis auf den Kopf. Die rechte Seite war eingedrückt wie ein schlecht aufgeschlagenes Frühstücksei. Da, wo die stumpfe Seite der mächtigen Spaltaxt sie getroffen hatte. Blut verklebte das helle Haar und versickerte im Sandboden.

    Ein Schluchzen stieg in ihm auf. Warum hatte sie das getan? Warum hatte sie gelacht? Warum hatte sie ihn dazu gebracht, rasend vor Wut und Scham zu der Axt zu greifen, die staubbedeckt vermutlich schon seit Jahren an der Wand lehnte? Das Dreckstück! Recht geschah ihr! Es hätte so schön werden können. Sie hatte kokett ihren Ausschnitt gelüftet, da draußen auf dem Spargelacker. Hatte ihm immer wieder aufmunternde Blicke gesandt. Bei der Vesper, der Mittagspause, jedes Mal, wenn sie während der Ernte Blickkontakt hatten. Heute würde es geschehen. Er wusste es, konnte seine Erregung nur schwer verbergen. Heute würden sich seine Träume erfüllen. Heute würde er wissen, wie sich weibliche Brüste wirklich anfühlten, ob ihr Haar dort unten auch so blond war, wie das auf ihrem Kopf, wie sie schmeckte, wie sie roch …

    Jetzt war sie tot. Er hatte sie umgebracht. Ihr Lachen ausgelöscht. Das Lachen, das ihm immer so gefallen hatte. Hell, fröhlich, laut. Das Lachen, das hier im dämmerigen Geviert des Spargelhäuschens so ganz anders war. So voller Hohn und Spott. Gehässig. Gemein.

    Sie war tot. Sie war selbst schuld. Er kam langsam wieder zu sich. Seine Gedanken fuhren Achterbahn in seinem Kopf. Sie musste weg. Die Sonne würde bald untergehen, dann würde er wiederkommen. Er musterte den mächtigen Steintrog mit der Pumpe. Es würde harte Arbeit werden. Eine Lampe durfte er nicht vergessen. Sie musste weg. Spurlos. Schwitzend und schnaufend schob er ihre Leiche in eine Ecke und bedeckte sie notdürftig mit ein paar alten Jutesäcken. Dann öffnete er vorsichtig die Tür. Weit weg tuckerte ein kleiner Schlepper mit zwei Anhängern in Richtung Stadt. In der Ferne zog eine schwarze Dampflok mit rhythmischem Stampfen einen Güterzug. Vögel zwitscherten. Der Abend sank auf die Spargeläcker Lampertheims. Ricky schloss sorgfältig die Tür und schwang sich auf sein altes Miele-Rad. Mit knarrender Kette und klapperndem Schutzblech strebte er der Silhouette der nahen Stadt zu. In einer halben Stunde gab es Essen. Der Vater schätzte es gar nicht, wenn er nicht pünktlich erschien. Vor zwei Tagen war Ricky 16 Jahre alt geworden.

    2010

    Das modrig riechende, brackige Wasser war fast ganz von einem grünen Algenteppich bedeckt. Libellen schwirrten darüber und Wasservögel dümpelten träge in der Morgensonne. Tarzan beschattete seine Augen mit der linken Hand und musterte die undurchdringlich grüne Wand des gegenüberliegenden Ufers. Ein Raubvogel schrie hoch am Himmel und in der Ferne hörte man dumpfes Trommeln.

    Tarzan erschlug eine Stechmücke, die auf seinem Unterarm gelandet war, schloss das Toilettenfenster des Hausbootes und schlurfte gähnend in die geräumige Wohnküche. Das dumpfe Wummern kündigte Solos Ankunft an, die wie immer die Musikanlage ihres 68er Firebird voll aufgedreht hatte wie ein spätpubertärer Golf-Fahrer. Solo war heute mit Brötchen holen dran, so dass sich Tarzan, der mit richtigem Namen Lothar Zahn hieß, in Unterhosen an den Frühstückstisch setzen konnte, den er bereits am Vorabend eingedeckt hatte. Lediglich Marmelade, Butter und seine geliebte Nuss-Nougat-Creme hatte er noch ergänzt. Auf der Anrichte dampfte der Eierkocher vor sich hin und die Kaffeemaschine rülpste verhalten in ihrer Ecke.

    „Fauler Stinker, bist ja noch nicht mal angezogen", frotzelte die hoch aufgeschossene Rothaarige, stellte eine riesige Papiertüte auf den Tisch, legte die Tageszeitung daneben und warf ihre Armeejacke auf die durchgesessene Couch im angrenzenden Wohnbereich. Solo hieß eigentlich Bertha Solomon und zog die kupierte Version ihres Familiennamens dem ihrer Meinung nach prähistorischen Vornamen vor.

    „Gefallen dir meine Unterhosen nicht?" entgegnete Tarzan und neigte den Kopf, um ihren flüchtigen Kuss zu erwidern.

    „Ich liebe Homer Simpson im Engelskostüm, aber ich hasse Körperbehaarung in der Butter."

    „Und ich überquellende Aschenbecher am Frühstückstisch." Als Antwort blies sie ihm den Rauch der soeben angezündeten Zigarette ins Gesicht.

    „Hättest dir eben eine gesucht, die nicht raucht, Meckerkopp."

    „Ich hab‘ dich auch lieb."

    „Ich mich auch."

    Sie grinsten sich an. Solo und Tarzan waren seit vielen Jahren ein Paar. Fast genauso lange lebten sie auf dem zum Hausboot umgebauten ehemaligen Fahrgastschiff „Lady Jane", welches im Lampertheimer Altrhein seinen letzten Liegeplatz gefunden hatte. Sie waren die einzigen Gesellschafter der AAHAUS-Security GmbH, die aus der ehemaligen SECURITRUCK hervorgegangen war, ihrer ersten, noch ziemlich naiv gegründeten Sicherheits- und Überwachungsfirma. Der Name AAHAUS hatte nichts mit irgendwelchen real existierenden Städten zu tun, er diente lediglich dazu, dass in Verzeichnissen wie Telefonbüchern und Suchergebnissen im Internet ihr Firmenname ziemlich oben auf den Listen erschien. Das Unternehmen bot seinen Klienten umfassende Sicherheitschecks sowie Ermittlungen in offener, aber auch verdeckter Form an. Die Erstellung von Dossiers über Bewerber gehörte ebenso dazu wie das Ausspähen undichter Stellen oder das Verfolgen von Warenströmen im Großlagerbereich. Vieles erledigte Solo von ihrem heimischen Computer aus, einem hochgerüsteten und mit modernsten Systemen abgesicherten Rechner, der nach ihren eigenen Plänen von einer nur Eingeweihten bekannten, halblegalen Computerschmiede in der Schweiz zusammengenagelt worden war.

    Die AAHAUS-Security ermittelte, dank der langjährigen Erfahrung von Solo und Tarzan als Disponentin und LKW-Fahrer, hauptsächlich in der Logistik- und Transportbranche. Ihr derzeitiger Auftraggeber trug den wohlklingenden Namen Karl-Wilhelm Seelinger II., war Diplom-Landwirt und Chef des größten einheimischen Agrarbetriebes mit über 40 festen Mitarbeitern und je nach Saison bis zu 200 Erntehelfern. Die Firma Seelinger-Agrar GmbH vertrieb Obst und Gemüse in großem Stil europaweit, setzte zwei moderne Kühlzüge ein und besaß außerhalb von Lampertheim mehrere Sortier- und Lagerhallen. In den letzten Wochen verzeichneten die Bücher einen stetigen Schwund von hochwertigem Gemüse, vorzugsweise Spargel, dessen Saison gerade begonnen hatte. Tarzan und Solo hatten sich als Arbeiterin, bzw. Maschinenführer und Fahrer einstellen lassen und hatten so Einblick in fast alle Bereiche, von der Ernte über die Verarbeitung bis zum Versand.

    „Machst‘n du heute?" nuschelte Solo mit vollem Mund, während sie versuchte, die Zeitung auf dem vollgeräumten Frühstückstisch auszubreiten.

    „Bauschutt abfahren, antwortete Tarzan und leckte genüsslich sein Nougat-Creme-Messer ab. „Dimitrij hat vergangene Nacht ein Spargelhäusel plattgemacht. Charly braucht ihn aber heute Morgen in der Werkstatt. Ich lad‘ das Gerümpel auf ne Rolle und fahr es auf die Deponie.

    „Heute Nacht, ja? Solos Stimme hatte einen aggressiven Unterton angenommen. „Damit es keiner mitkriegt. Was bringen dem Seelinger die lächerlichen 20 oder 30 Quadratmeter Fläche? Die Spargelhäuschen sind doch Zeugnisse vergangener Kultur, die muss man doch nicht plattmachen, wie du das nennst!

    „Vergangen, meine Liebe, vergangen, wie du selbst bemerkt hast. Wir haben 2010. Die Bruchbuden sind sowieso schon halb verfallen, Jugendliche treffen sich dort zum Koma saufen, die Wände werden besprüht, Penner übernachten darin. Tolle Kultur."

    „Banause."

    „Bist du sauer?"

    „Ich bin überhaupt nicht sauer! Ich finde es nur Schade um die romantischen kleinen Häuschen, das ist alles."

    Tarzan legte sein angebissenes Brötchen zurück auf den Teller und schaute Solo ungläubig an. „Du findest die romantisch? Ausgerechnet du? Du bist doch sonst so romantisch veranlagt wie ein Schlachthofarbeiter. Was gehen uns die alten Schuppen an? Was soll ich machen? Aus Gewissensgründen verweigern? Seelinger bezahlt uns, und das nicht schlecht. Der hat dieses Brötchen hier bezahlt!" Tarzan balancierte eine frisch bestrichene Brötchenhälfte auf vier Fingern, als handele es sich um ein Kunstobjekt.

    „Pass bloß auf, das gibt eine Riesen …" -sauerei, wollte sie vollenden, doch da war es bereits zu spät. Das Brötchen landete physikalisch korrekt mit der Nugat-Creme-Seite nach unten mitten auf dem lächelnden Gesicht des scheidenden hessischen Ministerpräsidenten. Glücklicherweise grinste Herr Koch von Seite drei der Tageszeitung, und so musste Lothar Zahn sich wegen seiner Ungeschicktheit nur vor seiner Lebensabschnittsgefährtin verantworten. Die Strafe folgte auf dem Fuß in Form eines Verweises vom Tisch und der Anweisung, Brötchen samt Zeitung umgehend zu entsorgen. Tarzan tat, wie ihm geheißen, entsorgte das Brötchen in seinem Mund und den Ministerpräsidenten im Mülleimer und verschwand im Bad, froh darüber, dass das Gericht am unteren Rand des Strafmaßes geblieben war.

    Eine halbe Stunde später saßen beide friedlich vereint in Solos 68er Firebird und fuhren die kurze Strecke zu einer Tiefgarage im Bachfeld. Dort hatten sie zwei Stellplätze gemietet. Solo wartete, bis Tarzan einen älteren VW-Bus ausgeparkt hatte und fädelte dann das liebevoll restaurierte Cabrio zentimetergenau in die Lücke. Den zweiten Parkplatz beanspruchte ein schwarzer VW-Touran mit Tönungsfolie auf den hinteren Scheiben. Ihre Dienstfahrzeuge. Sowohl der VW-Bus, als auch der Touran waren mit modernster Überwachungstechnik ausgestattet, die Motoren top-gepflegt und nur das Äußere absichtlich etwas angegammelt. Gerade der VW-Bus wirkte wie das Gefährt eines schlampigen Maurermeisters, samt zerknüllter BILD-Zeitung, Fast-Food-Verpackungen und Bierdosen hinter der Frontscheibe.

    Tarzan steuerte den Bulli durch die Römerstraße und die Neuschloßstraße in Richtung Osten, bog am Hundeplatz rechts ab und erreichte wenig später über eine schmale Anliegerstraße den Gebäudekomplex der Seelinger-Agrar GmbH. Er stellte das Auto auf den Parkplatz vor der Fahrzeughalle, schnappte sich seine kleine Kühltasche und winkte Solo fröhlich zu, als diese in Richtung Verpackungshalle ging. Kopfschüttelnd blieb sie stehen, als sie sah, wie Tarzan einen Mann im Arbeitsanzug mit Handschlag begrüßte, der gerade von einem riesigen Schlepper kletterte. Solo erkannte die hochgewachsene, schlanke Gestalt von Karl-Wilhelm Seelinger II. Hoppla, dachte sie, der Boss persönlich. Dann wurde ihr plötzlich klar, warum Tarzan heute Morgen so fröhlich war und er es gar nicht abwarten konnte zur „Arbeit" zu kommen: Das gelbgrüne Monstrum hatte die Ausmaße eines Bergepanzers und zweifellos auch dessen Motorstärke. Damit durch Feld und Flur zu preschen war etwas, wofür Tarzan wahrscheinlich sogar fünf Jahre seines Lebens gegeben hätte. Gelächter drang zu ihr herüber und sie sah, wie Seelinger Tarzan auf die Schulter schlug, bevor dieser die Stufen zur Führerkabine erklomm. Männer, dachte sie, und setzte ihren Weg fort.

    Tarzan war im Himmel. Der Himmel bestand zum größten Teil aus grauem Kunststoff, einem luftgefederten Sitz mit schätzungsweise 700 Funktionen, zwei Monitoren und einem Cockpit, das auch in einer Oberklasselimousine niemanden erstaunt hätte.

    Unter der langen grünen Schnauze des John-Deere 7930 werkelten 245 PS, die ein maximales Drehmoment von fast 1000nm an die über zwei Meter hohen Hinterräder brachten. Seelinger hätte damit wahrscheinlich sogar den ICE abschleppen können, der vor einer Woche auf der nur wenige hundert Meter entfernten Bahnstrecke liegengeblieben war.

    Tarzan thronte auf seinem Kommandosessel wie ein Captain Kirk mit Schiebermütze und spielte mit dem Joystick, mit dem die angebaute Frontladereinheit bedient wurde. Die große Schaufel hob und senkte sich gehorsam und Seelinger, der neben ihm in der geräumigen Kabine stand, erklärte ihm die wichtigsten Funktionen.

    Tarzan kapierte schnell, war er doch viele Jahre als LKW-Fahrer tätig gewesen. Er hatte nicht schlecht gestaunt, als er vor einer Woche zum ersten Mal einen modernen Schlepper fahren durfte. Das hatte was, stellte er begeistert fest und revidierte im Stillen seine Vorurteile gegen die Landwirtschaft treibende Zunft im Allgemeinen und Treckerfahrer im Besonderen. Gemeinsam mit seinem Auftraggeber koppelte er eine zweiachsige Rolle an. Froh, endlich alleiniger Herrscher über das Gespann zu sein, steuerte Tarzan das gelbgrüne Kraftpaket vom Hof. Zunächst über den asphaltierten Wirtschaftsweg, dann über Feldwege rumpelte er, eine Staubwolke hinter sich herziehend, zu seinem Ziel, einem traurigen Steinhaufen, aus dem noch die morschen Dachbalken ragten.

    Als Lampertheimer, der in seiner Jugend noch mit Freunden durch Wald und Feld gestromert war, hatte er natürlich auch das Verschwinden der kleinen Häuser bemerkt. Vor Jahrzehnten, als die Spargeläcker noch fast 90 Prozent der Anbaufläche in der Gemarkung Lampertheim ausgemacht hatten, besaß fast jeder Bauer mindestens einen kleinen Acker, der manchmal nur vier oder fünf der typischen „Balken" aufwies, in denen das Stangengemüse in Richtung Sonne strebte. Die Spargelhäuschen, je nach Geschmack und Geldbeutel einfachste Hohlblockgevierte mit Pultdach und winzigem Fenster oder richtige kleine Schmuckstücke mit Giebeldach, überdachter Veranda und Klappläden, standen damals zuhauf auf den Feldern der topfebenen Landschaft, im Osten begrenzt durch einen ausgedehnten Kiefern- und Mischwald, über den die Berge des nahen Odenwaldes ragten. Wegen des speziellen Sandbodens, den der Rhein in den Jahrtausenden seiner mäandernden Geschichte hier abgeladen hatte, gedeihen die Spargel in der Oberrheinebene hervorragend. Sogar an Bord des Luftschiffes Hindenburg wurde das schmackhafte Lampertheimer Gemüse serviert.

    Im Zuge der modernen Landwirtschaft waren die mittlerweile halb verfallenen Bauwerke den Agrarökonomen meist ein Dorn im Auge und wurden deshalb kurzerhand abgerissen. Zudem hatte der Spargelanbau nicht mehr den Stellenwert vergangener Jahrzehnte. Auf den Feldern der südhessischen Stadt wurden auch Mais, Raps, Erdbeeren und der beliebte Fertigrasen kultiviert. Erst als vor etwas über einem Jahr der populäre Lampertheimer Tierarzt, Stadtverordneter und Heimatforscher Dr. Hans Raunheimer die übriggebliebenen Hütten dokumentiert hatte, Vorträge darüber hielt und die Bürgerinitiative Rettet die Spargelhäuschen gegründet hatte, rückten die Bauwerke in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Raunheimer, der mit dem Geld seiner verstorbenen Frau ein Spargelmuseum im Bereich der Lampertheimer Heide plante, machte sich stark für die seiner Meinung nach unersetzlichen Zeitzeugen und erreichte, dass Bürgermeister Erich Maier das ungenehmigte Abreißen verbot. Seitdem fielen viele Häuschen aus unerklärlichen Gründen nachts von „alleine" in sich zusammen, wurden angeblich von jugendlichen Vandalen mutwillig zerstört oder wurden Opfer ungeschickter Mähdrescher- oder Schlepperfahrer. Sorry, schade drum, aber nicht zu ändern, zuckten die betroffenen Landwirte mit den Schultern.

    Tarzan waren die kleinen Häuschen wurscht. Er verstand die ganze Aufregung darüber nicht und Dr. Raunheimer war für ihn nur ein Wichtigtuer, der unbedingt eines Tages eine Straße nach sich benannt haben wollte: Hans-Raunheimer-Allee, Heimatforscher und Retter der Spargelhäuschen. Ha, ha, ha. Tarzan grinste bei der Vorstellung, dass einmal seine nicht vorhandenen Enkel durch eine nach ihm benannte Straße toben würden. Lothar-Zahn-Weg, Privatschnüffler und Hausbootbewohner.

    Er rangierte die Rolle an den Rand des Feldes, koppelte sie ab und sicherte sie durch Keile vor dem Wegrollen. Dann maß er die Trümmer mit kritischem Blick, umrundete sie mit pfeifendem Turbolader und hoch erhobener Schaufel wie ein Torero einen tödlich verletzten Stier und legte schließlich einen der unteren Gänge ein. Die Schaufel schrappte tiefe Furchen in den Sand und grub sich knirschend in die mörtelverklebten Backsteine. Polternd und Staub aufwirbelnd krachte die Ladung auf die Ladefläche der Rolle. Dimitrij hatte in der Nacht ganze Arbeit geleistet. Die grauen Holzbalken der Dachkonstruktion zerbröselten unter der massiven Schaufel, als seien sie aus Pappmaché. Die eiserne Handpumpe war schon vor Jahren ausgebaut worden, lediglich der betonierte Steintrog, in dem die Spargel früher gewaschen wurden, hatte die Abbruchaktion fast unversehrt überstanden. Ihn lud Tarzan nahezu komplett auf den Wagen.

    Ein paar alte Stiefel ragten aus dem Wirrwarr aus Steinen, Holz und Dachziegeln hervor. Richtige Knobelbecher, wie sie Tarzans Großvater noch im Keller gehabt hatte, als sie das kleine Haus in der Ersten Neugasse damals, nach seinem Tod, ausgeräumt hatten.

    Tarzan nahm seine Kühltasche, kletterte aus der Kabine und setzte sich auf einen der alten Balken. Zeit, eine zünftige Vesper zu halten. Er schob sich seine speckige Schiebermütze ins Genick, holte eine Plastikdose mit Kartoffelsalat und einem kalten Schnitzel aus der Kunststoffbox und betrachtete die Stiefel. Ärgerlich verscheuchte er eine dicke Schmeißfliege, deren sensibles Ortungssystem das Schnitzel sofort registriert hatte. Die ramponierten Stiefel sahen aus, als hätten sie den Zweiten Weltkrieg noch erlebt. Schön ordentlich nebeneinander schauten sie aus dem Schutt, gerade so, als hätte

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1