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DSA 134: Tagrichter: Das Schwarze Auge Roman Nr. 134
DSA 134: Tagrichter: Das Schwarze Auge Roman Nr. 134
DSA 134: Tagrichter: Das Schwarze Auge Roman Nr. 134
Ebook400 pages5 hours

DSA 134: Tagrichter: Das Schwarze Auge Roman Nr. 134

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About this ebook

Elenvina und die Wehrhalle des Praios. Für viele Pilger ist diese Stadt und ihr berühmter Praios-Tempel Ziel ihrer langen Reise. Adara sieht nicht ein, dass sie sich als Phex-Geweihte bei Stadt und Kirche anmelden soll und gibt sich und ihre Begleiter als Pilger aus. Aber bevor sie Gastrecht als Pilger beanspruchen können, erkennt sie ein alter Feind und Ritter des Ordens vom Bannstrahl Praios', und der Inquisitor Praiodan hat einen kleinen Auftrag, den in dieser praiosgefälligen Stadt nur Phexensjünger erfüllen können.
LanguageDeutsch
Release dateJun 21, 2012
ISBN9783868898156
DSA 134: Tagrichter: Das Schwarze Auge Roman Nr. 134

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    DSA 134 - Dorothea Bergermann

    Biografie

    Dorothea Bergermann stammt aus Niedersachsen, wuchs in Bayern auf und beschloss in Thüringen ihre Schulkarriere mit dem Abitur. Danach studierte sie Japanologie, Geschichte und Ur- und Frühgeschichte, verbrachte ein Jahr in Japan und lebt jetzt mit Mann, Kind, Katzen und Bibliothek in der Nähe von Nürnberg. Neben der Schriftstellerei beschäftigt sie sich intensiv mit der Herstellung und Verzierung von Textilien.

    Titel

    Dorothea Bergermann

    Tagrichter

    Ein Roman in der Welt von

    Das Schwarze Auge©

    Originalausgabe

    Impressum

    Ulisses Spiele

    Band 11070PDF

    Titelbild: Anna Steinbauer

    Aventurienkarte: Ralph Hlawatsch

    Lektorat: Catherine Beck

    Buchgestaltung: Ralf Berszuck

    E-Book-Gestaltung: Michael Mingers

    Copyright ©2012 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.

    DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN und DERE sind eingetragene Marken.

    Alle Rechte von Ulisses Spiele GmbH vorbehalten.

    Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

    Buch-ISBN 978-3-89064-126-3

    E-Book-ISBN 978-3-86889-815-6

    Kapitel 1

    »Euer Begehr?«, fragte der Gardist gelangweilt.

    Hinter ihm überspannte ein wuchtiger Torturm aus dunkelgrauem Granit die Straße. Rechts und links der Toranlage erstreckte sich die ebenso dunkle Stadtmauer und sog das Grün der frühsommerlichen Landschaft in sich hinein. Die Hauptstadt der Nordmarken verfügte über eine mächtige Wehr, aber bewacht wurde sie von Menschen.

    Die Augen des elenviner Wachmanns flogen über Adaras abgetragene Gesellenkluft. Pilgerabzeichen aus gelb angemaltem Holz baumelten von ihrem Hals. Billigeres stand einem Pilger auf seinem heiligen Weg nicht zur Verfügung. Straßenstaub, mangelndes Gepäck und eine großzügige Portion Matsch von Straßenrändern und dem Großen Fluss persönlich rundeten das Bild ab. Adara, Faisal und Ragnar gaben die klassische mittellose Pilgergruppe, die tagsüber in der Wehrhalle ihre Sünden beichtete und abends ebenso fromm den Geweihten der Travia auf der Tasche lag.

    Adara beabsichtigte nicht, sich in diese ach so praiosgefällige Stadt einzukaufen. Die angemessene Summe für eine Phex-Geweihte, ihren Novizen und einen – Praios möge uns schützen! – Schwarzmagier aus Fasar wollte sie nicht bezahlen, und ihr war nicht danach, jeden ungelenken Schnüffler der Stadt abzuschütteln, bevor sie den Phex-Tempel aufsuchte.

    Nach einem kurzen Blick auf die schäbige Gruppe gab der Wachmann jede Hoffnung auf ein Handgeld auf und warf einen verlangenden Blick zur untergehenden Sonne. Anfang Rahja ließ sich Praios’ Angesicht viel Zeit, bis es Phexens Sternen ihren nächtlichen Platz einräumte. Der Wachwechsel würde noch etwas auf sich warten lassen.

    Adara verbeugte sich unterwürfig und zupfte an ihrer Weste. Unter ihren Fingern lösten sich Staub und ein paar sorgfältig vorbereitete Fäden. Gemächlich schwebten die Fasern durch die heiße Luft und verschwanden im Straßenstaub.

    »Wir sind hier, um dem Herrn Praios unsere Aufwartung zu machen«, nuschelte sie mit windhagischem Akzent. »Die heiligen Orte zu besuchen und um …«

    »Jaja, schon gut«, unterbrach sie der Gardist. »In der Stadt ist Nichtbürgern das Tragen von Waffen verboten«, belehrte er sie gelangweilt.

    Adara umklammerte ihren Stab und starrte ihn entsetzt an. Einem Gesellen war sein Wanderstab heilig. »Aber Euer Ehren …«, begann sie.

    Der Gardist winkte ab. »Das ist keine Waffe«, erklärte er Adaras hinterwäldlerischem Aussehen großzügig. »Also benutze Sie sie nicht. Genauso verboten ist Zauberei in jeder Form, Praios möge uns beistehen und Ordnung schaffen, was von der heiligen Inquisition überwacht wird.« Er schlug den Sonnenkreis vor seiner Brust.

    Hinter Adara hustete Ragnar. Es sollte wohl einen Lachanfall vertuschen. Faisal hörte mit steinerner Miene zu.

    Unbeirrt fuhr der Wachmann fort: »Pilger haben sich binnen eines Tages in der Wehrhalle vorzustellen – geradeaus die Straße hinunter und am Herzogenplatz gen Rahja wenden – und ein echtes Pilgerabzeichen zu erwerben, das ihnen Aufenthaltsrecht für einen Mond gewährt.« Er warf einen abfälligen Blick auf das armselige Holzamulett, das um Adaras Hals hing. »Name?«

    »Alrike aus Ackerwindenhof, Ragnar Björnesson und Faisal Ahmedsson.« Sie verfälschte Faisals tulamidischen Namen so thorwalisch, wie sie nur konnte. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die Mundwinkel ihres Partners zuckten. Als der Gardist ihn ansah, verbeugte er sich linkisch, Ragnar folgte seinem Beispiel.

    Der Wachmann sprach die Namen, die sie genannt hatte, sorgfältig nach und winkte sie durch das Tor. »Pilger haben sich sofort in der Wehrhalle vorzustellen«, wiederholte er. »Sie halten sich besser daran.«

    Mit einer letzten Verbeugung führte Adara ihre Gruppe in die graue Stadt. »Willkommen in Elenvina«, murmelte sie, als die ehrwürdigen Häuser der Kaiserallee sie mit kühlem Zwielicht begrüßten. »Es herrsche der Herr Praios, Sein Licht vertreibe mit seiner Helligkeit die Nebel, und Seine Ordnung sei die höchste Wahrheit des Lebens.«

    »Du wolltest ja unbedingt als erbärmlicher Bettelpilger auftreten, feurige Flamme«, erwiderte Faisal. »Wir hätten diesen hinterwäldlerischen Ort auch in einer ehrenhaft von zwei Pferden gezogenen Kutsche aufsuchen können. Das hätte uns zumindest diese verächtliche Ansprache erspart, als ob wir Diener wären, von denen man in der dritten Person spricht. Ganz abgesehen davon, dass, der Herr Praios möge uns schützen«, seine Stimme troff vor Sarkasmus, »die von der verwerflichen Mada mit der Kraft geschlagenen Ungeheuer vor Ausübung ihrer Fähigkeiten erst durch die vollkommene Inquisition katechisiert werden müssen, bevor sie ihr Verbot erhalten!«

    Adara wandte sich zu ihm um. Faisal wusste es besser als der Gardist am Stadttor. »Dispens bekommst du von der Akademie«, erwiderte sie.

    »Ja, weil die höchst zuverlässige Leitung dieser weißmagischen Klitsche zu wenig göttergesegnetes Rückgrat besitzt, um ihre verbrieften Rechte gegen die Praios-Geweihten durchzusetzen!«

    »Soll ich dir einen schreiben?«, erkundigte sie sich beißend. »Wessen Unterschrift soll draufstehen? Die von Aureolus Hemger?«

    Faisal holte erbost Luft, dann blickte er die farblose Straße hinunter und schluckte seine Erwiderung. In einem der wuchtigen Granitgebäude hing ein Weißmagier aus dem Erdgeschossfenster und diskutierte mit einem Kollegen in Reisekleidung. Er gestikulierte erregt gen Norden.

    »… sich nicht mehr ohne aggressiv-defensive Speichermatrizen in Kristall oder Stab ante Portas zu begeben! In Waldweiler! Zwei Scharlatane, von denen Generalis und ex examinationis Academiae bekannt ist, dass ihre Kunst nur in Feuerwerk, Rauch und Irreführung zu finden ist, wurden von den Geißlern als Schwarzmagier verbrannt! Und in Rodenbach hat ein Lynchmob Meinwerk nur deshalb nicht erwischt, weil Elwene ihm im Austausch gegen ein Ergebnis seiner obskuren Experimente einen Speicher mit Armatrutz kreiert hatte. Minissimum ante visitierte ein Prediger der Geißler die Ortschaft …«

    Faisal hob bedächtig eine Augenbraue. »Ich werde meine Stabzauber ergänzen«, merkte er gemessen an. »Mit frommen Gebeten um Verstand für verblendete Bannstrahler. Wenn es dir recht ist, prachtvoller Sonnenuntergang, dann würde ich Signatur und Siegel des Heliodan bevorzugen. Nicht, dass du, o Trägerin einer unverkennbaren Handschrift, diese je nachahmen könntest.«

    »Versuche, dich an legale Sprüche zu halten«, schlug Adara vor. »Was meine Schrift angeht, so ist sie zumindest lesbar!«

    Weit vor ihnen ertönte ein dumpfer Knall. Dort, wo die Stadtmauer den Fluss berühren musste, rollte dicker blaugrauer Rauch in den rosafarbenen Abendhimmel. Winzige gelbe Funken blitzten in der dunklen Wolke. Die zwei Magi starrten auf die Rauchwolke.

    »Wollte Meinwerk heute nicht …«, begann der auf dem Fensterbrett Lehnende und richtete sich auf.

    Der andere Magus war bleich wie die Wand. »Das Pentagramma-Artefakt!«, keuchte er. »Der Prodekan hat ihm nahegelegt, seine Experimente außerhalb der Stadt durchzuführen!« Mit gerafften Roben rannte er auf das nächste Stadttor zu. Über die Schulter rief er: »Er hat sich bei Korina Bächerle eingekauft!«

    Sein Kollege warf das Fenster zu und keuchte kurz darauf mit flatterndem Rock die Straße hinunter; der Stab, den er unter den Arm geklemmt trug, wackelte wie ein Dackelschwanz.

    Adara lauschte angestrengt, aber sie hörte weder das dumpfe Rollen auseinanderfallender Steine noch Alarmglocken oder Hornsignale von den Wachtürmen. Ragnar machte Anstalten, den Magi zu folgen. Sie winkte ab. »Bleib hier. Wir werden nicht gebraucht.«

    »Aber …«, wandte der Novize ein.

    Kopfschüttelnd deutete Adara auf die graue Wolke, die im Abendrot zerfaserte. »Es läuten keine Feuerglocken. Ein Alchemist, der sich nicht mit Explosionen auskennt, lebt nicht lange. Was auch immer da hochgegangen ist, die Stadt ist nicht in Gefahr.« Sie nickte den zwei Magiern hinterher. »Es gibt offensichtlich genug Leute, die sich um das Laboratorium kümmern. Wir haben eine Verabredung im Praios-Tempel.«

    Der warme Abendwind frischte auf. Eine Böe fuhr die Promenade entlang und trug einen Schwall nach Schwefel stinkender Luft zu ihnen. Faisal schnaubte und wedelte mit der Hand vor seiner Nase herum, um den Geruch nach faulen Eiern zu vertreiben; auf der Straße husteten die Leute und warfen besorgte Blicke in Richtung der zerfasernden Rauchwolke. So schnell, wie er aufgekommen war, verflog der Schwefeldunst wieder.

    Ragnar schnupperte der Wolke hinterher. »So schlimm war das doch gar nicht«, murmelte er erstaunt.

    Adara lachte. »Man merkt, dass du von Stinkmorcheln verwöhnt wurdest.« Der Novize hatte ihr auf dem Weg von Kyndoch geholfen, die übel riechenden Pilze zu sammeln und zu verarbeiten.

    »Nein, das ist es nicht, Mond…«

    Ein scharfer Blick Adaras ließ den Grauling verstummen. Er wusste es besser, als sie auf offener Straße mit einem Titel anzureden. Nach einer kurzen Pause fuhr er in begeistertem Tonfall fort: »Hier kocht jemand Wildgryte!«

    Faisal hob den Kopf. »Fleisch? Ich rieche den Wohlgeruch im frühen Morgengrauen eines strahlenden Tages geernteter Jasminblüten. Das ist ein würdiger Duft meiner Heimat. Wir sollten ihn erwerben. In der Hand unwissender Mittelreicher kann er nur achtlos verschwendet werden.«

    Außer den letzten Resten Schwefel nahm Adara nichts wahr. Prüfend sog sie die Luft ein. Angenehme Gerüche schwebten über ihre Zunge. Rosenblüten, der Braten einer nahegelegenen Garküche, eine Idee des Weihrauchs, den die Praios-Tempel bevorzugten.

    Aber doch, da war etwas. Der Wind wirbelte einige Blätter hoch und trug ihr zu, was sie suchte. Für einen kurzen Moment lag alles, was sie je begehrt hatte, vor ihr: Oma Barents Heimkehrtagsplätzchen, der dezente Geruch des Blauhimmelsterns, vermischt mit Räucherwerk, die sie in trauter Eintracht im Tempel begrüßten. Sie fand weder Ragnars Mittagessen noch Faisals Jasmin, aber die Düfte luden zum hemmungslosen Schwelgen ein.

    Unverhofft wandelte sich die Lieblichkeit. Ein widerliches Monster krallte sich in ihre Nase. Es versengte ihre Schleimhäute und fraß sich mit messerscharfen Klauen in ihren Kopf. Adara schüttelte sich vergeblich. Bei dem aussichtslosen Versuch, es zu vertreiben, stieß sie heftig die Luft aus; das Vieh blieb. Vom Gleichgewicht verlassen taumelte sie gegen eine kalte Hauswand und rang um Atem. Tränen verschleierten ihren Blick.

    Jemand fasste sie am Ellenbogen. Sie drehte ihren Arm zur Seite, aber ihr fehlte die Kraft, sich freizumachen. In dem Nebel aus Schmerzen erschien und verschwamm Faisals Gesicht. Sie unterdrückte ein Würgen. »Das«, keuchte sie, »ist kein Wohlgeruch!«

    Unvermittelt war der beißende Gestank verschwunden. Sie fuhr sich mit der freien Hand über die Augen. Rotorange Sonnenstrahlen verfärbten das graue Straßenpflaster zu einem dunklen Violett. Die Leute um sie herum gafften auf die Reste der Rauchwolke jenseits der Stadtmauer. Ein Jüngling in den Farben der Familie vom Großen Fluss und mit einer weiß-goldenen Armbinde brüllte »Platz, unwürdiges Gesindel«, als er vorbeigaloppierte. Ragnar warf sich außer Reichweite der Vorderhufe des Pferdes, rollte sich auf dem Pflaster ab und kam wieder auf die Beine. In seinen Händen lag sein Kampfstab. Der achtlose Reiter hielt auf die Burg Eilenwid-über-den-Wassern zu und verschwand hinter einem prächtigen Triumphbogen, der weiter im Süden die Straße einengte.

    Faisal wedelte mit der Hand vor Adaras Gesicht herum. Dünne weiße Strähnen liefen durch seine krähenschwarzen Haare. »Geht es wieder?«, fragte er leise. »Von wegen Pentagramma-Artefakt. Ich bin beinahe davon überzeugt, dass es sich eben nicht um diesen besonderen Spruch handelte.«

    Adara spuckte auf den Boden, um den widerlichen Geschmack loszuwerden. »Was passiert, wenn jemand den Bannspruch nach Strich und Faden versaut?«, murmelte sie. Langsam lichtete sich der ekelhafte Dunst, der ihren Kopf füllte. »Aber wir sind in Elenvina. Die geben sich nicht mit dämonologischen Zaubern ab. Zu viel Rechtgläubigkeit.«

    Faisal zog sie auf die Füße. »Du vergisst, dass nach dem Beschluss des Allaventurischen Konvents jede Schule diesen Spruch lehren muss, unabhängig davon, wie unfähig ihre Dozenten sein mögen. Eine gescheiterte Pentagramma-Matrix kollabiert, ohne dass der Zaubernde einen Dämon in die dritte Sphäre ruft.« Er musterte sie eingehend. »Aber dies bedeutet nur, dass die hiesigen ach so gesetzestreuen Weißmagier keinerlei Ahnung von dem haben, was sie in ihrer duckmäuserischen Art angehen, fuchsköpfige Schönheit. Geht es dir wieder besser?«

    »Das mag sein. Trotzdem stimmt hier etwas nicht.« Sie kannte den Geruch und seine Wirkung, aber sie konnte sich nicht erinnern, woher. Es war kein normales Alchemikum, und auch Faisal führte ihren Schwächeanfall nicht auf die Wohlgerüche des Morgenlands zurück, die er wahrgenommen hatte. Gestützt auf seinen elegant angebotenen Arm, schwankte Adara zu Ragnar hinüber. Wütend starrte der Grauling hinter dem Reiter her, hob einen Kiesel auf und warf ihn machtlos in die Richtung, die er eingeschlagen hatte.

    »Langsam, Junge. Du kannst als Bettler nicht erwarten, dass die hohen Herrschaften dir Platz machen.«

    Ragnar fuhr herum. »Der Kerl hat kein Recht …«, fauchte er drauf los.

    Adara mimte eine Ohrfeige, die die Haare des Novizen aufwirbelte. »Der Kerl da«, erwiderte sie betont und mit nordmärkischem Akzent, »ist ein junger Herr und gehört zur Familie des Herzogs. Der junge Herr hat jedes Recht Elenvinas, du Trottel.«

    Einen bedeutenden Teil seines Lebens hatte Ragnar in Kyndoch als Novize eines Händlertempels verbracht. Ihm war nie aufgefallen, wie viel Achtung ihm sein Stand einbrachte.

    Leise fuhr sie fort: »Wer die Gestalt einer Maus annimmt, muss damit rechnen, dass die Katze ihn jagt, Grauling. Was genau hast du gerade gerochen?«

    »Ein schwitzendes Pferd«, murrte Ragnar. Sie starrte ihn an, und er nahm sich zusammen. »Wildgryte. Geschnetzeltes. Vater hat es aus Ren, Elch und Preiselbeeren gekocht …« Er schluckte. »Ich habe es seit Jahren nicht mehr gegessen«, sagte er sehnsüchtig.

    Adara sah Faisal an und hob eine Augenbraue.

    Der Magier zuckte mit den Schultern. »Edelstes Jasminöl. Reiner Weihrauch, würdig, auf jedem Altar geopfert zu werden«, berichtete er leise. »Sicherlich kein schnödes gebratenes Fleisch.«

    »Und bei mir gab es Omas Plätzchen, aber weder Jasmin noch Ragnars Rentiergrütze. Kennst du einen Zauber, der das bewirkt?«

    »Unter Auslassung eines Schelms, der uns auf unnachahmliche Weise auf unsere übergroße Ernsthaftigkeit hinweisen wollte? Nein, edle Blume in der Wüste. Auch der in diesen Landen schnöde ›Weihrauchwolke, Wohlgeruch‹ genannte Spruch gibt nur einen gezielten Eindruck dessen ab, das der Zaubernde in den Nasen seiner Umgebung hervorzurufen wünscht.«

    Ragnar murmelte den Satz nach. »Wir riechen, was wir riechen sollen?«, vergewisserte er sich.

    »Jawohl, junger Bettler in unwürdigen Lumpen, du hast es erfasst. Einen Sinneseindruck ganz nach den inneren Wünschen des Wahrnehmenden – das kann kein mir bekannter Spruch erreichen.«

    Zusammen mit ihrem Schwächeanfall klang das nicht gut. Allerdings war Elenvina eine Stadt, die einen angesehenen Praios-Tempel, die Inquisition und den Orden des Bannstrahls Praios beherbergte. Kaum ein Ort im Mittelreich verfügte über besseren Schutz.

    Die ehrenhaften Bürger auf der Allee wandten sich wieder ihren Verrichtungen zu. Ein paar Halbwüchsige stierten unwillig auf die Ansammlung dreier Bettler, die Adara und ihre Begleiter darstellten, und tuschelten. Einer der Jungen griff in den Blumenkasten hinter sich und warf einen Klumpen Erde auf sie. Adara wich dem Dreck aus, aber da Faisal sie festhielt, traf ein fauler Apfel sie am Rücken.

    »He!«, rief eine Frauenstimme. »Das ist keine Art, mit denen umzugehen, die es im Leben weniger glücklich getroffen haben als du!«

    Eine Bürgersfrau, der zwei Mägde mit Einkaufskörben folgten, verscheuchte die Halbwüchsigen. Als sie Adaras Blick bemerkte, verzog die Frau das Gesicht. »Und ihr habt hier nichts verloren!«, schimpfte sie. »Verzieht euch in die Unterstadt!«

    Die Wehrhalle des Praios’ war so prächtig, wie die enthusiastischen Beschreibungen von Pilgern und Predigern es vermuten ließen. Ein hohes Marmorgewölbe schwebte über langen Säulenreihen, die wiederum von etwas weniger mächtigen Säulen gestützt wurden. Hinter den kleineren Pfeilern lagen die einzelnen Heiligen gewidmeten Seitenkapellen. Statuen schmückten die mit Farbe und Blattgold bemalten Säulen, Wandgemälde erzählten die Lebensgeschichten der jeweiligen Patrone.

    Die ersten Verse des Abendchorals rollten durch den Mittelgang des Tempels, als Adara den Pilgervater neben der Kapelle des Gilborn von Punin ausfindig machte. Ein Meer von Kerzen erleuchtete den Nebenaltar und die Statue des wichtigsten Heiligen der Geißler. Sorgfältige Hände hatten die Steinfigur in die weiß-rot-goldenen Gewänder eines Praios-Geweihten gekleidet und ihm die brennende Sonne des Ordens vom Bannstrahl Praios mitgegeben.

    Als wäre er ein großes Spiegelbild des Heiligen Gilborn, saß der Akoluth, der die Pilgerbücher der Wehrhalle führte, an einem kleinen Tisch. Sein Kopf ruhte auf seinen gefalteten Händen, und er lauschte mit geschlossenen Augen dem Gottesdienst. Vor ihm lagen ein Buch und frische Pilgerabzeichen.

    Adara wollte ihn während der Andacht nicht stören; ganz abgesehen davon gaben sie sich als Pilger aus, die bestimmt keinen Gottesdienst ausließen. Getreu ihrer Rolle gesellten sie sich zu den Gläubigen im Mittelschiff. Sie erntete unwillige Blicke, und die stinkenden Überreste des faulen Apfels auf ihrer Weste verschafften ihr, Ragnar und Faisal etwas Raum.

    In ihrer Arme-Leute-Nische konnte Adara nur wenig von der Predigt verstehen. Die alten Worte zum eigenen Platz im Leben, dem ewigen Recht und der Vermeidung von Magie erreichten sie nur undeutlich. Trotzdem kam ihr die tiefe und autoritäre Stimme des Zelebranten bekannt vor, als er den Chor zum nächsten Gesang führte.

    Praios’ Gegenwart durchdrang das Gebäude und die Menschen darin. Vom ersten Augenblick an fühlte sich Adara in diesem Tempel behütet, und nach der Explosion begrüßte sie den angebotenen Schutz. Aber mit jedem Gebet und Choral zog sich dieser schützende Mantel enger. Sie hatte kein Bedürfnis, zu lange in Praios’ Haus zu verweilen.

    Endlich war der Gottesdienst vorüber. Gefolgt von seinen Andachtshelfern schritt der Zelebrant durch den Mittelgang zu den hohen Doppeltüren im Osten. Die Gläubigen knieten und senkten die Köpfe, als er an ihnen vorüberging. Adara musterte den Praios-Geweihten eingehend. Es war kein Wunder, dass sie seine Stimme kannte; sie waren oft genug über ihrer Arbeit zusammengestoßen. Aureolus Hemger war gesetzestreuer als Praios selbst und besaß eine Vorliebe für Schnellgerichte und überzogen harte Strafen. Deshalb, und wegen seiner Neigung, alle Magiebegabten von vorneherein als so gut wie schuldig anzusehen, hatten er und Adara schon mehrmals die Klingen gekreuzt.

    Vor ihm niederzuknien, auch wenn es zur Liturgie gehörte, eigentlich dem Herrn Praios galt und er sie dabei nicht erkannte, ging ihr gegen den Strich. Abgesehen davon konnte sie sich nicht vorstellen, weshalb der erzkonservative Geißler in Elenvina weilte. Nach den herben Verlusten, die der Orden vom Bannstrahl Praios in der Dritten Dämonenschlacht erlitten hatte, sollte er eher in Gareth oder Wehrheim neue Ordensangehörige anwerben.

    Jedes seiner siebzig Lebensjahre war tief in sein Gesicht eingegraben, und sein Haar war genauso weiß wie sein Ornat. Ihr Blick glitt über die reiche Goldstickerei auf der Robe, vorbei am glänzenden Ordensabzeichen bis hinunter zu seiner rechten Hand, in der er die Nachtkerze hielt. Ein schwerer Siegelring aus rotem Karneol prangte an seinem Ringfinger. Adara runzelte die Stirn. Aureolus war Ritter im Orden des Bannstrahls Praios. Ring und Siegel eines Inquisitors standen ihm nicht zu.

    Sie zögerte zu lange. Faisal zupfte heftig an ihrem Hosenbein. Rund um sie knieten die Gläubigen, und Aureolus sah sie verwirrt an. Adara verbeugte sich förmlich, Geweihte zu Geweihtem, erkannte ihren Fehler, fiel auf die Knie und senkte den Kopf. Um sie herum erhob sich abfälliges Gemurmel. Nach kurzem Zögern zog die Abendprozession an ihnen vorüber; Akoluthen und Novizen schielten neugierig in ihre Richtung und tuschelten miteinander.

    »Was ist mit dir los, Blume des Westens?«, flüsterte Faisal ihr ins Ohr.

    Ihr fehlten die Worte. Der gerade noch so großzügige Tempel schloss sie ein und umfing sie mit erdrückendem Schutz. Sie wischte sich kalten Schweiß von der Stirn. Ihre schmutzige Weste war viel zu eng, und die Überreste des faulen Apfels verpesteten die Luft. Sie brauchte Kühle und ein Bad.

    »Hast du ihn erkannt?«, zischte sie zurück.

    Aureolus stimmte den Abschlusschoral an. Mit gewählten Worten und vielstimmiger Harmonie verabschiedeten er und seine Messdiener die Sonne bis zum nächsten Morgengrauen. Die Strophen hallten gemessen durch das Mittelschiff.

    Faisal grinste ohne Humor. »Ihn erkenne ich überall, Licht des Mondes«, murmelte er auf Tulamidya und legte die Hand auf ihre Stirn. »Du bist eiskalt, funkelnder Edelstein. Ich frage mich, was er hier unternimmt, wo er doch in Auraleth sitzen und unschuldige Hexen hetzen sollte?«

    Sie ignorierte seine blumigen Formulierungen. »Irgendetwas muss er vorhaben. Hoffen wir, dass er mich nicht erkannt hat. Ragnar soll uns die Pässe besorgen, dann gehen wir ins Gasthaus.«

    Der Grauling nickte. Endlich endete das Abendlied, die Gläubigen erhoben sich und verließen die Wehrhalle. Um den Tisch des Pilgervaters versammelten sich die hoffnungsvollen Pilger, die noch ein Abzeichen erwerben mussten. Ragnar stellte sich zu ihnen, aber die besser gekleideten Leute drängten ihn schnell auf seinen Bettlerplatz zurück.

    Adara zog Faisal in die Kapelle des heiligen Gilborn hinein. Sie verbeugte sich vor ihrem Gastgeber, Faisal beäugte ihn zweifelnd. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Der radikale Orden der Praios-Kirche unterschied selten zwischen Magie, die zum Guten eingesetzt wurde, und echter Schadzauberei.

    Sie lehnte sich zu ihrem Partner hinüber und murmelte: »Was meinst …«

    Zwei Praios-Geweihte schritten an der Kapelle vorbei; einer blieb stehen und blickte sie fragend an. Diese Sorte Hilfe konnte Adara jetzt nicht brauchen. Sie kniete sich vor den kleinen Altar, als hätte sie nie etwas anderes vorgehabt. Aber erst als sie das große Sonnengebet begann und Faisal es neben ihr auf dem kühlen Bodenmosaik wiederholte, gingen die beiden Priester weiter.

    »… leuchte über Dere und trage Wahrheit in unser Leben …«, murmelte Adara und lauschte den Schritten. Sobald die Geweihten außer Hörweite waren, fuhr sie an Faisal gewandt fort: »Welche Zauber könnten bei dieser Explosion im Spiel gewesen sein?«

    Er bedachte sie mit einem gequälten Blick. »Sollte ich Artefakte benötigen, so zahle ich einen guten Preis für beste Arbeit. Du bist die Alchemistin, Fuchs mit feuerrotem Haar. Aber es wäre ein erstaunlicher Zauber, der alle Wohlgerüche des Orients mit …« Als drei Akoluthen an ihrer Nische vorbeigingen, brach er ab. Zwei blickten neugierig auf die abgerissenen Gestalten vor dem Nebenaltar und tuschelten miteinander. Vielleicht erinnerten sie sich an den Zwischenfall beim Gottesdienst.

    Adara rezitierte lauter. »Ordnung und Gerechtigkeit sind Eure Gaben. Pflegen will ich dieses Geschenk …«

    Faisal sprach ihr zögerlich nach. Den Akoluthen folgte ein Haufen Novizen, der schnatternd an der kleinen Kapelle vorbeizog.

    »… wissen und halten meinen Platz im Leben.« Diesmal eilte ein Kandidat mit wehenden Roben an ihnen vorüber. »Was ist hier los?«, zischte Adara. »Männleinlaufen auf dem Markt?« Laut fuhr sie fort: »Zufrieden und wahrhaftig will ich denken, sprechen und handeln …« Die Worte liefen ihr nur schwer von der Zunge. Den Schutz, den der Tempel versprach, hatte sie nach dem Zwischenfall auf dem Weg zur Wehrhalle gern angenommen. Mittlerweile lähmte die übertriebene Fürsorge sie, und Praios’ Forderung nach unbedingter Wahrheit schnürte ihr die Kehle zu.

    Sie benutzte den Gebetszyklus, um sich ungestört mit Faisal unterhalten zu können, und dieser Kunstgriff widersprach dem Wunsch des Hausherrn. Adara zwang sich dazu, den Vers fertigzusprechen.

    Ein paar Kinder, zu jung für das Noviziat, rannten die Halle hinunter, verfolgt vom unvermeidlichen Gezeter einer alten Frau. Die lachende Kavalkade sprang unbeeindruckt durch den Tempel und verschwand hinter der Kapelle.

    »Es roch wie im Großen Tempel, schönste aller Frauen – wie zu Hause«, murmelte Faisal in einem ruhigen Moment auf Tulamidya. »Zart, reichhaltig, wertvoll und angemessen.« Sehnsucht färbte seine Stimme weich. »Edler Weihrauch, so fein, wie er selbst im altehrwürdigen Fasar selten zu finden ist. Er wäre eine Zierde für jeden Tempel Phexens …«

    Adara sah ihn scharf an und schüttelte den Kopf. Faisal spottete nicht.

    Noch eine Gruppe Novizen kündigte sich mit Trampeln und Geschrei an. Adara übertönte Faisals Rede mit dem nächsten Gebet im Zyklus. »Wie die Sonne an jedem Tag über den Horizont tritt und Dere erhellt, soll Wahrheit mein Leben erleuchten …« Sie hielt sich nur mit Mühe vom Lallen ab und wischte sich Schweiß von der Oberlippe. Die Kapelle war stickig.

    Wieder kehrte Ruhe ein. »Hast du nichts Dämonisches …«

    Die Götter hatten kein Einsehen. Vier Akoluthen schritten gemessen an ihnen vorbei. Adara setzte das Gebet mühsam fort. »Gehorsam und treu will ich sein gegen meinen Herrn und wahrhaftig zu allen, denen ich Schutz schulde …«

    Endlich verschwand auch diese Gruppe. Adara biss die Zähne zusammen. Ärger lenkte sie von dem Gefühl ab, in wohlmeinender Watte zu ersticken. »Das kann ja wohl nicht sein!«, zischte sie. »Was ist das? Freibier bei der Nachtwache?«

    Faisal verbeugte sich spöttisch vor ihr, stand auf und trat um die Säule, die die Seitenkapelle abgrenzte. Als er zu ihr zurückkehrte, grinste er. »Neben uns befindet sich ein wichtiger Ort«, berichtete er auf Tulamidya. »Reiche Düfte wallen durch einen begehrenswerten Durchgang. Ich nehme an, rothaarige Schönheit, dass es auf der anderen Seite der Tür bald ein köstliches Abendessen gibt.«

    Der erste Schlag des Tempelgongs rollte das Mittelschiff der Wehrhalle entlang. Die Sonne berührte endlich den Horizont, die letzte Stunde des Tages endete, und der Praios-Tempel schloss seine Tore. Sobald Ragnar ihre Pilgerabzeichen erhalten hatte, bestand keine Notwendigkeit mehr, sich in diesem muffigen Gotteshaus aufzuhalten. Adara sprang auf und verbeugte sich noch einmal vor dem heiligen Gilborn.

    »Nichts für ungut«, murmelte sie. »Diese Besprechung war mir wichtiger als ein paar heruntergeleierte Gebete.« Der Satz war so ehrlich, dass er ihr die Tränen in die Augen trieb. Unwillig schüttelte Adara den Kopf und fand einen unauffälligen Platz beim Pilgertisch. An eine Säule gelehnt suchte sie nach Ragnars blondem Schopf. Sie konnte den Grauling nirgends entdecken.

    Die wohlgekleidete Pilgergruppe löste sich vom Tisch und strebte auf das Tor zu. Ragnar schoss aus einer dunklen Ecke nach vorn, verbeugte sich unterwürfig vor dem Akoluthen und redete leise auf ihn ein, bis er drei Messingmedaillen bereitlegte. Dann drehte er sich um und winkte. »Seine Ehren möchten uns alle sehen«, erklärte er im besten Kyndocher Unterstadtakzent.

    Adara trat vor und zwang sich zu einer linkischen Verbeugung. Sie kannte die richtigen Höflichkeitsformen, und sie zu brechen, schien unangemessen. »Hochwürden, Ragnar sagte, Ihr hättet die Abzeichen für uns?«, fragte sie mit dem schwerfälligen windhagischen Zungenschlag. Nicht nur der Dialekt ging ihr schwer von den Lippen; auch der falsche Titel lief nur widerspenstig über ihre Zunge. Dieser absichtliche Versprecher war genauso eine Lüge wie die schlechte Verbeugung.

    Der junge Priester blickte auf. »Akoluthen werden mit Euer Ehren angesprochen«, korrigierte er sie genervt. »Diese Abzeichen sind für euch. Gebt sie den Herbergseltern und …«

    Ein herrisches »Einen Moment!« übertönte ihn. Der Akoluth zuckte überrascht zusammen, Ragnar und Faisal traten zurück in die Schatten. Adara musste sich nicht umdrehen. Aureolus Stimme war unverkennbar.

    Unwillig schüttelte sie den Kopf. Zu jeder anderen Gelegenheit hätte sie einen kurzen und heftigen Streit mit dem Geißler begrüßt. Diesen Abend war er nur ein weiteres Hindernis zwischen ihr und der Freiheit der Straße. Adara atmete tief durch, wischte sich den Schweiß von der Stirn und drehte sich um. Aureolus verfügte über eine Körpergröße, die einem Troll gut angestanden hätte. Ein bisschen Stichelei konnte nicht schaden.

    »Euer Gnaden«, grüßte sie ihn.

    Der grauhaarige Ritter des Ordens vom Bannstrahl Praios war eine mächtige Gestalt, und sein beinahe vollständig mit hochkarätigem Gold bestickter Ornat unterstrich die Wirkung noch. Trotzdem ließ die höfliche Anrede, die sie benutzte, ihn purpurrot anlaufen. »Was!«, bellte er. »Ihr unverschämtes …«

    Aureolus war so leicht zu reizen wie eh und je. Auf einmal genoss Adara die Situation. Sie bohrte nach. »Ihr werdet doch Eure Berufung nicht Eurer Position in einem Laienorden unterordnen?«, fragte sie erstaunt. Mit jedem Wort ging es ihr besser. Sie machte sich keiner Lüge schuldig, und der Geißler reagierte wie ein angestochener Bär.

    »Ihr …« Wütend rang er nach Luft, holte aus und schlug mit der geballten Faust auf den Tisch. Pilgerbuch und Medaillen sprangen hoch und fielen klimpernd auf die Tischplatte. Der Akoluth schob seinen Stuhl zurück, Aureolus nahm die Abzeichen an sich.

    »Ihr! Pilger, dass ich nicht lache!«, brüllte er. »Ihr seid auf keinen Fall hier, um zu beten!«

    »Ich habe meine Heimat mit der festen Absicht verlassen, die Wehrhalle aufzusuchen«, säuselte Adara. Die Provokationen vertrieben den erstickenden Dunst des Beschütztwerdens aus ihren Gedanken. »Vor dem Schrein des heiligen Gilborn von Punin habe ich gekniet und das Sonnenlob …«

    Der Geißler biss an. »Ihr mit Eurem Bauerndialekt! Wagt es nicht, den Namen der Heiligen in den Mund zu nehmen! Ihr

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