Genießen Sie von Millionen von eBooks, Hörbüchern, Zeitschriften und mehr - mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testversion. Jederzeit kündbar.

Ich war das Jadekind: Meine Kindheit in China bis 1938
Ich war das Jadekind: Meine Kindheit in China bis 1938
Ich war das Jadekind: Meine Kindheit in China bis 1938
eBook241 Seiten3 Stunden

Ich war das Jadekind: Meine Kindheit in China bis 1938

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

"In einer kalten Nacht erblickte ich in Kanton, der Stadt der Fünf Ziegen auf der Insel Jisaadou im Perlfluss im Jahr 1924 das Licht der Welt", schreibt Marion Schiffler zu Beginn ihrer Erinnerungen. Die Biografie der Meranerin kann ungewöhnlicher nicht sein: Weil der Vater für den deutschen Großkonzern I.G. Farben (BASF) die Geschäfte in China betreut, verbringt sie die ersten 13 Jahre ihres Lebens in Kanton und in Hongkong. Ihre Kindheit ist gekennzeichnet von der Kolonialkultur - getrennt von der einfachen Bevölkerung, aber trotzdem geprägt von der chinesischen Kultur. Manchmal auch romanartig und märchenhaft schildert Schiffler ihre Erlebnisse inmitten dieser fremden beeindruckenden Welt. Die Zeit in China und Hongkong ist nur ein Teil dieser Erinnerungen: Nach der Rückkehr nach Europa verbringt Marion Schiffler einige Zeit in Meran, erlebt dort die Vorhut der Option und freundet sich mit jüdischen Flüchtlingen an, die in der Kurstadt auf Zwischenstation sind. Den Krieg erlebt Schiffler in Opatija auf der Halbinsel Istrien, die im Herbst 1943 von den Hitler-Truppen eingenommen wird. Ende 1944 kehrt sie nach Meran zurück.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Raetia
Erscheinungsdatum15. Sept. 2013
ISBN9788872834756
Ich war das Jadekind: Meine Kindheit in China bis 1938
Vorschau lesen

Ähnlich wie Ich war das Jadekind

Titel in dieser Serie (8)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Ich war das Jadekind

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Ich war das Jadekind - Marion Schiffler

    Impressum

    Märchenhaftes China

    Bei ihrer Ankunft am Flughafen von Peking am 15. Juli 2010 trug Angela Merkel einen roten Blazer, die Farbe der Freude und des Glücks im Reich der Mitte. Am Folgetag verkündete sie im Rahmen ihres offiziellen Chinabesuchs gemeinsam mit Premier Wen Jiabao der internationalen Presse, die deutsch-chinesischen Beziehungen auf eine völlig neue Ebene stellen und zur Überwindung der internationalen Wirtschaftskrise stärker zusammenarbeiten zu wollen. Diesmal trug Merkel ein weißes Oberteil. Marion Schiffler sah den Auftritt im Fernsehen und ärgerte sich. Nicht ob der Lippenbekenntnisse, sondern der unzureichenden Kenntnis der chinesischen Kultur der Bundeskanzlerin. „Weiß ist die Farbe der Trauer", sagt die ehemalige Englischlehrerin aus Meran. Die Episode zeigt ihr einmal mehr, dass sich der Westen nach wie vor zu wenig mit China und seiner alten Kultur befasst – und das, obwohl dieses Land dem 21. Jahrhundert seinen Stempel aufdrückt und drauf und dran ist, die weltweit größte Volkswirtschaft zu werden.

    Für Marion Schiffler ist China ihr Leben. Weil der Vater für den deutschen Großkonzern I.G. Farben (BASF) die Geschäfte in China betreute, verbrachte die bald 88-Jährige die ersten 13 Jahre ihres Lebens in Hongkong und Kanton im Süden Chinas: Die Lebenskultur der damaligen britischen Kolonie Hongkong und jener Chinas prägen sie bis heute – und sind auch allgegenwärtig. Das Mobiliar ihrer Wohnung stammt zu einem großen Teil aus ihrem Haus in Kanton, das sie Anfang 1938 nach dem Ausbruch des chinesischjapanischen Konflikts abrupt verlassen mussten. Die Kästen aus dunklem Teakholz zieren typische chinesische Motive. Am Pekingofen, ein schwerer hoher Dreifuß aus Messing, der oben mit einer Platte abgedeckt ist, konnte man sich früher erwärmen. Heute ist er ein Erinnerungsstück aus einer fernen Welt und Zeit. Lediglich die Bücherregale stammen aus Europa. Heute drängen sich darin Klassiker der Weltliteratur in unterschiedlichen Sprachen. Die sehr belesene Frau hält es mit dem Sprichwort: „Je mehr Sprachen du sprichst, desto mehr bist du Mensch." Als Kleinkind sprach sie nur Englisch, heute spricht sie neben ihrer Muttersprache Deutsch fließend Italienisch, gut Französisch sowie ein wenig Kroatisch, das sie in Opatija auf der Halbinsel Istrien während des Zweiten Weltkriegs gelernt hat. Dorthin war die Familie nach der Rückkehr nach Europa und einem Zwischenstopp in Aachen und Meran gezogen, um der Naziherrschaft zu entkommen. Ab Ende 1944 kehrten sie wiederum nach Meran zurück. Außerdem beherrscht Marion Schiffler noch ein paar Brocken Kantonesisch, einen der vielen Dialekte in China, zudem etwas Hochchinesisch, das schon in den 1920er-Jahren zur Einheitssprache erhoben und unter Mao Zedong stark gefördert wurde. Trotz aller Verbrechen, für die der chinesische Despot verantwortlich ist, hält Schiffler der Herrschaft Mao Zedongs zugute, dem Land neues Selbstbewusstsein gegeben zu haben. Entschuldigen will sie die Unrechtstaten damit nicht.

    Zwar hatte Marion Schiffler in Kanton wenig Kontakt zu der chinesischen Zivilbevölkerung. Die alte Kultur Chinas war in ihrer Kindheit dennoch omnipräsent. Mythen und Geschichten brachten ihr die Weisheiten und Philosophie des Landes nahe und die Dienerschaft typische Verhaltensweisen der Menschen. Die wenigen chinesischen Freunde und Bekannten von damals waren überdies prägend. Die Rückkehr nach Europa war ein Bruch in ihrem Leben, so empfindet es Marion Schiffler noch heute: China ist das einzige Land, in dem sie sich jemals richtig wohlgefühlt hat. Deshalb verspürte sie schon als Heranwachsende ein inneres Verlangen, sich mit ihrem Geburtsland auseinanderzusetzen. Ihre Quellen waren vielmals ihre Eltern, die ihre Kindheit mit Geschichten füllten.

    Ihre ersten eigenen Erinnerungen setzen Ende der 1920er-Jahre ein. Danach reiht sich eine Erinnerung an die nächste. Ihre Geschichte klingt wie ein Traum. Auf einer Überfahrt nach Europa weckte sie eines Nachts ihr Vater und zeigte ihr von einem Bullauge aus die italienische Vulkaninsel Stromboli, an der das Schiff gerade vorbeifuhr. Es existiert ein Foto, das sie auf einem Elefanten reitend in Colombo zeigt, der Hauptstadt von Sri Lanka. Auf einem anderen Bild steht sie in hellem Beige gekleidet inmitten von Chinesen auf der Tribüne der Rennbahn von Kanton. Gerade wie man es sehen will, wirkt sie entweder auserwählt oder deplatziert. Beide Bilder sind Teil eines umfangreichen Fotonachlasses ihres Vaters, den sie wie einen Schatz hütet. Die Schnappschüsse geben einen Einblick in das Leben der Familie in einem nur vermeintlich fremden Land. Bilder aus der Zeit in Hongkong sind leider kaum mehr vorhanden. Mit seiner Kamera hat Rudolf Schiffler allerdings auch das Alltagsleben in China eingefangen: Es ist ein touristischer Blick auf Land und Leute, der aber häufig tiefer geht und Stimmungen, ob nun Leid und Armut oder Freude und Ausgelassenheit, einfängt. Die ersten Aufnahmen stammen aus dem Jahr 1913, als für den gebürtigen Aachener das Abenteuer China begann, die letzten aus dem Jahr 1938.

    Von ihren Eltern hat Marion Schiffler auch die Liebe zur Musik geerbt, die für sie fast zu einer Ersatzheimat geworden ist. „Mein Vater war ein wunderbarer Tenor", sagt sie stolz und erzählt eine Anekdote aus ihrer Zeit in Hongkong. Bei einem Kinobesuch stimmte er plötzlich den Tenorgesang Celeste Aida aus der Verdi-Oper Aida an. Frau und Tochter versanken in den Sesseln vor Scham, die anwesenden Besucher klatschten dagegen vor Begeisterung.

    Ihre Leidenschaft zur Musik und zu den Fremdsprachen ließ Marion Schiffler lange nach dem Tod ihrer geliebten Eltern, die ihren Lebensabend in Meran verbrachten, in die Erinnerungen an ihre Kindheit einfließen, die sie vorerst in Deutsch und schließlich in Englisch zu Papier brachte, damit auch ausländische Freunde daran teilhaben konnten. All ihre Tugenden bringt sie darin zum Ausdruck: die Menschlichkeit, die ihr ihre Eltern vorgelebt hatten, und all ihr gesammeltes Wissen, das sie selbst erlebt, von ihren Eltern erfahren und sich durch Lektüre beigebracht hat. Es ist ein sehr lesbarer Text voller Eigenheiten, in dem sie auch Stile und Zugänge vermischt. Manchmal lesen sich die Aufzeichnungen wie ein Tatsachen- oder Reisebericht, manchmal wie ein Märchen oder ein Roman.

    Fast jedem Kapitel ist ein Untertitel vorangestellt, der aus der Musikwelt stammt und eine Stimmung oder ein Gefühl transportieren soll, das der Autorin wichtig ist. Marion Schiffler hat ihre Erinnerungen zuallererst für sich selbst geschrieben. Deshalb waren einige Eingriffe notwendig, um sie einer größeren Leserschaft zugänglich zu machen. In diesem Sinne erläutern auch Endnoten den Text. Das Nachwort des Historikers und Sinologen Thoralf Klein ordnet die Erinnerungen historisch ein.

    Marion Schiffler musste mehr als 40 Jahre warten, um ihr Geburtsland wiederzusehen. Mit einer Reisegruppe befand sie sich in Hongkong, als sich plötzlich die Grenzen zu China öffneten, die bis dahin geschlossen waren. Zweieinhalb Tage verbrachte sie in Kanton und suchte nach Spuren ihrer Vergangenheit, ihr Haus war längst abgerissen worden. Außerdem besuchte sie eine Jadefabrik: Jade ist in China nicht bloß ein Schmuckstein, der künstlerisch weiterverarbeitet werden kann, sondern hat eine tiefe jahrtausendealte symbolische Bedeutung. Kurz bevor die Reisegruppe die Fabrik verließ, schenkte ihr ein junger chinesischer Arbeiter lächelnd ein Stück Jade. Er wusste, dass sie keine Fremde war.

    Thomas Hanifle

    September 2012

    Fünf weiße Eier

    Preludio

    In einer kalten Nacht erblickte ich in Kanton (Guangzhou), der Stadt der Fünf Ziegen auf der Insel Jisaadou (Ershadao) im Perlfluss im Jahr 1924 das Licht der Welt. Geheimnisvoll und schicksalhaft zeigte sich der Große Bär am Firmament. Es war zu Beginn der „Schwarzen Schildkröte", dunkles Symbol des Winters in den chinesischen Sternenkonstellationen, im schwierigen Sternzeichen des Steinbocks, im Monat Poseidon und im Jahre der Holz-Ratte gemäß dem chinesischen Zyklus.¹

    Mein Vater, der sechs Jahre auf die Ankunft eines Kindes gewartet hatte, befand sich in der „neunten himmlischen Sphäre vor Freude und eilte von einer Familie zur anderen in der kleinen ausländischen Enklave, um allen die glückliche Nachricht mitzuteilen. Die Verhaltensweise meines Vaters rief zwar Verwunderung bei seinen chinesischen Freunden hervor, war ich doch nur ein unbedeutendes Mädchen, mit anderen Worten „verlustbringende Ware, doch bekundeten sie höflich wie immer ihre Anteilnahme an diesem Ereignis. Unsere zwölf Diener schmückten unser Haus aus diesem Grund auch nur in Weiß, der Trauerfarbe, um Mutter und Kind zu empfangen. Für einen Sohn hätte es mindestens hundert rotgefärbte Eier gegeben, die das Leben und die Ewigkeit symbolisierten, während für mich nur ein Körbchen mit fünf weißen Eiern bereitstand. Alles sollte darauf hinweisen, dass der Himmel die Geburt eines völlig nutzlosen Geschöpfes gewährt hatte.

    Das vermochte das Glück meiner Eltern über meine Geburt jedoch keineswegs zu trüben. Die chinesischen Freunde, Meister in der Kunst des guten Betragens und beim Verbergen ihrer Empfindungen, verstanden es, ihre wahren Gedanken zu verbergen – und wenn sie sich auch über die Glücksäußerungen meiner Eltern wunderten, so schrieben sie diese Freude der wohlbekannten Exzentrik zu, die selbst den am meisten geschätzten „fremden Teufel" von Zeit zu Zeit und bei unvorhergesehenen Anlässen überkam.

    Sechs Monate später wurde ich von einem durchreisenden protestantischen Missionar getauft. Mein Vater entstammte einer streng katholischen Familie, meine Mutter war gläubige Protestantin. Obwohl ihre Eheschließung nach katholischem Ritus vollzogen worden war, betrachtete mein Vater die Religion seiner Ehefrau als vollkommen ebenbürtig. Und da es die Mutter ist, die ihr Kind großzieht, sollte ich auch ihren Glauben haben. In China fragte sowieso niemand danach, weil man nach den Lehren von Konfuzius² lebte, der sagte: „Innerhalb der vier Ozeane sind alle Menschen gleich.³ Das galt auch für meine Eltern. Von einem tiefen Verständnis und Mitgefühl für ihre Mitmenschen beseelt, wussten meine Eltern, dass Toleranz aus geistiger Großzügigkeit resultiert und dass im Gegensatz dazu Ignoranz die Wurzel aller Intoleranz ist. Mein Vater küsste damals meine Füßchen und sagte: „Mögen sie immer nur den rechten Weg gehen. Für die Chinesen gelten Füße als die Wurzeln des Lebensbaumes.

    Im Grundbass des Lebens

    Basso Ostinato

    Wer im Morgengrauen den Perlfluss aufwärts fährt, wird mit außerordentlichen Eindrücken konfrontiert. Das weitläufige Delta, das mit einem verwirrenden Netz von Flussläufen, Wasserstraßen, Rinnsalen, Verbindungskanälen und offenen Bewässerungsleitungen angelegt ist, führt den Reisenden hin zur großen südlichen Hauptstadt eines Riesenreiches. An den Ufern erblickt man in der Ferne von Gräben und Kanälen durchzogene endlose Reisfelder vor der dunstigen Silhouette hintereinander gestaffelter Hügelzüge. Das riesige Tiefland umfängt den Ankömmling und führt ihn in eine ihm fremde Welt. Der breite, graugelbe Fluss, bleich wie eine sterbende Perle, wird unmerklich enger. An den Ufern, entlang den schlammigen warmen Buchten und sandigen Bänken, entfalten sich noch heute die mit unendlichem Fleiß und unermüdlicher Geduld bebauten Felder, Gemüse- und Obstgärten, Bananenplantagen und Maulbeerhaine. Winzige schmale Barken, das sind mastlose Boote, schaukeln wie vibrierende Striche im ersten Licht des Morgens und werfen die Schatten der stehenden Bootsleute über das Wasser. Es sind die Impressionen „lagunarer" Landschaften, wie sie die Maler der Song-Zeit (960–1279) unsterblich und einmalig auf Seide verewigt haben – kaum erkennbar und nur angedeutet, in der die Stille und der Frieden des frühen Morgens spürbar sind.

    Die Ufer werden flacher und fast verschwommen, die Schattierungen unklar. Leichter Morgennebel ist erkennbar. Ein seltsamer Geruch von Algen, die stechende Beize von feuchtem Holz durchzieht die Morgenlüfte. In der Ferne erahnt man den ersten Herdrauch der Dörfer. Die frühen Laute erwachen, zuerst leise, dann akuter, sonorer und insistenter, bis endlich wie ein Sturzbach das Crescendo der Stadt Kanton sich bemerkbar macht, die erwacht und das Nervensystem des Abendländers strapaziert.

    Eine Armada von Flussfahrzeugen – Dampfer, Motorboote, Schlepper, Lastkähne, Dschunken und Sampans – und das Pfeifen der Sirenen, das Tuten und Aufheulen von Signalen strapazieren die Sinneswahrnehmungen. Die Dschunken segeln mit riesigen tabakfarbenen Flügeln vorüber, prähistorischen Sauriern gleich. Dazwischen schaukeln winzige Sampans⁴, von grazilen Wesen gerudert und mit meist nackten Kleinkindern an Bord. Erst sind es nur sporadische Erscheinungen, dann ein paar Dutzend und zuletzt hunderte, die den Fluss Xijiang⁵ befahren im täglichen Alltagskampf des tödlichen unerbittlichen Lebens. Inmitten von faulendem Abfall und dem penetranten Geruch von Holzkohlefeuerchen offenbart sich ein Strudel von Menschen, Fahrzeugen und Schmutz, die einen eigentümlichen Reiz ausüben.

    Die Sirenen der Fähren und Schiffe erklingen in heiseren lamentösen Tönen, Geschrei erschallt aus den unzähligen schaukelnden Behausungen der boat people: Menschen, die ihr Leben lang keinen Fuß auf festen Boden setzen. Pfiffe der Motorbarkassen sind zu hören, der Heulton der Schlepper inmitten von tausenden menschlichen Stimmen und Lauten vermischen sich mit ohrenbetäubendem Feuerwerksgeknatter irgendeiner traditionellen chinesischen Feierlichkeit.

    In kürzester Zeit hat sich das unbeschreibliche Szenarium entwickelt, das die Bühne der Existenz und den Rhythmus des Lebens und der Zeit versinnbildlicht. Über diesem Gewimmel menschlichen Elends singt wie ein basso continuo, im Grundbass, das chinesische Leben: zäh, hartnäckig und unverwüstlich.

    Noch ehe der Reisende in der Metropole am Perlfluss angekommen ist, meint er, sich auf einem anderen Planeten zu befinden.

    Kantonesische Oper

    Basso ostinato continuo

    Kanton, auch Guangzhou genannt, ist eine chaotische Stadt, erfüllt von emsiger Geschäftigkeit und einer unendlich flexiblen kommerziellen Ethik. 214 v. Chr. wurde hier von den Truppen des ersten Kaisers Qin Shi Huangdi⁶, der China vereinte, die Garnisonstadt Panyu gegründet. Sitz eines Vizekönigs zu kaiserlichen Zeiten, wurde diese Stadt zum südlichen Ausgangspunkt eines riesigen Reiches. Sie ist eine rein chinesische Stadt, dort lebte das Volk der Hanchinesen. Der frühe Kontakt zu den Grenzvölkern sowie seine vorteilhafte geografische Lage im Flussdelta hat den Bewohnern der Südmetropole eine eigene Mentalität verliehen. Im Gegensatz zum Norden des Landes war man hier immer schon aufgeschlossener und revolutionärer. Der herbe, konservative Norden registrierte denn auch mit Missbilligung und Misstrauen diese freiheitlichen Tendenzen. Die Südchinesen berufen sich deshalb noch heute auf ein altes Sprichwort: „Der Himmel ist hoch und der Kaiser (in Beijing) weit entfernt."

    Kanton ist eine eigentümliche Stadt am Wendekreis des Krebses, am nördlichsten Breitenkreis, die von äußerst mobilen, aktiven und agilen Menschen bewohnt und von einem eigenen Arbeitsund Geschäftssinn geprägt war. Wie fast jede andere chinesische Stadt bestand Kanton aus einem Mäandergeflecht enger Gässchen und Sträßchen, in denen die verschiedenen Gilden und Zünfte, streng nach Fach und Beruf eingeteilt, arbeiteten und walteten. Alle aber waren durch einen ungeschriebenen Kodex wie in einem bedachtsam austarierten Zusammenspiel miteinander verbunden. Es bestand ein dichtes Netz von Verbindungen und Kontakten, von Schutz- und Berufsvereinen und Protektoren in diesem Labyrinth, diesem emsig arbeitenden Bienenhaus, diesem Dädalusgehäuse, wo jede Nachricht sofort und drahtlos übertragen wurde und kein Geheimnis verborgen blieb und wo gleichzeitig äußerste Verschwiegenheit vor Uneingeweihten herrschte. Alle waren ständig beschäftigt und glitten geschmeidig wie Eidechsen durchs Leben. Doch gönnten sie sich auch Mußestunden mit ihren Lieblingssingvögeln, die sie in schönen Käfigen ebenso wie die geschätzten Singgrillen in geschnitzten Dosen aus Sandelholz spazieren führten.

    Die Menschen erfreuten sich aber auch an ihren Kindern und Enkeln, klatschten und plauschten mit Freunden und Nachbarn, genossen die pyrotechnischen Freudenfeuer, die bei Hochzeiten, Geburtstagen und auch Begräbnissen die nähere Umgebung mit ohrenbetäubendem Getöse erfüllten. Sie schienen diesem ungeheuren Krach gegenüber immun zu sein, sie wussten: Nur böse Geister meiden den Lärm.

    Ein Concerto grosso des Lebens und des Daseinskampfes spielte hier auf, eine kantonesische Oper von Stimmen, Rufen, Tönen, Singsang – all dies von einer unsichtbaren Regie geleitet, die ausgewogen, intensiv, wachsam und mit einer Prise Anarchie versehen – den Ablauf des Lebens regelte. Untermalt von klangvollem Lachen, vermischt mit klingenden Kaskaden langgezogener Silben ertönte lautstark der malerische Südchinadialekt, das Kantonesische. Kanton ist eine Stadt voller Wasserläufe und Kanäle, amphibienhaft von Inseln und Wohnstätten am Wasser durchzogen. Wer mit der Tür zum Wasser wohnt, hat andere Gefühle als jener, der auf die Straße blickt. Das Tor zum Wasser verbindet ihn mit dem Meer, mit der liquiden Oberfläche des Ozeans, der alle Kontinente letztendlich verbindet.

    In dieser seltsamen Stadt am Perlfluss, von der so mancher innovative Impuls ausging und wo positive wie kreative Ideen ihren Ursprung fanden, gab es auch immer einen Kern von Intellektuellen, die den Willen zur Erneuerung

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1