Welt vor Augen: Reisen und Menschen
By Manuel Gasser and Golo Mann
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»Ich könnte mir Leser vorstellen, die schon in ihren nächsten Ferien sich aufmachten, um einen Teil von Manuel Gassers zivilisierter Odyssee nachzuvollziehen; Syrakus oder Salisbury, Ägina oder Urbino. Freilich müssten sie bedenken, dass zu solchen Abenteuern des Auges und der Seele zwei gehören im glücklichen Zusammentreffen: Reise und Reisender.« (Golo Mann in Die Weltwoche)
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Book preview
Welt vor Augen - Manuel Gasser
Ü B E R D I E S E S B U C H
»Welt vor Augen« ist eine Essay-Sammlung besonderer Art. Der Band bedeutet die Wiederentdeckung eines Prosa-Schriftstellers, dessen Arbeiten das Understatement der Tagesschriftstellerei benützten. Manuel Gasser, Mitbegründer der Weltwoche und Chefredakteur der internationalen Kulturzeitschrift du, Homme de lettres, der vom Auge aus schreibt, gestaltet seine Begegnungen mit Städten, Ländern und berühmten Zeitgenossen zu einem erregenden Lese-Abenteuer. Indem Hugo Loetscher jeden Aufsatz knapp kommentiert und die Sammlung als Komposition vorlegt, präsentiert sich »Welt vor Augen« als Porträt eines Prosaschriftstellers nach dessen eigenen Schriften wie auch als eine Art Roman aus Aufsätzen eines Zeitgenossen.
»Ich könnte mir Leser vorstellen, die schon in ihren nächsten Ferien sich aufmachten, um einen Teil von Manuel Gassers zivilisierter Odyssee nachzuvollziehen; Syrakus oder Salisbury, Ägina oder Urbino. Freilich müssten sie bedenken, dass zu solchen Abenteuern des Auges und der Seele zwei gehören im glücklichen Zusammentreffen: Reise und Reisender.« (Golo Mann)
D E R A U T O R
Manuel Gasser wurde 1909 in Luzern geboren. 1930 ging der Journalist als Frankreich-Korrespondent für das Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung nach Paris. Im November 1933 erschien die erste Nummer der von ihm gemeinsam mit Karl von Schumacher begründeten Weltwoche. Von 1933 bis 1957, unterbrochen von Korrespondententätigkeiten in Berlin und London, war Gasser deren Feuilletonredakteur. 1958 wurde er Chefredakteur der Kulturzeitschrift du und blieb dort bis 1974. Manuel Gasser starb 1979 in Zürich.
M A N U E L G A S S E R
W E L T V O R A U G E N
R E I S E N U N D M E N S C H E N
Vorgestellt von Hugo Loetscher
Mit einem Nachwort von Golo Mann
Edition diá
Porträt Manuel Gassers von Marino Marini, 1945
I N H A L T
Hugo Loetscher: Vorwort
I. D E R P A R A D I E S S U C H E R
Aufenthalt in Monemvasia
Segelschiff im Mittelmeer
II. D I E Z A U B E R G Ä R T E N
Die gute Stunde
Die Päonie
In Holland festgestellt [Bruchstück]
Der Zauberer von Orgeval
Unterm Doppeladler
III. V E R U R T E I L T Z U R E I S E N
Kunst an Ort und Stelle
Herbstfahrt zu Pacher
Wanderungen auf Kreta
Staunen in Apulien
Bei Joan Miró
IV. D A S S C H Ö N E U N D D A S A N D E R E
Ansicht der Stadt Salisbury
Schönheit einer als hässlich verschrienen Stadt
Die andere Möglichkeit
Besuch bei Henry Moore
Die Barackenstadt
V. D I E S P I E L V E R D E R B E R
Im Schutze der Maginotlinie …
»Stadt und Festung Belgrad …«
Brief nach Neuseeland
Land der Kapellen
Acht Tage im unbesetzten Frankreich
Sprung über die Grenze
VI. D A S B Ö S E M Ä R C H E N
Berlin Alexanderplatz 1947
Ruinenkoller
Kleine Berlinerfreuden
Augenschein in Trier
Das Wirtshaus im Spessart
VII. R Ü C K K E H R,
O H N E W E G G E G A N G E N Z U S E I N
Die zeitlose Geburtstagsparade
Weekend in Oxford
Streifzüge nach Sardinien
Palermo – Porträt einer Stadt
VIII. L I E B H A B E R D E S
A U S S E R O R D E N T L I C H E N
Paris am Donnerstag
Das Lied der Inseln
Nîmes, 28. August 1960
Rom im Winterschlaf
IX. D I E K U N S T D E R N A I V E N A U G E N
Cézanne, einem Kinde erklärt
Urbino – die braune Stadt
Auskunft über den Fotografen August Sander
Beschreibung der Insel Ägina
X. U M S T A U N E N Z U D Ü R F E N
Lob der Camargue
Die Freunde mit dem Denkmal
Syrakus
Golo Mann: Nachwort
Quellen
Impressum
V O R W O R T
Verehrter MG,
dies wäre also meine Auswahl Ihrer Aufsätze.
Ich weiß, es ist nicht die einzige Möglichkeit, Ihre Aufsätze herauszugeben. Man hätte zum Beispiel alle jene zusammenstellen können, in denen Sie von Ihren Begegnungen mit Künstlern und deren Werken berichten. Was für einen stattlichen Band hätten diese Begegnungen gegeben, als Bilanz würdig Ihrem Range als Kunstschriftsteller; da wäre von Braque und Picasso, von Morandi und Giacometti, von Wotruba und Moore, von Marini und Chagall, von Nicholson und vielen anderen die Rede gewesen. Dieser Band hätte gezeigt, dass Sie nicht nur die Wichtigsten zur Kenntnis nahmen, sondern er hätte auch für Ihr Glück gezeugt, den Besten persönlich begegnet zu sein.
Und wie leicht wäre es, diesen Band auszuweiten – in die Vergangenheit hinein, so dass von El Greco und Vermeer die Rede gewesen wäre, vom süddeutschen Barock und der italienischen Renaissance, vom englischen 18. Jahrhundert und den französischen Impressionisten – ja, es wäre eine Sammlung von Aufsätzen zusammengekommen, in der Sie eine Kunst feiern, die immer noch zum Ruhm Europas gehört und deren Wiederbesitz auch eine der Aufgaben meiner Generation ausmacht.
Oder man hätte ganz anders innerhalb Ihrer Aufsätze ordnen können. Wer, der Sie liest, hätte nicht mit Freude einen Band »Italienische Städte« zur Hand genommen. Ihre Städte-Porträts hätten ein Ganzes ergeben: Antelamis Parma und das Urbino der Montefeltro, Turin und Syrakus ebenso wie Palermo und Mailand, selbstverständlich Venedig und natürlich Neapel und immer wieder Rom. Und in Ergänzung: die Streifzüge nach Apulien und durch Sardinien. Ein Italienbuch, das neben anderen bestehen könnte. Und auch diesen Band hätte man ausweiten können. Thematisch liegt Griechenland sehr nah – mit Ihren Aufsätzen über Monemvasia, die Inseln Santorin und Ägina, über Ihre Wanderung auf Kreta. Mit dem zusammen, was Sie über Paestum, über Sizilien und Südfrankreich schrieben, hätte es ein anderes Buch ergeben, für das Sie den Titel mit einem einzelnen Artikel bereits geliefert hätten – »Im Dunstkreis der Antike«. Ja, wenn man dreißig Jahre lang schreibt und fast jede Woche einen Artikel oder mindestens eine Notiz publiziert, kommt Ertrag zusammen, und die Art der Buchpräsentation kann nur eine Auswahl sein; aber wie immer man die Aufsätze ordnet, es wäre nach dem üblichen Vorbild ein Buch geworden, in dem thematische Aufsätze zusammengestellt und mit einem Vorwort präsentiert worden wären.
Das lockte mich nicht. Denn als ich Ihre Aufsätze las, da zeichnete sich ein Gespräch ab, ein Gespräch mit Ihnen über Ihre Aufsätze; ich war beeindruckt, ich strich mir Dinge an, setzte Fragezeichen, und ich fragte mich, ob das Ganze zu einem Dialog mit Aufsätzen werden könnte.
Nun war ich stets neugierig, wie Generationen sich verhalten. Wegen eines Jahrganges vorlaut zu sein, störte mich auch bei Älteren. Nun weiß ich gar nicht genau, ob Sie eigentlich einer bestimmten Generation angehören; ich zweifle, und Ihr Alter schien mir immer eher eine konventionelle Rücksichtnahme in Bezug auf Erdenbürgerschaft. Wenn man sich das intellektuelle Rüstzeug in der Nachkriegszeit geholt hat wie ich, waren Worte wie »Schönheit« und »Verzauberung« aus dem Wortschatz verbannt – wegen zwanzig Jahren, die zwischen uns liegen. Wie leicht wäre es da, als Jahrgänger ein Eiferer zu werden und Entwicklungen auf sein Konto zu buchen, an denen man gar nicht Anteil gehabt hat. Nein, das schiene mir am Ende bloße Rechthaberei, und wichtiger dünkt es mich, dass man sich unter Anerkennung gegeneinander absetzen kann. Bei einem solchen Gespräch darf ich mich nicht als Partner in den Vordergrund schieben – sind es doch Ihre Aufsätze, um die es geht. Also musste eine andere Form gefunden werden. So entschloss ich mich zu einem Porträt von Ihnen, nicht nach der Natur, sondern nach Ihren eigenen Aufsätzen gezeichnet.
Das hatte zur Folge, dass ich nicht nach thematischem Prinzip auswählte; ja, ich versprach mir sogar einen besonderen Reiz davon, das Thema von Aufsatz zu Aufsatz zu wechseln. Des Ferneren ordnete ich die Artikel nicht chronologisch, auch wenn einzelne Kapitel sich der logischen Zeitfolge beugen. Und wenn es mir richtig schien, aus einem Aufsatz einen Abschnitt auszuwählen, tat ich es. Ich wählte die Rolle des Conférenciers, der die einzelnen Nummern ansagt und etwas Ordnung in den Ablauf der Veranstaltung zu bringen hofft.
Diese Aufgabe reizte mich. Denn ich versprach mir davon für den Leser einen zusätzlichen Gewinn. Da stehen ihm einmal Ihre Aufsätze zur Verfügung, wie sie einst verfasst wurden, und durch den Conférencier werden sie in ein bestimmtes Licht gerückt und vielleicht auch belastet. Es ergibt sich daraus nicht eine pure Ansammlung, sondern es kommt ein Ablauf zustande, so dass sich diese Sammlung gleichzeitig wie eine Art Roman aus Aufsätzen ausnimmt. Wenn Sie gestatten, lieber MG, stelle ich Sie als Paradiessucher vor.
Ihr H. L.
Zürich, im Juli 1964
I. D E R P A R A D I E S S U C H E R
Da schreibt MG: Er war in einem Paradies; nur einige Tage, aber immerhin. Wer darf dies behaupten? Es wäre talentloser Unanstand, nicht sogleich allen Paradiessuchern die Anschrift zu verraten, zumal MG die Adresse, schwarz auf weiß, preisgegeben hat.
Aufenthalt in Monemvasia
Was ein Name vermag! Da hatte man in der Schule gelernt, dass der Malvasier-Wein nach seinem Verschiffungsplatz, dem peloponnesischen Hafen Malvoisie oder Monemvasia genannt wurde. Und nun saß ich auf dem Marktplatz von Argos und las dieses Wort an der Stirn eines Postautos – mächtig lockend, obgleich der Guide bleu dem Städtchen nur knapp eine halbe Seite widmet und ihm nicht mehr als ein paar byzantinische Kirchen und Ruinen nachzurühmen weiß.
Was riskierte ich schon? Monemvasia liegt an der Spitze des östlichsten der drei Vorgebirge, welche dem Peloponnes die Form eines gelappten Blattes geben; sein Besuch bedeutete darum zum Mindesten eine Reise durch die ganze Halbinsel. Kurzentschlossen löste ich darum eine Fahrkarte.
Die Uhr schlug zehn, als wir in Tripolis einen kurzen Halt machten, und schon um halb eins waren wir in Sparta. Doch hielt man dort nur ein paar Minuten. Ich erstand einen Laib noch warmen Brotes, und versehen mit dieser spartanischen Wegzehrung ging es südlich, dem Lauf des Eurotas entlang, das Taygetosgebirge zur Rechten.
Der Wagen brauste auf einer schnurgeraden Straße dahin; wenn das so weiterging, mussten wir am frühen Nachmittag am Ziel sein.
Es kam anders. Bald bogen wir links ab, und von nun an rumpelte das Gefährt, in eine weiße Staubwolke gehüllt, über ein mit Schlaglöchern durchsetztes Sträßchen – auf Eselsrücken wäre man schneller vorwärtsgekommen. Auch hielten wir vier- oder fünfmal, wie mir schien, ganz ohne Grund, in irgendwelchen gottverlassenen Dörfern, wo es nichts zu sehen gab und man für Geld und gute Worte allenfalls ein Glas Zitronenlimonade oder ein fingerhutgroßes Schälchen Kaffee erhielt. So vertrödelte man den Nachmittag, das Abendlicht feierte seine Triumphe, der Autobus wurde leerer bei jedem Halt, niemand stieg zu, niemand schien Grund oder Lust zu haben, nach Monemvasia zu fahren, und als wir mit der Dämmerung endlich das Meer erreichten, war ich als einziger Fahrgast übrig geblieben.
Dann, plötzlich, bot sich ein Anblick, der für die Unbill der Reise entschädigte: Weit draußen in der schwankenden schwarzblauen Flut ragte ein ungeheurer Felsblock, fast senkrecht aufsteigend und oben abgeplattet, mit dem Festland durch einen langen, schmalen Damm verbunden. Kein Zweifel, ich hatte mein Ziel erreicht, Monemvasia, die »Einwegige« – wenn auch kein Licht die Anwesenheit einer Stadt verriet. Doch wurde meine Geduld auf eine letzte Probe gestellt; denn in dem Dorf am landseitigen Dammende – es trägt den Namen Gephyra = Brücke – wurde noch einmal haltgemacht. Erst als es völlig Nacht geworden war, rumpelte der Wagen über Brücke und Damm dem Felsen entgegen, bog nach rechts ab und hielt schließlich vor einer zinnenbewehrten Stadtmauer.
Verzauberung
Bis zu dieser Mauer war der Ausflug nach Monemvasia einer beliebigen Episode gleichgekommen; jetzt und hier hingegen begann ein Zustand, der aus Märchen wohlbekannt ist und mit Verzauberung bezeichnet wird. Er sollte erst damit enden, dass mich das Kursschiff nach dem Piräus entführte.
In der Mauer öffnete sich ein Tor. Es war nicht höher und breiter als eine Haustür und führte in einen gewölbten und gewundenen Gang, aus dem man durch ein zweites, inneres Tor die Stadt betrat.
Ich gelangte in eine enge, völlig dunkle Gasse, auf deren holperiges Pflaster ganz hinten ein fahler Lichtschein fiel. Dem strebte ich zu und fand ein Kaffeehaus, einen großen und hohen Saal, dessen Wände von oben bis unten mit schwarzgerahmten Bildern bedeckt waren. Die sechs Personen, die sich in dem Raum befanden, saßen nicht an Tischen, sondern mit dem Rücken gegen die Bilderwände, was den Eindruck einer sehr förmlichen gesellschaftlichen Zusammenkunft aus vergangener Zeit machte. Es waren zwei alte Männer in Schwarz, drei Frauen, eine ältere und zwei junge, sowie ein blonder Knabe von vierzehn oder fünfzehn Jahren.
Ich stellte mein Gepäck in eine Ecke und setzte mich an einen Tisch. Eine Weile geschah nichts; dann erhob sich eine der beiden jüngeren Frauenspersonen und entnahm einem Blumenglase eine rote und eine weiße Nelke, die sie mir mit ein paar Begrüßungsworten fast feierlich überreichte. Ich bedeutete ihr, dass ich hungrig sei, worauf die Wirtin hinter einem als Küche dienenden Holzverschlag verschwand und mit Pfannen und Tiegeln zu hantieren anfing.
Eine Weile hörte man nichts als das Klappern der Geschirre und das Sausen der Azetylenlampe, welche den Saal notdürftig erleuchtete. Dann wurde aufgetragen: Brot und Wein, ein kurzer, feister, auf dem Rost gebratener Fisch, Gurkensalat, Ziegenkäse und eingemachte Weichselkirschen.
Als ich beim Kaffee angelangt war, erschien, durch den Knaben herbeigeholt, eine winzig kleine, wohl über achtzigjährige Dame, ganz in Schwarz, mit einem klugen, freundlichen Vogelgesicht. Da sie fließend und fehlerlos Französisch spricht, versieht sie in Monemvasia die Rolle einer Dolmetscherin und Fremdenbetreuerin. Sie setzte sich an meinen Tisch, fragte nach dem Woher und Wohin, übersetzte meine Auskünfte für die andern Anwesenden auch gleich ins Griechische und eröffnete auf meine Frage nach einem Hotel, dass es ein solches in der Stadt zwar nicht gebe, doch habe man ein leerstehendes Haus als Herberge eingerichtet. Dieses werde mir für eine bestimmte Summe – sie nannte einen lächerlich geringen Preis – gerne und beliebig lange überlassen. Wenn ich mich zurückziehen wolle, brauche ich es nur zu sagen, alles Nötige sei bereits vorgekehrt.
Nach einer Weile erschien eine Frau, die zwei brennende Petrollampen und einen großen Schlüssel trug. Sie übergab mir eine der Leuchten und bedeutete, ihr zu folgen. Wir gingen eine krumme, von keinem Licht erhellte Gasse entlang, kamen an einer weißgetünchten Kuppelkirche vorbei, durchschritten einen gewölbten Gang und gelangten schließlich vor ein grüngestrichenes Hoftor. Der Schlüssel drehte sich kreischend im Schloss, und dieses gab einen ummauerten Garten frei, in welchem es süß und betäubend nach Zitronenblüten und Geranienkraut roch.
Durch eine enge Tür und über eine mit ausgetretenen Marmorschwellen belegte Treppe gelangten wir in ein Zimmer, in welchem ein frischbezogenes Bett, ein Tisch, ein Stuhl und ein Waschgestell sowie eine bauchige Amphora als Wasserbehälter standen.
Meine Begleiterin stellte die eine der beiden Laternen auf den Tisch, wünschte gute Nacht und bedeutete mir, das Hoftor hinter ihr zu verriegeln.
So war ich nun unversehens Herr über Haus und Garten und hatte als Gefährten nur den gelben Schein der Ölflamme, den Ruf des Käuzchens und den gleichmäßigen Schlag der Wellen. Denn mein Haus stand auf einem Felsbuckel, der fast senkrecht gegen das Meer abfiel.
Als ich am andern Morgen mit dem ersten Strahl erwachte und ans Fenster trat, sprang mich die Bläue an wie ein Panther. Der Himmel, das Vorgebirge, die glitzernde Fläche des Meerarms, der Schatten des Hauses – alles blau. Blau vom Flügel der Libelle, Blau von der Leinblume, Blau vom Saphir – alle Arten und Abstufungen von Blau, gesehen durch eine Atmosphäre, klarleuchtend wie ein Block aus Kristall.
Nachdem ich mich an der Bläue gelabt hatte, begann ich mein kleines Reich zu inspizieren.
Das Haus war uralt, aber reinlich, gut gehalten, der Garten klein, von einer hohen Mauer eingehegt und mit blühenden Stauden und Sträuchern buchstäblich angefüllt. Es gab einen mit Früchten und Blüten besteckten Zitronenbaum, zwei Stämmchen Orangen, einen mehr als mannshohen Geranienstock, einen Granatapfelstrauch, allerlei starkduftende Küchen- und Heilkräuter, eine Rebe, die die halbe Mauer mit Blattwerk übersponnen hatte, Jasmin, ein paar Rosenstöcke und, alle überragend, einen Drachenbaum mit regelmäßig ausgespannten, schwarzgrün geschuppten Ästen.
Haus und Garten wirkten aber nicht nur bezaubernd, sondern auch verzaubert. Keine Vogelstimme war zu hören, und über die Mauer drang kein Laut. Stille. Totenstille.
Beklemmung mischte sich in das Glücksgefühl. Ich entriegelte das Hoftor, lief kreuz und quer durch die Gassen, fand, dass die meisten Häuser Ruinen waren, bloße Fronten, hinter deren Türen und Fenstern Nesseln und Disteln auf Schutthaufen wucherten. Und was noch stand, war zum größten Teil verlassen, dem Verfall anheimgegeben – wenn es hoch kam, gab es in der ganzen Stadt dreißig, vierzig bewohnte Häuser.
Keine Kinder in den Gassen, keine jungen Leute, nur ein paar Gewölbe, in denen ein Alter werkelte oder vom Festland herübergebrachte Feldfrüchte, Eier, Hühner feilgeboten wurden. Auf einem Mäuerchen saß in Silberhaar und -bart der Pope, die gichtigen Hände über der Krücke des Hirtenstabes gefaltet, und um ihn herum, Bernsteinrosenkränze mechanisch durch die Finger gleiten lassend, vier Greise.
Beim Frühstück sagte mir die kluge Alte mit dem Vogelgesicht, dass der Felsen, der vor Zeiten vierzigtausend Einwohner gezählt hatte, heute noch hundertfünfzig Seelen beherberge. Lauter Alte. Die Jungen zöge es nach dem Festland, nach Athen. Auch den Knaben von gestern Abend – er arbeite beim Barbier in Gephyra – möchte es wohl nicht mehr lang hier halten. So werde die Unterstadt von Monemvasia bald auch nur ein Name, eine Erinnerung und so tot sein wie die Oberstadt auf dem abgeplatteten Gipfel des Felsens.
So war das also: Ich hatte ein Paradies entdeckt, eine kleine Welt der Stille, des Friedens, der Seelenruhe, aber der Preis dafür waren Verfall der Gemeinschaft, Besitznahme des Menschenwerks durch Pflanze und Tier.
Ein Schatten fiel auf mein Glück. Wäre es nicht richtiger, ehrlicher gewesen, wenn ich an einem lebensträchtigen Platz Ferien gemacht hätte, in einem der nun kräftig aufblühenden griechischen Fremdenorte, wo man zwar Neonlicht und Radiolärm in Kauf zu nehmen, dafür aber auch die Gewissheit hat, mit dem Lebendigen, Zukunftsfrohen Schritt zu halten – statt, wie hier auf dem Felsen, die traumhafte Schönheit eines nahen Endes auszukosten?
Aber diese Zweifel behaupteten sich nur einen Augenblick; dann war das Glücksgefühl wieder da und mächtig. Es sollte drei Tage ohne Einschränkung und Unterbruch dauern.
Aber was besagt das: drei Tage? Rückblickend erscheint mir die auf dem Felsen verbrachte Zeit nicht wie die kurze Episode einer Griechenlandreise, sondern lang wie ein Lebensabschnitt. Dabei flogen die Stunden so schnell, dass ich die paar mitgebrachten Bücher gar nicht erst auspackte. Und als ich mich einmal vor das blaue Fenster setzte, um einen lange geschuldeten Brief zu schreiben, tat ich es mit der Ungeduld eines Schuljungen, der hastig seine Aufgabe erledigt, um ja schnell auf die Gasse, zum ungern unterbrochenen Spiel zurückzukehren.
Auch mit Baden und An-der-Sonne-Liegen verlor ich keine Zeit. Denn für Strandfreuden ist der meerumspülte Felsen nicht geschaffen; messerscharfe Gesteinsbrocken verwehren allenthalben den Einstieg ins Wasser, und ich brauchte eine gute Stunde, bis ich eine Stelle fand, wo man, mühsam genug, die Flut erreichte. So wurde das tägliche Bad zu einem Akrobatenstück, das man mehr als Pflicht denn als Vergnügen hinter sich brachte.
Was ich dann den lieben langen Tag getrieben habe?
Ich weiß es nicht, weiß nur, dass mich allein schon die gekalkte, von Rissen und Unebenheiten durchsetzte Mauer des Nachbarhauses eine Viertelstunde und mehr verweilen ließ, sooft mich der Weg an ihr vorüberführte. Aus ihren Ritzen und Spalten wuchsen die sternförmigen Büschel eines Krautes, das herzförmige, samtmatte Blättchen und rahmweiße Blüten trieb. Als sollten der zarten Abstufung vom bläulichen Weiß der Tünche zum gelblichen der Blütenstände noch andere Schattierungen derselben Farbe hinzugefügt werden, zeigten auch die Blätter, als hätte man sie in Kalkmilch getaucht, ein weißliches Grün; und an den Mauerblumen saßen Schmetterlinge, deren auf- und zuklappende Flügel ein feines schwarzes Liniengespinst wiederum auf reinweißem Grund aufwiesen. Manchmal kam auch ein brauner mit einem himmelblauen Band.
Oft habe ich mir die Frage gestellt, wodurch sich Griechenland von andern Mittelmeerküsten unterscheide?
Wohl dadurch, dass hier das Simpelste und Gewöhnlichste, ein im steinigen Acker sein Blätterdach spreitender Feigenbaum, ein schlichtes weißes Haus mit grünen Fensterläden, eine mit milchgrünen Blattbüscheln gestirnte Mauer – dass Dinge, die es anderswo auch gibt, hier, verwandelt, geadelt durch ein Licht ohnegleichen, so kostbar-schön erscheinen, dass sie Auge und Geist wie ein Wunder zu fesseln vermögen.
Am späten Nachmittag stieg ich jeweils zur Oberstadt hinauf. Ein gepflasterter, mit Mauern abgeschirmter Reitweg führte im Zickzack zu einem burgartigen Tor, hinter dem sich das abgeplattete Felshaupt mit dem Ruinenfeld dehnte. War die Stadt durchquert, so gelangte man an eine Stelle, wo der Berg an die zweihundert Klafter tief senkrecht gegen das Meer abfällt. Hinter dem weißen Brandungssaum zeigt ein hellgrünes Wasserband den Sockel des Felsens an; daran stößt unvermittelt tiefstes Blau, das, aus solcher Höhe gesehen, starr wie Glasfluss erscheint.
Seevögel bevölkern die unteren Regionen. Sie werfen sich ausschwärmend in den Wind, durchflecken wie winzige Papierschnitzel die grüne und blaue Tiefe, um dann, heftig flügelnd, zu ihren Felsennestern zurückzukehren.
Dies der Blick in die Tiefe. Der Nahsicht bot sich eine Ruinenstadt – mit dem Lineal gezogene Gassen aus Hausstümpfen, Pompeji nicht unähnlich, doch nicht trostlos nackt, sondern durchwachsen, überwuchert von Gras, Gestrüpp und gelbblühenden Stauden, überschwirrt von Vögeln, fliegenden Heuschrecken, Faltern, durchwimmelt von kleinem Getier, Eidechsen, Blindschleichen, Käfern, Ameisen.
Pflanze und Tier scheinen sich vorgenommen zu haben, das, was die Eroberer übrig ließen, dem Erdboden gleichzumachen. Da fällt ein Samenkorn auf einen Mauerrest, dringt ein Würzelchen mit sanfter Gewalt zwischen Mörtel und Quader, dort wühlt eine Maus ihren Gang in die Grundfeste eines Kirchenrests, und schon wieder hat die Stadt um ein Geringes ab-, die Wildnis um das Gleiche zugenommen. So schreitet das Zerstörungswerk fort, langsam, fast unmerklich, aber unaufhaltsam. Wer die Oberstadt von Monemvasia vor zehn oder zwanzig Jahren besuchte, wird, wiederkehrend, kaum eine Veränderung feststellen; doch braucht man nur ein wenig zu verweilen, um den mählichen Verfall mit Augen zu sehen; denn jedes Partikelchen, das die Ameisen aus einem Ruinenhaus schleppen, ist ein rinnendes Sandkorn im Stundenglas der Zeit. Und eines Tages, in fünfhundert oder in tausend Jahren, wird von der stolzen Stadt auch nicht ein Atom mehr bestehen.
Ein anderer Platz, der mich jeden Tag von neuem anzog, war das steinige Gelände, das sich gleich hinter dem Stadttor zwischen Felswand und Meer schiebt. Wie schnell war da ein halber Tag vertan! Denn da standen Distelstauden zu Hunderten wie gewaltige Kandelaber aus grünspanüberzogener Bronze. Die stachligen Leuchter trugen an Stelle von Flammen handtellergroße, hellweinrote Blüten, über denen Schmetterlinge in buntglitzernden Wölkchen wirbelten.
Diese Blütenteller dienten Insekten als Weideplatz – Käfern, die im üppigen Samt krabbelten. Der Arten waren so viele, dass das Gehen von Blüte zu Blüte spannend, überraschend war. Ein stark gebuckelter, goldgrün glänzender zwar fehlte fast nie, und auch ein schwarzer, dessen gerillte Flügeldecken violett schillerten, war beinahe immer vorhanden. Aber dann gab es platte, von der Form eines Wappenschildes, die eine zierliche Zeichnung in Braun und Weiß aufwiesen, smaragdgrüne, purpurrote. Zu den Käfern gesellten sich Fliegen mit schmalen, nachtblauen Flügeln und gedrungene, mit metallisch glänzenden Panzern. So glich jede Distelblüte einem Liliput-Tiergarten, der sich dem neugierigen Gulliver auf Augenhöhe darbot.
Und dann die Falken. Es wimmelte von ihnen auf Monemvasia. Zu den Jagdstunden, am frühen Vormittag und gegen Sonnenuntergang, durchpfeilen sie zu Dutzenden den Azur, verharren von Zeit zu Zeit rüttelnd an Ort, um dann ihr unvergleichliches Gleiten und Kreisen wieder aufzunehmen. Manchmal stößt einer im Sturzflug herab; aber nur ganz selten schwingt er sich mit einer Beute im Schnabel wieder auf. Wovon sie leben, wie sie es anstellen, auf diesem kahlen Felsen den Treibstoff für ihre so kunstvollen wie ausdauernden Flugspiele zu finden? Rätselhafter Haushalt der