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Was geschah wirklich mit Dulce Veiga?: Ein Low-Budget-Roman
Was geschah wirklich mit Dulce Veiga?: Ein Low-Budget-Roman
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Was geschah wirklich mit Dulce Veiga?: Ein Low-Budget-Roman

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Vor zwanzig Jahren ist die Sängerin mit der rauchigen Stimme verschwunden, auf der Schwelle zum großen Erfolg und stets auf der Suche nach "etwas anderem". Keiner, der sie je gehört hat, konnte sie vergessen, auch der Reporter nicht, den sein Sensationsblatt beauftragt, den Mythos aufzuspüren. Eine atemberaubende Odyssee durch São Paulo führt ihn zu der Punkrockgruppe Márcia Fellatio und die Vaginas Dentatas und ihrer Agentin, einem Virginia-Woolf-Double, zu einem neureichen orientalischen Pressemagnaten in seiner (Alb-)Traumvilla, durch eine semipornografische Off-Off-Theaterproduktion und zu einer abgehalfterten Telenovela-Heroine. Des Weiteren treten auf: die frustrierte Klatschspaltenkolumnistin, der exhibitionistische Rasta-Mann, die wahrsagende Mulattin von nebenan mit ihrem halbwüchsigen Transvestitensohn, zwei argentinische Bodybuilder, der melancholische portugiesische Kneipenbesitzer am Ende einer Sackgasse.
In dieser grimmigen Asphaltgroteske tauchen allmählich die Gespenster einer verführerisch erscheinenden Vergangenheit auf, und des Rätsels Lösung wartet hinter den verträumten Klängen eines melancholischen Bossa Nova.

Von Caio Fernando Abeu außerdem in der Edition diá:

Kleine Monster. Erzählungen
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Marianne Gareis, Gerd Hilger, Maria Hummitzsch, Gaby Küppers und Gotthardt Schön
ISBN 9783860345429
LanguageDeutsch
PublisherEdition diá
Release dateJun 7, 2013
ISBN9783860345245
Was geschah wirklich mit Dulce Veiga?: Ein Low-Budget-Roman

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    Book preview

    Was geschah wirklich mit Dulce Veiga? - Caio Fernando Abreu

    Über dieses Buch

    Vor zwanzig Jahren ist die Sängerin mit der rauchigen Stimme verschwunden, auf der Schwelle zum großen Erfolg und stets auf der Suche nach »etwas anderem«. Keiner, der sie je gehört hat, konnte sie vergessen, auch der Reporter nicht, den sein Sensationsblatt beauftragt, den Mythos aufzuspüren. Eine atemberaubende Odyssee durch São Paulo führt ihn zu der Punkrockgruppe Márcia Fellatio und die Vaginas Dentatas und ihrer Agentin, einem Virginia-Woolf-Double, zu einem neureichen orientalischen Pressemagnaten in seiner (Alb-)Traumvilla, durch eine semipornografische Off-Off-Theaterproduktion und zu einer abgehalfterten Telenovela-Heroine. Des Weiteren treten auf: die frustrierte Klatschspaltenkolumnistin, der exhibitionistische Rasta-Mann, die wahrsagende Mulattin von nebenan mit ihrem halbwüchsigen Transvestitensohn, zwei argentinische Bodybuilder, der melancholische portugiesische Kneipenbesitzer am Ende einer Sackgasse.

    In dieser grimmigen Asphaltgroteske tauchen allmählich die Gespenster einer verführerisch erscheinenden Vergangenheit auf, und des Rätsels Lösung wartet hinter den verträumten Klängen eines melancholischen Bossa Nova.

    »Herausragend in der modernen brasilianischen Literatur.« (Jornal da Tarde, Brasilien)

    »Abreus Roman ist so wohltuend frisch erzählt, so spontan, ehrlich, direkt und leicht, dass man anfangs den Strudel nicht merkt, in den die Geschichte einen zieht. Sie reißt mit in magmatische Abgründe und stellare Höhen. Beschwingter Witz und prickelnde Selbstironie halten einen bei klarem Verstand.« (DeutschlandRadio)

    Der Autor

    Caio Fernando Abreu, geboren 1948, studierte Literatur und Theater in Porto Alegre und lebte seit 1968 als freier Autor in São Paulo. Wie kein Zweiter beschrieb er die zahllosen Widersprüche des urbanen Brasilien. Zweimal erhielt er den bedeutendsten brasilianischen Literaturpreis Prêmio Jabuti. Sein Werk umfasst Romane, Erzählungen, Theatertexte, Songtexte und Drehbücher. 1996 starb er an den Folgen seiner HIV-Infektion. Onde andará Dulce Veiga? ist außer ins Deutsche auch ins Englische, Französische, Italienische, Niederländische und Spanische übersetzt worden.

    Der Übersetzer

    Gerd Hilger, geboren 1958, hat über modernes brasilianisches Theater promoviert und lebt heute als Organisationsberater in Köln. Neben dem vorliegenden Roman übertrug er, unter anderem, auch zwei Erzählungen von Caio Fernando Abreu ins Deutsche.

    Caio Fernando Abreu

    Was geschah wirklich mit Dulce Veiga?

    Ein Low-Budget-Roman

    Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Gerd Hilger

    Edition diá

    Inhalt

    I Montag − Vaginas Dentatas

    II Dienstag − The Hard Core of Beauty

    III Mittwoch − Das muselmanische Raubtier

    IV Donnerstag − Der grüne Sessel

    V Freitag − Das Quecksilberlabyrinth

    VI Samstag − Ferner Stern des Nordens

    VII Sonntag − Weiter nichts

    Impressum

    Zur Erinnerung an Nara Leão

    Für Odete Lara, Guilherme de Almeida Prado, Cida Moreyra und alle Sängerinnen Brasiliens

    »I had seventeen dollars in my wallet. Seventeen dollars and the fear of writing. I sat erect before the typewriter and blew on my fingers. Please God, please Knut Hamsun, don’t desert me now. I started to write and I wrote:«

    John Fante, Dreams from Bunker Hill

    I Montag

    Vaginas Dentatas

    1

    Eigentlich hätte ich singen müssen.

    Mich kugeln vor Lachen oder weinen, aber ich wusste nicht mehr, wie das geht. Oder wenigstens eine Kerze anzünden, in die Consolação-Kirche laufen, ein Vaterunser beten, ein Ave-Maria und ein Ehre-sei-Gott, alles, was mir noch einfiel; und dann ein bisschen Kleingeld, hätte ich mal welches gehabt, aber seit Monaten Ebbe, in den Opferstock werfen, »Für die Seelen im Fegefeuer«. Dank sagen, um Erleuchtung bitten, wie früher, als ich noch gläubig war.

    Das waren Zeiten, dachte ich und zündete mir eine Zigarette an. Allerdings ohne theatralische Geste, so als lauerte in irgendeinem Winkel eine Filmkamera. Oder Gott. Ohne Richter oder Zuschauer, ohne Close-up oder Zoom stand ich früh am Nachmittag im glühend heißen Februar einfach so da und starrte den Telefonhörer an, den ich gerade aufgelegt hatte. Ich bekreuzigte mich nicht mal, hob auch die Augen nicht zum Himmel. Das Mindeste, was in solchen Fällen von einem erwartet wird, nehme ich an, auch ohne Glauben. Wie eine Art mystischer konditionierter Reflex.

    Ein Wunder war geschehen. Ein zufälliges, aber grundlegendes Wunder für einen wie mich, der keine reichen Eltern hat, kein Anlagevermögen, weder Immobilien noch Erbschaft, und der lediglich versucht, allein in einer höllischen Stadt zu leben, die da draußen hinter dem noch geschlossenen Apartmentfenster vibrierte. Nichts besonders Aufsehenerregendes wie: urplötzlich sein Augenlicht wiederzuerlangen oder sich aus dem Rollstuhl zu erheben mit dem seligen Lächeln und der Leichtigkeit eines Menschen, der übers Wasser wandelt. Obwohl meine Kurzsichtigkeit nur schlimmer wurde und meine Knie häufig zitterten – keine Ahnung, ob aus chronischem Hunger oder reiner Traurigkeit –, funktionierten meine Augen und Beine noch einigermaßen. Andere Organe, ehrlich gesagt, weitaus weniger.

    Ich fasste mir an den Hals. Und wenn im Kopf etwa –

    Schluss damit, sagte ich mir, während ich so dastand, nackt im schlierigen Halbdunkel der Mittagszeit. Mach dir doch mal dieses Wunder klar, Mann. Und das schlichte, in seiner Einfachheit geradezu unbedeutende kleine Wunder, imstande, ein bisschen Ruhe in dieses Hin und Her ohne Ziel und Rhythmus zu bringen, das ich mit einer gewissen Nachsicht und völlig fantasielos mein Leben zu nennen beliebte, es hatte einen Namen. Es nannte sich: ein Job.

    Ich betrachtete mein Gesicht in dem alten, zerkratzten Spiegel. Die Furchen, von denen ich nicht wusste, ob sie zum Spiegel oder zur Haut gehörten, begrüßte ich mit einem Kopfnicken: »Prima, Glückwunsch. Jetzt hast du einen Job.« Aber ich verspürte einfach keinen Schub von Selbstachtung, keinen Schauer freudiger Erwartung, der meine geröteten Augen leuchten oder meine müde Brust schwellen ließe. Auf der hatte ich im Übrigen – ich wollte zwar nicht daran denken, tat es aber doch – vor kaum einer Woche das erste graue Haar entdeckt.

    Ich seufzte.

    Tatsächlich würde nur ein kompletter Idiot oder ein total unerfahrener Grünschnabel in – ach, nicht mal Ekstase, aber doch wenigstens Begeisterung geraten wegen eines kleinen Pöstchens, das er als Reporter beim Diário da Cidade, der vielleicht übelsten Tageszeitung der Welt, ergattert hat. Ich meine, ein Idiot war ich noch nicht geworden, zumindest kein kompletter. Und was die Erfahrung betrifft, davon schien dieses vom Schlaf noch verquollene, zerfurchte Gesicht mit Dreitagebart, das mich zwischen den Kratzern im Spiegel beäugte, mehr als genug zu haben. Also gut, sagte das Gesicht im Spiegel, wenn du unbedingt Verwüstung mit Erfahrung verwechseln willst … Ich seufzte erneut. Nein, liebes Gesicht, Seite um Seite auf den Schreibmaschinen dieses präinformatischen Käseblättchens vollzuschreiben, das war sicherlich kein Grund für Freudensprünge.

    Aber ich musste zufrieden sein. Und wenn man das wirklich will, dann wird man es auch. Es funktionierte schon. Das konnte doch der erste Schritt sein, um aus dem Morast von Depressionen und Selbstmitleid aufzutauchen, in dem ich mich seit fast einem Jahr suhlte. Mir gefiel der Ausdruck Morast von Depressionen & etc. so gut, dass ich fast schon ein Blatt Papier suchen und ihn aufschreiben wollte. Ich hatte zwar den paranoiden Tick abgelegt, mir einzubilden, ich würde ständig gefilmt oder von einem Gott mit fliegenhaften Facettenaugen abtaxiert, doch den Tick, dass mich jemand schreibt, noch nicht. Und wenn ich Balletttänzer wäre, würde ich mir womöglich die ganze Zeit, bei jeder Bewegung einbilden, dass mich jemand modelliert? Ahh … Jede Geste eine wahre ästhetische Apologie der reinen Form.

    Das war komisch. Und ziemlich schizophren. Aber plötzlich hatte die Wirklichkeit eine weitaus weniger rhetorische Wendung genommen.

    »Du fängst heute an, mein Freund«, hatte Castilhos am Telefon gesagt. Mit diesem Unterton, aus dem ich als alter Subliterat eine, sagen wir rau-komplizenhafte Zärtlichkeit hätte heraushören können, der in Wahrheit aber nichts weiter war als eine Überdosis Nikotin und Genervtheit: »Und sieh zu, dass du mir nicht schon am ersten Tag Scheiße baust, okay? Ich hab den Jungs mein Wort gegeben, dass du einer von der knallharten Sorte bist.«

    Verblüffend: In der Nacht war ich als arbeitsloser, verschuldeter, verbitterter, einsamer und illusionsloser vierzigjähriger Journalist schlafen gegangen, und am nächsten Tag weckt mich wie durch ein Wunder diese Stimme aus der Vergangenheit und erzählt mir, ich wäre »einer von der knallharten Sorte«. Ab heute ein Leben aus Tatsachen. Action, Bewegung, Dynamik. Die Klappe fällt. Gott blättert eine weitere Seite seines endlosen und stinklangweiligen Drehbuchs um. Der Bildhauer treibt einen weiteren Splitter aus dem Marmor.

    Ich setzte Kaffeewasser auf, in der Feuchtigkeit meiner Küche gediehen weißliche Pilze. Sympathisch, geradezu bukolisch. Ich schaltete das Radio ein und ging unter die Dusche. Die Wohnung war so klein, dass man all diese Dinge praktisch gleichzeitig machen konnte. Mit einer Hand seifte ich mir den Kopf ein, mit der anderen regelte ich die Lautstärke des Radios im Wohnzimmer, während ich ein Bein ausstreckte, um den Herd abzustellen, als das Wasser kochte.

    »Jetzt aber! Na los! Hopp!«, grölte ich unter dem eiskalten Strahl. »Yippie-ay-ho, Silver!«

    Dann hörte ich im Radio ein Lied, das mir bekannt vorkam. Es ging um so was wie »die Wirklichkeit ist ganz egal, was zählt, ist eine schöne Illusion«. Dem konnte ich rundum zustimmen. Zumindest in den letzten Monaten hatte ich außer Fantasien nichts erlebt. Aber die Melodie, die in irgendeiner Rumpelkammer meines Gedächtnisses widerhallte, war ein alter Bolero oder Foxtrott, und was da jetzt aus dem Radio donnerte, war einer von diesen Rocksongs mit entfesseltem Elektrobass, giftsprühendem Schlagzeug und hysterischen Synthesizern. Die Stimme der Sängerin hörte sich an wie Glas in einem Mixer. Jedenfalls stimmt der Text, dachte ich. Und alle Dinge, an die ich mich erinnerte oder zu erinnern glaubte, denn vor lauter Erinnern hatte ich schließlich bloße Literatur aus ihnen gemacht – und sauschlechte noch dazu –, sie zählten nicht mehr.

    Der Rest vom letzten Stück Seife flutschte mir durch die Finger. Er war so winzig, dass er im Abfluss verschwand.

    2

    »Das soll wohl ein Witz sein«, sagte ich. »Diese Gruppe gibt es wirklich?«

    Castilhos schnippte die Asche von einer seiner Zigaretten. Solange ich ihn kannte, also seit ungefähr zwanzig Jahren, rauchte er drei oder vier Zigaretten gleichzeitig. Einige hielten an der Metallkante des Tisches, die voller Brandflecke war, die Balance, andere verteilten sich auf die Aschenbecher, verloren zwischen Papierstapeln, Fotos, Büroklammern, Akten, Briefumschlägen, Plastikbechern, Süßstoff, Alleskleber, Rollen mit Münzgeld, Lotterielosen, Notizblöcken, Bleistiften, Kugelschreibern, Butterbrotresten, Cola-light-Dosen und einem Keramikochsen aus dem brasilianischen Nordosten, den ich aus früheren Redaktionsräumen kannte. Der Ventilator hinter ihm blies mir Asche in die Augen. Vermutlich war die Temperatur in dem mit Teppichboden ausgelegten Raum genauso hoch wie im Ofen eines Krematoriums.

    Er legte die Zigarette in einen Aschenbecher, der die Form zweier muschelartig geöffneter Hände hatte, als warteten sie auf himmlisches Manna. Diesen Aschenbecher kannte ich auch, dämmerte mir. Alte Redaktionsräume, andere Zeiten. Ehrlich gesagt kam mir in diesem ganzen Trödel ein Teil nach dem anderen bekannt vor, er inbegriffen. Und das würde ich nicht unbedingt als angenehmes Gefühl bezeichnen.

    Castilhos wühlte in den Fotos, fischte eine Mulattin in Minitanga und weißen Stiefeln heraus und heftete sie mit einer Büroklammer an ein Blatt, das derart heftig mit Radiergummi bearbeitet worden war, dass die Korrekturen das Papier durchgescheuert hatten:

    »Was ist daran so komisch, nur wegen des Namens? So sind nun mal die Zeiten, was soll man da machen? Jetzt nennen sie sich Miese Ratten, Sudelwürmer, Widerlinge und so was.« Er drehte sich zu dem niedrigeren Tischchen neben ihm, spannte ein Blatt in die Maschine und tippte in einem Rutsch. »Na das sind vielleicht Schenkel!«

    Ich sah ihn an, ohne zu begreifen. Soweit ich wusste, stand er auf asketisch dünne Frauen wie Audrey Hepburn. Allerhöchstens noch Deborah Kerr. Von den jüngeren vielleicht Michelle Pfeiffer. Auf keinen Fall Mulattinnen in weißen Stiefeln.

    »Der Untertitel ›Na das sind vielleicht Schenkel!‹ kommt genau hin, hat zwanzig Anschläge, wenn man das vielleicht streicht.« Er riss das Blatt raus und brüllte: »Pai Tomás, komm her.«

    »Ausgezeichnet«, sagte ich. Ich hatte vergessen, dass es immer so zuging, wenn man sich mit ihm unterhielt. Zwei, drei Themen überkreuz, unterbrochen von Seufzern, Husten, Fauchen, Telefonaten, Zigaretten und Gebrüll. Harte Schnitte, Rückbezüge und Themenwechsel, ohne jede Einleitung à la Wie-ich-gerade-sagte oder so.

    »Pai Tomás, wo steckt dieser Trottel?« Er fuhr mit seinen gelben Fingerspitzen geistesabwesend über die Schenkel der Mulattin. Sie erstaunten mich immer wieder, die Hände von Castilhos. Sie waren nicht, wie man hätte erwarten können, große behaarte Pranken, sondern klein, wulstig und rosa. Wenn ich stinksauer auf ihn wurde, brauchte ich nur seine Hände anzusehen. Dann verzieh ich ihm alles, sofort. »Kotzbrocken, neulich sind hier ein paar Jungs mit so einem Namen für ihre Gruppe aufgetaucht. Nicht Gruppe, Band. So sagt man heutzutage. Dann war da noch eine, Die Schleimschnecken. Und schließlich tauchte ein Beelzebub und die Engel vom anderen Ufer auf. So sind nun mal die Zeiten, was soll man da machen?«

    Das Telefon klingelte, er nahm den Hörer ab. Ich schaute mich um, aber der riesige, heruntergekommene Raum mit seinen stelzbeinigen Ventilatoren war fast menschenleer. Bis auf einen ganz in Schwarz gekleideten Jungen mit gelgestylter Igelfrisur, der mit rasendem Eifer tippte, womöglich eine vernichtende Kritik über die Engel vom anderen Ufer.

    »Um acht ist Redaktionsschluss«, brüllte Castilhos. »Um acht und keine verdammte Minute später. Bis um sieben will ich das auf meinem Tisch haben, damit ich diesen Mist wenigstens noch mal durchsehen kann, okay?« Er knallte den Hörer auf, Zigarettenkippen flogen durch die Gegend. »Schwachsinnige, alles Schwachsinnige. Da hat doch neulich einer geschrieben, die Dingsda hätte den Oskar als beste Akteuse gekriegt, das ist doch nicht auszuhalten!«

    Wie aus dem Nichts tauchte neben seinem Schreibtisch plötzlich ein junger Schwarzer auf, der jedoch schlohweiße Haare hatte wie der Alte Mann beim Umbanda. Er machte einen Diener. Im Ernst. Unter seinem aufgeknöpften olivgrünen Hemd sah ich eine Kette mit roten und schwarzen Perlen. Sie glänzten, blank vom Schweiß seiner schwarzen Haut. Castilhos hielt das Foto der Mulattin hoch und fuchtelte damit vor meiner Nase herum.

    »Pai Tomás, das ist unser neuer Reporter für das Ressort Unterhaltung.

    »Laroiê!«, grüßte Pai Tomás und neigte sein weißes Haupt. Ich lächelte. Das heißt, ich spannte meine Gesichtsmuskeln an, um meine Zähne zu zeigen. Mir war etwas schwindlig, ich hatte an diesem Tag noch nichts gegessen. Ich kniff die Augen zusammen, und als ich sie wieder aufschlug, hatte sich Pai Tomás in Luft aufgelöst. Bei Castilhos wusste man nie mit Sicherheit, wann etwas nicht mehr witzig war, sondern schwülstig, folkloristisch oder irgendwie bedrohlich. Hinter seinem Schreibtisch sickerte das fahle Licht der Avenida 9 de Julho durch die schmutzigen Fensterscheiben. Die Stadt sah aus, als hätte man eine trübe Glasglocke drübergestülpt. Rauch, verbrauchte Atemluft, Schweißausdünstungen, Kohlenmonoxyd, Viren. Ich betrachtete erneut seine Hände und machte ganz entspannt einen letzten Anlauf:

    »Ich bin wirklich drauf angewiesen, Castilhos, ehrlich. Aber ich weiß nicht, ob ich unbedingt der Richtige dafür bin.«

    »Und ob du das weißt. Haargenau weißt du das. Du machst das schon, okay? Nur weil die Band Márcia Fellatio und die Vaginas Dentatas heißt, was ist denn schon dabei? Ist doch sogar ein ausgesprochen origineller Name, und die Mädels sind bestimmt in Ordnung. Wird andauernd im Radio gespielt.«

    »Ich höre mir nur gregorianische Gesänge an«, log ich. Und seufzte: »Mannweiber, Sexistinnen, rebellische Halbstarke. Denn sie wissen nicht, was sie tun – und wozu …«

    »Guter Titel für eine Kritik. Aber sieh sie dir erst mal an, schreiben kannst du später.« Er zündete sich eine Zigarette an. »So sind nun mal die Zeiten.«

    »Was soll man da machen?«, ergänzte ich. »Gib mir ihre Telefonnummer.«

    Er schob einen Stapel Blätter beiseite und nahm einen Terminkalender. Da waren schon mehr lose Blätter drin als eingebundene. Und dabei haben wir erst Februar, dachte ich. Er hielt mir einen Zettel hin.

    »Frag nach Patricia. Oder Vanessa oder Mônica oder Cristiane, einer dieser neumodischen Namen. Zustände sind das, es gibt einfach keine Veras, Juçaras und Elviras mehr. Ganz zu schweigen von den Carmens.«

    »Castilhos, wohnst du noch an der Avenida São João?«

    Er zog mit dem Fuß eine Schublade auf und knallte sie mit voller Wucht wieder zu, schob die Brille in die Stirn und streichelte die Hörner des Keramikochsen. Daran konnte ich mich noch erinnern: Zeichen dafür, dass nichts mehr zu bereden war. Im Aufstehen sagte ich:

    »Nimm dich in Acht, tapferer Krieger, wenn die Finger des großen Meisters den Ochsen bei den Hörnern packen.«

    Er grunzte. Vielleicht war es auch ein Lächeln, keine Ahnung.

    Ich ging an den leeren Tischen entlang hinaus. Eine Blondine um die fünfzig, mit Goldschmuck behangen und in einem dekolletierten Kleid mit Tigermuster, beugte sich über ihre Schreibmaschine, als ich vorbeikam. Sie hätte eine ordinäre Frau sein können, aber irgendetwas an ihrem allzu gereckten Hals und den steifen, durchgedrückten Schultern verriet eine gewisse Vornehmheit. Wer weiß, womöglich eine Frischgeschiedene, die einen Neuanfang versuchte, eine russische Ex-Balletttänzerin, in die Tropen vernarrt und aus Gründen des Überlebens gezwungen, Schund zu übersetzen. Auf dem Seicho-No-Ie-Kalender hinter ihr an der Wand war zu lesen: Jetzt ist der entscheidende Augenblick für eine Wiedergeburt. Ich wollte mich gerade zum Telefonieren neben sie setzen, als Castilhos blökte:

    »Das ist die Titelseite vom Freitag«, und dann deklamierte er, ohne aufzustehen, doch mit tragender Stimme in einem derart perfekten Englisch, dass ich keine Silbe verstand: »Disable all the benefits of your country, be out of love with your Nativity, and almost chide God for making that countenance you are.«

    Die Finger des schwarz gekleideten Jungen verharrten über der Tastatur.

    »John Donne«, tippte er.

    Die russische Ex-Balletttänzerin klatschte in die Hände:

    »Fernando Pessoa.«

    Da lag sie völlig falsch. In den zwanzig Jahren, die ich dieses Spiel kannte, duldete Castilhos aus dem portugiesischen Sprachraum nur Camões. Und gelegentlich, zur allgemeinen Überraschung, Florbela Espanca: »Vom Leben immerzu dasselbe sonderbare Übel, und das Herz dieselbe offne Wunde!« Jetzt warteten alle gespannt und sahen zu mir herüber. Das war so entscheidend wie eine Aufnahmeprüfung.

    Ich ging aufs Ganze:

    »Shakespeare.«

    Castilhos bestätigte:

    »As you like it. Vierter Akt, erste Szene.«

    Die anderen beiden applaudierten, ich bedankte mich mit einem Nicken. Dann bat ich die Blondine um Erlaubnis und griff zum Telefonhörer. Bevor ich die Nummer wählen konnte, streckte sie ihre mit zahllosen Ringen und langen, dunkelroten Fingernägeln verzierte Hand über den Tisch.

    »Angenehm«, sagte sie, ohne den geringsten russischen Akzent. Ganz im Gegenteil, ihre Vokale klangen ein bisschen nach Bahia. »Ich bin Teresinha O’Connor.«

    »Teresinha wie?«

    »O’Connor«, artikulierte sie lupenrein. »Irischer Abstammung, weißt du. Ich bin die Klatschreporterin. Sagst du mir Bescheid, wenn du eine Meldung für mich hast? Leute, die mit Kunst zu tun haben, kriegen immer was mit.«

    »Wird gemacht«, versprach ich. Und begann, die Nummer zu wählen.

    3

    Aus dem Hintergrund drang höllisches Geschrei. Mord und Totschlag, Stierkampf, Kinderfest oder Vergewaltigung. It’s only rock and roll, dachte ich, wahrscheinlich proben sie gerade. Wir brüllten uns an, ohne irgendwas zu verstehen. Dann hörte ich ein dumpfes Geräusch wie das Zuschlagen einer Tür, das Geschrei klang jetzt gedämpft, und am Telefon die Stimme:

    »Mit wem willst du sprechen?«

    »Mit Vanessa«, sagte ich.

    »Welche Vanessa, Redgrave oder Bell?«

    »Irgendeine.«

    »Hier gibt’s keine Vanessa, Herzchen. Versuch’s mal mit Jane.«

    Ich erwiderte:

    »Welche Jane, Fonda oder Bowles?«

    Ihre Verblüffung war übertrieben. Sie kam aus Rio de Janeiro, das erkannte ich an den Zischlauten und dem in der Kehle gerollten R. Und sie hatte ihren Spaß:

    »Sagtest du Bowles, Jane Bowles? Kenn ich nicht.«

    »Hör zu«, sagte ich. »Wenn du es darauf anlegst, können wir das stundenlang weiter treiben. Ich kann auch nach Marianne Faithfull fragen oder Moore, nach Charlotte Brontë oder Rampling. Ungeheuer kulturell und so. Aber zufällig bin ich im Dienst, Süße.« Die Süße gehörte eigentlich nicht zu meinem Repertoire, aber ich dachte, es könnte helfen. Dann meinte ich etwas förmlicher: »Mit wem spreche ich denn?«

    »Mit Patricia.«

    Neal oder Highsmith, hätte ich beinahe gefragt. Das war ansteckend.

    »Genau mit dir wollte ich sprechen.«

    »Dann leg los, mein Engel.«

    Während ich erklärte, dass ich einen Artikel über die Gruppe schreiben musste und so – ich fand es besser, die Gruppe zu sagen, ich war noch nicht so weit, öffentlich so was wie Márcia Fellatio und die

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