Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Oxana: Eine Geschichte zwischen KGB und Mafia
Oxana: Eine Geschichte zwischen KGB und Mafia
Oxana: Eine Geschichte zwischen KGB und Mafia
Ebook327 pages3 hours

Oxana: Eine Geschichte zwischen KGB und Mafia

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Die kleine Oxana, Tochter eines KGB-Spions, verschwindet spurlos. Angeblich ist das nur eine politische Maßnahme des KGB. Der Entführer will aber etwas anderes von dem kleinen Mädchen ... Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat Oxana ihr Erlebnis noch nicht verarbeitet. Mit allen Mitteln übt sie Rache an Männern – und schreckt nicht davor zurück, sich in kriminelle Kreise zu begeben. Die Geschichte einer Frau, die dem Kindesmissbrauch den Kampf ansagt.
LanguageDeutsch
PublisherSCM Hänssler
Release dateNov 25, 2011
ISBN9783775170840
Oxana: Eine Geschichte zwischen KGB und Mafia

Related to Oxana

Related ebooks

Biographical/AutoFiction For You

View More

Related articles

Reviews for Oxana

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Oxana - Hermann Hartfeld

    Vorwort

    Wer kann die Leiden eines Kindes ermessen, wie sie in dem vorliegenden Buch von Maria und Hermann Hartfeld dargestellt werden? Wer kann verstehen und nachempfinden, was in der Seele eines kleinen Mädchens vorgeht, das zum Spielball übermächtiger, selbstsüchtiger und grausamer Ausbeuter wird und dem dadurch in jeder Hinsicht die Unschuld genommen wird? Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist empörend und verwirrend zugleich. Die Grenzen zwischen »Täter« und »Opfer« verwischen: Opfer werden zu Schuldigen, Schuld erzeugt Rache, Rache erzeugt neue Schuld. Wer sollte die Kraft haben, sich aus einer solchen Todesspirale zu befreien? Wohl kaum ein fünfjähriges Kind, mag man denken, und auch nicht eine heranwachsende Frau, die durch die Verletzungen dieser Kindheit gezeichnet ist. Doch die Rettung, die Befreiung kommt von ganz unerwarteter Seite. Durch Gottes Eingreifen wird möglich, was menschlich unmöglich ist. Gott verwandelt menschliche Ohnmacht durch seine göttliche Kraft. Menschen, die in Schuld verstrickt sind und keinen Ausweg mehr für ihr Leben sehen, erfahren, was Jesus Christus verspricht (Lukasevangelium Kap. 4, Vers 18+19): »Er hat mich gesandt, Gefangenen zu verkünden, dass sie freigelassen werden, Blinden, dass sie sehen werden, Unterdrückten, dass sie befreit werden und dass die Zeit der Gnade des Herrn gekommen ist.«

    Wenn man nicht wüsste, dass es sich bei der vorliegenden Erzählung um eine wahre Geschichte handelt, käme man wohl zu dem Schluss: »Das ist zu dick aufgetragen! So etwas kann es doch im wirklichen Leben gar nicht geben!« Dass es das doch geben kann, ist die Erfahrung unzähliger Christen, die auch heute unter religiösem, politischem und gesellschaftlichem Druck leben. Gott wirkt Wunder! Gott verändert Menschen auf so außergewöhnliche, unglaubliche Weise, dass man nur staunen kann. Und oft gebraucht er dazu ganz normale Menschen, die sich nicht durch besondere Kräfte oder Begabungen auszeichnen, sondern einzig und allein durch ihr unbedingtes Vertrauen auf Jesus Christus, den gekreuzigten und auferstandenen Herrn, an den sie glauben.

    Ich wünsche dieser spannenden und eindrucksvollen Lektüre eine weite Verbreitung und große Wirkung, denn sie ist ein Zeugnis für die lebendige Hoffnung, die Gott schenkt.

    Elstal, den 2. Mai 2011

    Pastorin Regina Claas, Generalsekretärin Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland (K. d. ö. R.)

    Prolog: Begegnung in Kiew

    Am 27. August 2009 saß ich in einem Café in Kiew und wartete auf Oxana und Irina Nikitin. Ich war nach Kiew eingeladen worden, um auf einer Konferenz einen Vortrag zum Thema »Beratung in einer postmodernen Welt« zu halten.

    Doch ich hatte mich in erster Linie deshalb zu der Reise entschlossen, weil ich Irina und Oxana wiedersehen würde. Sie verspäteten sich, und so nahm ich das Buch Irina in die Hand und las: »Der alte Wladimir Sokolow sah kränklich aus, doch in seinen Augen leuchtete noch das alte Feuer, und man konnte sehen, dass er glücklich war. Er saß mit seiner Frau Pelagea am Kopf des Tisches. Er redete nicht. Vielleicht hatte er nicht genug Kraft, oder aber er hatte das Gefühl, er habe genug geredet. Er blickte um sich, als wollte er sagen: ›Jetzt seid ihr an der Reihe! Nun sagt ihr mal was Vernünftiges!‹«

    Fast 20 Jahre war es her, dass ich das geschrieben hatte. Ich legte das Buch zur Seite und schwelgte in Erinnerungen.

    Mein Leben in der Sowjetunion war stark mit der Sokolow-Sippe verbunden gewesen. Mit Irina (geborene Sokolow) hatte ich mein Maschinenbaustudium in Sibirien begonnen. In den Jahren danach hatte ich vieles erlebt, was ich heute am liebsten vergessen würde: sieben Jahre kommunistische Gefängnisse und Straflager, Arbeit unter Tage, Förderung von Uranerz, Herstellung von Atombomben und vieles mehr. Keiner konnte mir diese Erinnerungen aus dem Gedächtnis radieren. Doch ich empfand weder Groll noch Hass gegen die Marionetten des sowjetischen Regimes, die so viele in den Tod trieben. Es war eher eine Leere in mir.

    Ich dachte plötzlich an meine Frau Maria, und es wurde mir warm ums Herz. Ich rief sie kurz an, um zu sagen, dass ich gut in Kiew angekommen sei.

    Kurz darauf wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. »Hermann!« Die Frau, die mich ansprach, war Irina Nikitin.

    »Ja, ich!«, antwortete ich, stand auf und nahm sie in die Arme. Wir konnten uns gar nicht mehr loslassen. Sie weinte, und auch ich konnte meine Tränen kaum verbergen.

    »Hey, ihr zwei! Ich bin auch noch da! Ich möchte Hermann auch drücken!« Es war Oxana Nikitin.

    »Ja, ja, du kommst auch noch an die Reihe!« Irina wischte sich die Tränen von den Wangen und machte Platz für Oxana.

    Diese drückte mich nicht minder kräftig an sich. »Es ist schön, dich wiederzusehen, Hermann.«

    Irina lächelte und sagte schelmisch: »Drück' ihn nicht zu fest. Er gehört uns nicht. Er hat seine Maria, die er leidenschaftlich liebt.«

    »Schade!«, sagte Oxana spöttisch. »Andernfalls könnten wir ihn uns teilen, oder?«

    Die zwei ukrainischen Frauen sprachen einwandfreies Deutsch. Gäste beobachteten uns mit großem Interesse. Wir suchten ein Eckchen, in dem wir in Ruhe reden konnten, und bestellten Latte Macchiato.

    Irina erkundigte sich nach Maria. Ich erzählte ihr allerlei Dinge aus unserem Leben in Deutschland. Dann sagte ich: »Ich habe gerade wieder in dem Buch gelesen, das ich über dich geschrieben habe. Es ging um deine Großeltern Wladimir und Pelagea Sokolow. Wie geht es ihnen – falls sie überhaupt noch leben?«

    Irinas Gesicht wurde düster und traurig. Dann erzählte sie mir eine so entsetzliche Geschichte, dass ich nur wie versteinert zuhörte: Man hatte die beiden in der Toilette einer Autobahnraststätte erhängt, als sie auf dem Weg in ein Ferienhäuschen waren. Irina und ihr Vater erwischten die Killer, konnten aber nur wenig über die Auftraggeber in Erfahrung bringen; nichts, außer einem Hinweis auf den Geheimdienst.

    »Die Großeltern wurden mit allen militärischen Ehren beerdigt. Unser Pastor hielt auf dem Friedhof eine bewegende Predigt«, schloss Irina ihre Erzählung ab.

    »Irina, das ist ja unglaublich! Was für ein sinnloser Mord! Sie waren zu meiner Zeit schon so kränklich, dass ich dachte, sie würden wohl bald von uns gehen. Und was soll der Geheimdienst damit zu tun haben? Du arbeitest auf dem Gebiet der Atomenergie, und der Geheimdienst ist doch eigentlich daran interessiert, dich zu beschützen. Ist es nicht so, dass wir gerade vom Geheimdienst abgehört werden?« Ich sah in die Richtung, wo zwei Männer uns mit auffälligem Interesse beobachteten.

    »Stimmt. Diese Männer sind meine Bodyguards.« Sie rief sie zum Tisch und stellte mich ihnen vor.

    Beide drückten mir höflich die Hand, und einer sagte: »Wir wollen nicht stören. Redet nur weiter. Wir gehen mal raus, eine Zigarette rauchen.«

    »Okay, macht's gut, Jungs«, rief Irina ihnen nach.

    »Jetzt mal ehrlich«, hakte ich nach. »Was hat es mit diesem gruseligen Tod deiner Großeltern auf sich?«

    Oxana mischte sich ein: »Du weißt ja, dass mein Vater früher beim KGB tätig war und darum noch einen sehr guten Einblick in die Arbeit des russischen Geheimdienstes hat. Er glaubt nicht an die Version des unsinnigen Mordes. Es muss etwas im Leben von Irinas Großvater gegeben haben, das niemand je erfahren sollte. Er war Geheimnisträger, und nach seiner Bekehrung zum Christentum hat man wohl angenommen, dass diese Geheimnisse in Gefahr geraten seien.«

    »Also doch der Geheimdienst!«, sagte ich bestimmt.

    »Vater muss es wissen, aber er schweigt«, sagte Irina. »Ich hatte keine Ahnung, und mich interessierte das alles nicht. Ich war so mit meiner Arbeit und der Familie beschäftigt, dass für mich die Vergangenheit ein Tabuthema war. Ich wollte alles hinter mir lassen und nach vorn schauen. Vater sagte nur: ›Wegen solcher Banalitäten jemanden zu erhängen, der sowieso mit einem Fuß im Grab stand, ist schrecklich!‹ Was er mit ›Banalitäten‹ meinte, verriet er nicht.«

    »Dein Vater muss ja auch schon um die neunzig sein«, fiel mir ein.

    »Im nächsten Jahr. Kommst du zur Feier?«

    »Irina, ich habe nicht das Geld dafür.«

    »Das ärgert mich, wenn ich so etwas von einem europäischen Pastor höre«, schimpfte Irina. »Was sind das für Gemeinden, die ihre Pastoren so schlecht besolden!«

    »Stopp, Irina! Ich bin in Rente. Und von der Rente kann man keine großen Sprünge machen. Ich werde jedoch deinem Vater gratulieren.«

    »Das ist nett von dir«, sagte Irina.

    »Gut, Hermann, ich lasse dich mit Oxana alleine. Ihr habt heute noch drei Stunden für die Unterhaltung, morgen kommen wir zu deinem Übernachtungsort im Bibelseminar Kiew. Da werdet ihr stundenlang reden können. Jetzt bin ich weg und gehe mit meinen Jungs einkaufen. Sascha konnte übrigens nicht mitkommen. Er leitet heute einen Gottesdienst außerhalb von Kiew. Aber er lässt dich grüßen, meine Eltern und meine Kinder auch.« Sie stand auf, gab ihren Männern ein Zeichen, uns ein Luftküsschen, und verschwand.

    Oxana und ich saßen uns nun gegenüber, und sie begann mit ihren Bedingungen: »Hermann, ich wünsche keine Besuche von westlichen Lesern deines Buches. Irina musste damals regelrecht untertauchen, um sich von ihnen zu befreien.«

    Ich versprach ihr das und sagte: »Das mit Irina ist wirklich meine Schuld. Ich verriet ihren richtigen Namen und ihre Adresse einem dänischen Professor, der mir versprach, sie an niemanden weiterzugeben. Er hat sein Wort nicht gehalten. Deshalb waren Sascha und Irina jahrelang sauer auf mich. Ich habe das mit den beiden geregelt und aus der Sache sehr viel gelernt.«

    Oxana begann, aus ihrem Leben zu erzählen, und ich notierte mir die Ereignisse, die ich noch nicht kannte. Ihr Leben war eng mit dem meiner Freunde Irina und Sascha verbunden. Und je mehr sie erzählte, umso mehr staunte ich. Was Oxana Nikitin erlebt hatte, war atemberaubender, als ich es je in einem Roman hätte erfinden können.

    Ich hasse und ich liebe – warum, fragst du vielleicht.

    Ich weiß es nicht. Ich fühl's – es kreuzigt mich.

    Gaius Valerius Catullus, 1. Jahrhundert

    Die Odyssee am Dnjepr

    Der Dnjepr war nicht gerade der beste Ort, um schwimmen zu lernen. Natasha wusste das. Aber ihre kleine Oxana hatte es satt, im Schwimmbad zu »planschen«, wie sie sagte. Sie wollte größere Herausforderungen. Dabei war sie vor ein paar Tagen gerade erst fünf geworden. Oxana hatte Natasha den ganzen Vormittag lang angebettelt, bis Natasha das Bitten und Betteln schließlich satthatte. »Also gut, du beharrliches Ding«, hatte sie geseufzt, »dann schwimm halt im Fluss«, und war zum Telefon gegangen, um ihre Schwester Milena – eine Schwimmlehrerin – zu fragen, ob sie sie begleiten wolle. Natasha war eine der wenigen, die ein eigenes Auto besaßen. Sie stellte das Auto, einen Wolga, auf dem staubigen Wegesrand neben der Straße ab. Die drei besprachen zuerst den Plan: Sie würden unweit vom Ufer schwimmen, dann Wasserball spielen, Eis essen und anschließend nach Hause fahren.

    »Bleib in der Nähe!«, war die letzte Anweisung Natashas.

    Oxana machte ihre Schwimmversuche entlang des Flussufers und schien keine Schwierigkeiten in dem ungewohnten Gewässer zu haben. Die beiden Frauen schwammen etwas weiter vom Ufer entfernt und legten sich auf den Rücken. Durch langsame Bewegungen mit Händen und Füßen hielten sie sich an der Oberfläche.

    »Wann kommt dein Mann mal wieder nach Hause?«, fragte Milena.

    »Sobald er kann. Aber wann das ist, weiß man ja nie.«

    Milena antwortete mit einem nachdenklichen Stirnrunzeln.

    »Milena, warum heiratest du eigentlich nicht? Du bist jetzt achtundzwanzig geworden.«

    »Manchmal frage ich mich das auch. Bisher ist mir einfach niemand über den Weg gelaufen, dem ich vertrauen oder den ich lieben könnte. Du bist mit einem Diplomaten verheiratet und siehst ihn, wenn es gut geht, einmal im Jahr. In der Zwischenzeit hast du heimliche Liebhaber, und ich frage mich, ob dich das zufriedenstellt. Für mich wäre das jedenfalls nichts.«

    Natasha schwieg, und beide beobachteten, wie das braunhaarige Mädchen glücklich im Wasser planschte. Irgendwann sagte Natasha ruhig: »Du hast recht, mein Mann ist fast das ganze Jahr im Ausland, und ich darf ihn nie begleiten. Einmal meldet er sich aus Algier, dann bekomme ich eine Karte aus der DDR und nun aus Laos. Was soll ich tun? Versauern? Mir ist klar, dass ich ständig beobachtet werde. Der Innengeheimdienst benimmt sich wie ein Wachhund. Und ich vermute auch, dass mein Mann Liebhaberinnen im Ausland hat. Wenn er nach Hause kommt, zeigt er mir eine Bescheinigung, dass er sich keine Geschlechtskrankheit geholt hat. Das Leben ist nicht immer schön, Milena. Aber wenigstens muss ich mich um nichts sorgen: Wir haben eine Wohnung, ein Auto und genug fürs Auskommen.«

    Milena verzog das Gesicht. »Und das würdest du mir zumuten? Du hast mich doch diesem KGB-Leutnant vorgestellt, der mir bis heute den Hof macht. Glaubst du, der hätte mich glücklich gemacht?«

    Natasha schwieg und tauchte unter. Offenbar hatte Milena sie durchschaut; nicht zum ersten Mal, wie sie feststellte. Wieso musste sie nur eine so anspruchsvolle Schwester haben!

    Während sie ein paar Tauchzüge unter Wasser machte, überlegte sie, was sie Milena entgegenhalten konnte. Sie tauchte wieder auf und setzte ein Lächeln auf. »Weißt du was, …?«, begann sie.

    Doch Milena ging nicht auf sie ein, sondern blickte stattdessen irritiert und suchend um sich.

    Natasha verstand zuerst nicht. Dann schaute sie zum Ufer und rief: »Wo ist Oxana?«

    Milenas verzweifelter Blick war Antwort genug.

    »Wo ist sie? Sie war doch eben noch da!«

    »Ich weiß es nicht!«, rief Milena. »Sie hat dort drüben geplanscht … und dann … ich habe nicht mehr hingesehen … wir waren im Gespräch und du …«

    »Nur einen Augenblick war ich unter Wasser, und du konntest nicht aufpassen?«

    »Da war noch dieses Motorboot. Es ist direkt vorbeigefahren.«

    Natasha antwortete nicht, sondern schwamm panisch Richtung Ufer. Milena folgte ihr. Als sie stehen konnten, schauten sie sich um: Weit und breit war nichts zu sehen.

    »Oxana, wo bist du?«

    Dass sie ertrunken war, schien kaum möglich – dafür war der Fluss an dieser Stelle zu flach. Sie wateten aus dem Wasser. An diesem abgelegenen Ort war keine Küstenwache in der Nähe, deshalb mussten sie das Gebiet selbst absuchen. Ziellos liefen sie umher und riefen immerzu Oxanas Namen.

    Bald wurde Natasha klar, dass ihre Versuche vergeblich waren. Sie brauchten Hilfe.

    »Lass uns zum Auto gehen. Wir haben dort ein Telefon.«

    Sie eilten zum Auto, Natasha griff nach dem Hörer und drückte den Knopf, der sie direkt mit dem KGB verband: »Meine Tochter ist verschwunden!«

    »Verstanden. Wir sind sofort da!«

    Natasha war nicht überrascht, dass man von ihr nicht die Koordinaten verlangte. Vermutlich wussten sie genau, wo sie sich gerade aufhielt.

    Nur wenige Minuten später standen zwei muskulöse Männer und zwei Frauen neben ihnen. In hysterischem Ton versuchte Natasha ihnen zu erklären, wie Oxana mit einem Mal verschwunden war.

    Eine der Frauen nahm Natasha in die Arme: »Beruhigen Sie sich. Oxana ist mit Sicherheit am Leben. Es ist etwas passiert, was sogar wir nicht bemerkt haben. Aber wäre sie ertrunken, hätten wir eingegriffen. Fahren Sie nach Hause. Wir bringen Ihnen Oxana gesund zurück.«

    Milena fiel ein: »Ich sah ein Motorboot vorbeifahren, ganz in der Nähe von Oxana.«

    »Danke«, sagte einer der Männer, »das könnte uns helfen. Aber jetzt gehen Sie nach Hause, und wenn das Telefon klingelt, gehen Sie sofort ran!«

    Die vier verschwanden so schnell, wie sie aufgekreuzt waren. Natasha und Milena zogen sich um, warfen die nassen Kleidungsstücke in den Kofferraum und fuhren los.

    »Glaubst du diesen Leuten?«, fragte Milena.

    Natasha hatte die Fahrt über geschwiegen. Kalte Furcht spiegelte sich auf ihrem Gesicht. »Uns bleibt nichts anderes übrig.« Mehr sagte sie nicht.

    Sie fuhren durch die halbe Stadt und hielten schließlich vor dem Radisson. Natasha stieg aus und sagte im Befehlston: »Du wartest hier!«

    Milena nickte und blieb sitzen. Es dauerte. Nach einer Weile stieg sie aus dem Auto und ließ ihren Blick über das imposante Gebäude des Radisson gleiten, das Anfang des Jahrhunderts errichtet worden war und sich im Laufe der Zeit zu einem erstklassigen 5-Sterne-Hotel entwickelt hatte. Sie fragte sich, was ihre Schwester wohl da drinnen machte. Sie holte tief Luft und setzte sich wieder ins Auto.

    Endlich erschien ihre Schwester, setzte sich ans Steuer und fuhr los. Milena wagte nicht, Fragen zu stellen. Sie wusste nicht, wie sie Natashas Blick zu deuten hatte, ein rätselhaftes Gemisch aus Ahnung und Wut. Wen mochte sie getroffen haben? Es war jedenfalls klar, dass dieses Treffen eine Vermutung bei Natasha geweckt hatte.

    Milena wohnte in der Nähe der Universität. Natasha hielt vor der Haustür, immer noch schweigend, umarmte ihre Schwester und wartete, bis sie ausgestiegen war. Kurz darauf war der Wolga wieder außer Sichtweite.

    Milena betrat ihre Zweizimmerwohnung, warf ihre Badesachen in das kleine Badezimmer und ging zum Telefon. Sie musste jetzt mit jemandem reden. Sie wählte die Nummer von Rita Lasarew, der Frau eines Baptistenpredigers, der sie das Schwimmen beibrachte. Milena war keine Christin, aber Rita war in ihrem Alter, und sie verstanden sich gut. Sie erzählte Rita die ganze Geschichte. Rita reagierte erstaunlich abgeklärt und sagte zum Schluss: »Ich muss einkaufen. Willst du nicht mitkommen?« Milena verstand.

    Eine Stunde später trafen sie sich in einem Lebensmittelgeschäft. Rita machte ihre Besorgungen, dann schlug sie vor, einen Abstecher zur Sophienkathedrale zu machen. Milena wusste, dass sie dort in Ruhe würden reden können.

    »Weißt du, Rita, ihr Christen haltet euch an strenge Sexualregeln. Mich beeindruckt das, aber ich bin nicht von diesem Kaliber.« Als Rita nichts erwiderte, fuhr Milena fort: »Andererseits: Ein Ehemann kommt für mich erst dann infrage, wenn ich überzeugt bin, dass er mich liebt. Ich habe den Eindruck, Nikolai Taranin liebt meine Schwester sehr. Aber er muss ihr laufend untreu sein, und meine Schwester verhält sich auch wie eine Schlampe. Sie haben zwei Kinder. Roman aus Nikolais erster Ehe studiert an einer Privatschule in der Schweiz, die kleine Oxana ist ein Nesthäkchen und wird von den Eltern beinahe vergöttert …« Ihre Augen wurden feucht. »Und nun ist Oxana in einem Boot weggebracht worden und niemand ahnt, wohin.« Weggebracht. Zum ersten Mal gebrauchte Milena dieses Wort.

    Rita schaute ihr in die Augen und schwieg einen Augenblick.

    »Sag doch was!«, forderte Milena ungeduldig.

    Rita sagte nachdenklich: »Deine Schwester treibt es wirklich arg, wie ich gehört habe. Das ist aber auch verständlich. Keine verheiratete Person hält es ohne Sex aus, es sei denn, sie ist eine gottesfürchtige Person. Für Nikolai gilt dasselbe. Sie wusste, wen sie heiratet.«

    »Ich verstehe nicht, was du mir sagen willst, Rita.«

    »Überleg doch mal: Nikolai reist viel um die Welt und lernt schöne, reiche Frauen kennen. Nun stell dir vor, er hat ein Verhältnis mit einer Schönheit in Indien. Dort ist er doch gerade, nicht wahr?«

    Milena nickte zustimmend.

    »Die KGB-Behörde hat offenbar Grund zur Befürchtung, dass Nikolai Taranin sich im Ausland absetzen könnte. Deshalb hat sie Oxana entführt – als Druckmittel sozusagen. Glaub mir, Milena, das Mädchen ist in Sicherheit.«

    Milena umarmte Rita, gab ihr ein Küsschen und machte sich auf den Weg nach Hause.

    Rita blickte ihr noch lange hinterher.

    Natasha saß im Lehrerzimmer der Eliteschule für hochbegabte Kinder in Kiew. Jeder Lehrer hatte seinen eigenen Arbeitsplatz. Über Natashas Schreibtisch hing ein Foto von Nikolai, der ihr gemeinsames Baby im Arm hielt. Ihre Oxana.

    Daneben hing eine von Kinderhand gemalte Urkunde. Für die beste Lehrerin der Welt stand darauf mit Filzstift gemalt. Seit einer halben Stunde versuchte sie nun schon, diesen Aufsatz zu korrigieren. Vor ihr lagen noch dreizehn weitere.

    Wieder und wieder las sie den Satz, doch ihre Gedanken wollten ihr nicht gehorchen. Sie versuchte, sich den Satz im Geiste laut vorzulesen, doch auch das funktionierte nicht. Denn in ihrem Inneren schrie alles nach Oxana.

    »Natasha, ein Anruf für dich!« Ihre Kollegin stand lächelnd vor ihr und zeigte in Richtung Büro. Natasha sprang auf und rannte zum Telefon.

    »Hallo Schatz! Ist das wahr mit Oxana?«

    »Nikolai!«

    »Ist das wahr mit Oxana?«

    »Wo bist du, Nikolai?«

    »Stimmt es, dass sie entführt wurde?«

    »Entführt …?« Natasha musste sich sammeln. »Nikolai, es ist gut, dass du endlich anrufst. Du weißt ja nicht …«

    »Was ist passiert?«

    »Ich habe keine Ahnung. Sie ist einfach verschwunden. Wir waren schwimmen, und dann kam dieses Motorboot. Nikolai, was sind das für Leute?«

    »Ein Motorboot …«

    »Ja. Und der Geheimdienst weiß etwas. Aber keiner will es mir verraten.«

    Nikolai machte eine Pause. Dann sagte er gefasst: »Ich verstehe. Mein Schatz, mach dir keine Sorgen. Das wird sich schon regeln.«

    Regeln. Er hatte gut reden. Aus seiner Sicht waren die Dinge immer einfach; er wusste über all die Geschäfte Bescheid, von denen sie nur ahnen konnte. Offiziell durfte sie nicht wissen, dass ihr Mann für den KGB arbeitete. Vermutlich glaubte Nikolai immer noch, sie wüsste nicht längst Bescheid. Er mühte sich redlich, ihr weiszumachen, dass er lediglich ein harmloser Diplomat sei. Doch sie hatte genug Hinweise darauf, dass er für den Geheimdienst arbeitete. Was genau er dort tat, war ihr schleierhaft. Jetzt, wo ihre Tochter in all das verwickelt war, hätte sie sich gewünscht, wenigstens ein bisschen mehr zu wissen. Konnte Nikolai sich eigentlich vorstellen, wie es sich anfühlte, die Ahnungslose in diesem Spiel mysteriöser Mächte zu sein? Wahrscheinlich hatte er noch nicht einmal registriert, dass sie wirklich Angst um ihre Tochter hatte. Und da verlangte er, dass sie ihm blind vertraute?

    »Natasha, du musst mir jetzt diese Frage beantworten: Mit wem hat man dich wieder im Bett erwischt?«

    »Was soll das, Nikolai?«

    »Wir wissen beide, wie es um unsere eheliche Treue steht. Mit wem hast du das letzte Mal gekuschelt?«

    Sie senkte die Stimme. »Mit Severow.«

    »Mit Severow? Dem alten Knacker?« Severow war um die siebzig und leitete die Außenspionage. Natasha empfand nichts für ihn, aber sie wusste, dass er derjenige war, der direkten Kontakt zu Nikolai pflegte.

    »Ja. Ich habe mich an ihn herangemacht, weil ich ihn dazu bringen wollte, dich in die Sowjetunion zurückzuholen. Ich … Nikolai, ich brauche dich hier. Ich liebe dich, und ich vermisse dich.«

    »Severow«, sagte Nikolai nur. »Ich hätte es mir denken können. Hast du irgendwelche Andeutungen über mich fallen lassen?«

    »Nein, natürlich nicht! – Du meinst also, Severow hat Oxana entführen lassen?«

    »Natasha, ich werde zurückkommen, das verspreche ich. Sobald es mir möglich ist, werde ich da sein. Bitte halte so lange aus. Und um Severow kümmere ich mich.«

    »Was ist mit Oxana?«

    »Er wird unser Mädchen nach Hause gehen lassen, noch ehe ich zurück bin. Sonst erwürge ich ihn mit eigenen Händen.« Er legte auf.

    Natasha wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte. Es war so beklemmend, wenn man selbst nichts tun konnte. Sie konnte doch nicht einfach abwarten. Sollte sie vielleicht Severow anrufen? Aber das würde wohl nichts nützen. Er würde nichts zugeben, sie hatte ja bereits in dem Hotel versucht, etwas aus ihm herauszubekommen.

    Auf dem Weg zur U-Bahn wanderte sie über den Kreschatik Boulevard. Sie war umgeben von Menschen, die meisten waren Frauen, einige schleppten Plastiktüten, andere Aktentaschen, wieder andere schoben Kinderwagen. Was in Moskau die Twerskaja oder in St. Petersburg der Nevsky Prospekt, das war für die Kiewer Frauen der knapp anderthalb Kilometer lange Kreschatik mit dem Unabhängigkeitsplatz. Wäre dies ein Tag wie jeder andere gewesen, hätte Natasha dem Geräusch des Windes in den Kastanienbäumen gelauscht und die Gesichter der Menschen studiert. Aber sie nahm nichts davon wahr. Starr blickte sie vor sich auf die Straße, einen Schritt vor den anderen setzend.

    Als sie ihr Haus erreichte,

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1