Ich fürchte mich jetzt vor gar nichts mehr: Ein literarisches Porträt von Rosa Luxemburg
Von Ingeborg Kaiser
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Ingeborg Kaiser
Lebt als Autorin von Romanen, Gedichten, Hörspielen und Theaterstücken in Basel. Zahlreiche Buchveröffentlichungen.
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Ich fürchte mich jetzt vor gar nichts mehr - Ingeborg Kaiser
Rosa Luxemburg auf dem Balkon ihrer ersten eigenen Wohnung in Berlin-Friedenau, Cranachstraße 58, 1902-1911
Inhaltsverzeichnis
Berlin
Südende
Warschau
Berlin oder so viele Städte
Posen oder sonstwo
Festung Wronke, Provinz Posen
Breslau, Berlin
Ośswięcim
Krakau – Krakow
Zamosc
Zeittafel
Berlin
Ein Windtag im Januar. Die gleichförmigen Wohnklötze in der Dämmerung wie zugeknöpft, gesichtslos – ein gesichtsloser Stadtteil, wo sich das Restaurant des Griechen exotisch hell abhob. Ich ging darauf zu, froh, dem Frostwind zu entkommen und den Abend, der Rosa Luxemburg galt, im südlichen Ambiente erwarten zu können. Vor dem Fenster ein vielarmiger Winterbaum, der den Blick auf die Preußische Hauptkadettenanstalt auf der anderen Straßenseite kaum verwehrte. Eilende Federwolken über ihren Dächern. Eine Stadt hinter Klinkermauern mit breitem Eisentor und Pförtnerloge, davor das verkehrsreiche Straßenband. Die Scheinwerfer wie Katzenaugen, leuchteten auf, verschwanden.
Die ersten tausend Kadetten zogen 1878 in die roten Backsteinbauten hinter Mauern, einen Ort der Zucht bei wechselnden Fahnen und Uniformen. Den Kadetten folgten Gymnasiasten in der Weimarer Republik, später die SS-Garde Hitlers. Im Sommer 1934 ein Ort der Täter. Nach der Ermordung des SA-Führers Röhm fielen auch hier Todesschüsse auf unbequem Gewordene. Einen Weltkrieg später wehte über den »Andrew-Baracks« das Sternenbanner der amerikanischen Befreier.
Heute beherbergen ihre Mauern das Bundesarchiv einschließlich der DDR-Bestände mit dem Nachlass Rosa Luxemburgs, der jüdischen Polin und Revolutionärin, die ermordet, aber nicht stumm gemacht wurde. Noch immer faszinieren die Werke und Briefe der wortmächtigen Politikerin. Ihr Leben war ein zu rasch gespielter Film mit rasenden Szenenwechseln, eine Geschichte der großen Gefühle, des Kampfes und Widerstehens, der Liebe, Verzweiflung, der Treue zu sich. Die Unbehauste, eigentlich Vaterlandslose, wurde für viele zur Gedankenheimat, in der man Mensch bleiben darf mit allen Widersprüchen.
Der freundliche Grieche räumte meinen halbvollen Teller ab, ein zu fettes Essen zur falschen Zeit. Der nervöse Magen von Rosa L. hätte vermutlich auch rebelliert. Leise fiebrig vor der Ausstellung der Rosa-Luxemburg-Dokumente, der Begegnung mit Rosa-Luxemburg-Kennern. Seit langem im Dialog mit ihren Schriften, war ich mit ihr vertraut geworden wie mit einem nahen Menschen, bei dem ich mich wohl fühlte, neugierig auf jede Einzelheit in seinem Leben, seiner Geschichte, deren Spuren ich folgte. Als habe das Leben von Rosa L. auch mit meinem zu tun, als wäre Geschichte wiederholbar. Neben der historischen Figur Rosa L., schon in vielen Biographien kenntnisreich porträtiert, interessierte mich die polnische Róża oder Ruscha. Sie erlaubte mir das Spiel mit Möglichkeiten, war mit Du ansprechbar und ließ Gegenwart zu.
Das Tor über der Straße stand offen, schon warteten erste Besucher beim Pförtnerhaus, und mein Grieche wünschte einen schönen Abend, der Rosa L. gehörte; ihrem Nachlass, der am Vorabend einer wissenschaftlichen Tagung der Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft im Bundesarchiv zu besichtigen war.
Die erleuchteten Fenster der früheren Garnisonskirche erinnerten an eine vergilbte Weihnachtsansicht mit Gläubigen, die durch die kristallene Schneenacht zur Christmette pilgern, aber es waren Forscher und Freunde von Rosa L., angereist zum besonderen Jahrestag. Bald würden sie sich über Glasvitrinen beugen, im Album eines Lebens blättern, sich bei einem Bild aufhalten, es gründlich erörtern, als wäre ihre Zukunft davon abhängig.
Die militärischen Spinde der Besuchergarderobe hatten Jahrzehnte überdauert und ließen an Uniformierte denken, die zum Befehlsempfang angetreten sind. Gleich werden Kadetten mit Milchgesichtern auf ihren Kaiser eingeschworen, wird ein Befehlsgewaltiger mit SS-Runen, einem Totenkopf an der Mütze die namenlose Front des schwarzen Korps abschreiten. Gleich werden die Braunhemden der Röhm-Affäre blutgetränkt sein, und ein gutes Jahrzehnt später wird ein dunkelhäutiger GI mit Kaugummi, Lucky Strikes und Schokolade eine Liebesstunde begleichen.
Auch die Bücherregale und Lesetische im Kirchenschiff schienen wie zufällig hier aufgestellt. Sie könnten ebenso zufällig über Nacht verschwinden, so wie die Menschen im Jahrhundert der zwei Weltkriege verschwanden, stimmlos, rechtlos, gesichtslos, den wechselnden Schlächtern auf der Zeitbühne überstellt.
Dein Leben, Róża, wie eine Ikone. Der Firnis vielfach gesprungen, doch die Farben, unverändert am Leuchten, spiegelten sich in den Gesichtern der Besucher wider. Aber es war keine nostalgische Andachtsstunde unter Einäugigen im Kirchenschiff von gestern. Zu unterschiedlich ihr Zugang, einmütig nur ihre Bewunderung für eine große Frau und ein Leben, das Geschichte wurde.
In der Hand des japanisches Professors am Rednerpult eine neue Veröffentlichung, wieder dein strengschönes Gesicht auf dem Umschlag, vielen vertraut, ein öffentliches Gesicht, Róża. Öffentlich wie einzelne Sätze aus deinem Wortmassiv, die in der Wiederholung verleiern wie Klassiksounds im Supermarkt. Und dein Lebenswerk? Nur noch ein Schrumpfkörper im engen Korsett von Zitaten?
Preußische Strenge im Raum, über den Köpfen der Zuhörenden zwei große Kronleuchter; das karge Licht elektrischer Kerzen wiederholte sich an den weiß getünchten Wänden. In den Rundbogenfenstern die nächtliche Schwärze, von den hellen geometrischen Fenstersprossen gitterartig ausgesperrt. Ein Globus auf einem fernen Bücherregal, auf seiner nördlichen Halbkugel muss Europa schwimmen, vielstaatlich zersplittert. Die Grenzen der Alten Welt, unbeständig wie Wanderdünen, dem Zeitwind ausgesetzt.
Der Sozialismus abgehalftert, seine Utopie der Gleichheit von zunehmender Ungleichheit abgelöst. Der Rosa-Luxemburg-Nachlass hatte mit den DDR-Archivarinnen ins Bundesarchiv gewechselt. Blondierte Brunhilden, im strengen Kostüm, die rotbackig ihre Arbeit vorstellten, dazwischen die Blitzlichter eines Fotografen wie Wetterleuchten. Die Welt ist so schön bei allem Graus, schrieb die Schutzhaftgefangene Rosa L. aus dem Winter der Festung Wronke. Der Satz nun als neuer Titel von Annelies Laschitza auf dem Büchertisch. Auf dem Umschlag das Porträt der Gymnasiastin Rosa, verheißungsvoll in frühlingsheller Kulisse.
Das Häuflein der Rosa-L.-Freunde, den eisigen Windnadeln ausgesetzt, harrte auf den letzten Bus. Zielstrebig steuerte eine Wartende den Griechen an. Sie äugte durch die hellen Fenster und wandte sich unwillig ab, als habe sie im Schatten der preußischen Backsteinmauern zu viel Verwöhnung gesehen. Der Bus eine behagliche Höhle. Eine zierliche Passagierin, auf dem hintersten Platz in einen bodenlangen Mantel gewickelt, richtete ihren alten, wissenden Blick auf die Einsteigenden. Meist robuste, selbstsicher wirkende Frauen, für die Rosa L. eine Vorkämpferin war. Wie alle Jahre würden sie am Tag der Ermordung den Todesweg abschreiten und Blumen in den nächtlichen Landwehrkanal werfen. Sie luden mich ein mitzukommen, neugierig, was die Unbekannte nach Berlin verschlagen habe. Vielleicht war es eine Liebessache, die sie zur Reisenden gemacht hatte, eine Idee, der sie nachging, die sie aber nicht erklären wollte.
Gestern angekommen. Der Mond begleitete zerbeult, aber treu meine Nachtreise, Räderrollen und Geschaukel in der Schlafkoje, manchmal der Ausblick auf verwaiste Bahnhöfe, bildschirmgroß im schrillen Kunstlicht, rasch vom Nachtland abgelöst, gelöscht. Die Geschwindigkeit ein sirrendes Windlied, das die Ferne durchschnitt. Ich horchte in die Weite, war ein Ding, das auf Schienen über Landesgrenzen befördert wurde, Zeit und Raum ohne Dazutun überwand. Gegen Morgen der Weckdienst, Frühstück, Reisepapiere, alles eingespielt, pünktlich die Ankunft im Bahnhof Zoo. Schrittweise schoben sich die Reisenden durch den engen Wagenkorridor, mit meinem sperrigen Gepäck war ich eine Behinderung, ärgerlich für die Nachdrängenden. Der wartende Träger am Wagenausgang kam mir wie ein Sendbote Rosas vor.
Ein frostiger Morgen. Der Strom der Angekommenen drängte über die Treppe zum Ausgang, in den Verkehrssog der Großstadt. Mit dem Träger wartete ich auf den gläsernen Aufzugsriesen, der mit einer jungen Frau anschwebte. In langem, schwarzem Rock, lila Jäckchen und dunkleren Lederhandschuhen, das Gesicht hinter einem Schleier, stand sie unbewegt in der Mitte des Aufzugs, als der Träger mit seinem beladenen Karren direkt auf sie zuhielt, sie überrollte. Mein Warnschrei hätte nichts mehr aufhalten können, aber da war nichts, die junge Frau verschwunden.
Kardinalrot der Himmel über den hohen Dächern, während ich über die Stadtautobahn gefahren wurde und eigentlich nirgends ankommen wollte. Aber der Schlüssel passte ins Schloss von Nummer dreizehn. Ein gepflegtes Jugendstilhaus ist zu durchqueren, ein geräumiger Hinterhof, das Hinterhaus, bis man das einstöckige Häuschen im Grünen erreicht, das zwischen langgezogenen Miethauszeilen liegt. Und noch vom Kutscher erzählen könnte, der mit ein, zwei Pferden unter seinem Dach hauste, als das zwanzigste Jahrhundert begann und Rosa L. in der Zweieinhalb-Millionen-Stadt lebte.
Sie war gerade siebenundzwanzig, als sie im Mai 1898 nach Berlin zog, und wusste, was sie wollte. Dr. Rosa L. hatte ihre Studienjahre in Zürich und Paris mit einer Arbeit zur industriellen Entwicklung Polens erfolgreich abgeschlossen. Und war unterwegs, um der Partei August Bebels und Wilhelm Liebknechts beizutreten, in der sozialistischen Bewegung aktiv zu werden. Dass sie ein Gelbschnabel sei, würde sie bald auf einem Parteitag zur Revisionismusdebatte von eisernen Altvätern zu hören bekommen. Sich aber als geistvolle Rhetorikerin glänzend schlagen. Sie war kein Gelbschnabel mehr, auch wenn sie sich die Epauletten der Partei erst holen müsse, wie sie ironisch bemerkte.
Die achtzehnjährige Rosa L. hatte als Mitglied einer polnischen Untergrundbewegung illegal über die deutschpolnische Grenze fliehen müssen. Sie sei, bemerkte ihr Doktorvater Julius Wolf verständig, als fertige Marxistin nach Zürich gekommen, wo sie während ihrer Studienjahre mit ihrem Gefährten Leo Jogiches und den anderen Emigranten ihre politische Arbeit fortsetzte. Als Redakteurin der neu gegründeten Zeitung »Sprawa Robotnicza« (Sache der Arbeiter), eines Organs der SDP in Polen, publizierte sie bald auch in einflussreichen deutschen Parteiblättern. Begegnungen mit führenden Sozialisten in Paris und ihr erster Auftritt auf dem Sozialistenkongress in London machten auf sie aufmerksam.
Berlin hieß wieder Abschied für Rosa L., diesmal aus freiem Willen, wie es schien, dennoch Abschied von der behaglichen Insel Schweiz, auf der sie sich wohl gefühlt hatte. Abschied von Freunden und der lebhaften Zeit mit Leo, dem geliebten Dziodzio, der studienhalber in Zürich blieb. Wäre es nicht glücklicher, schrieb sie aus Berlin, könnte sie, statt ein solches abenteuerliches Leben zu führen, irgendwo in der Schweiz mit Leo still und herzlich die Jugend genießen. Aber sie ahnte, dass Leo, polnischer Revolutionär und geschickter Konspirant, unbegabt für ein Glück im Winkel wäre, dass ihre Liebe illusorisch sei, obwohl sie verdammt Lust habe, glücklich zu sein und auch bereit wäre, um ihr Portiönchen Glück zu feilschen. Doch das Leben könne einen packen und nicht loslassen.
Rosa L. war bereit, obwohl schon die ersten Stunden in dem fremdkalten Berlin sie sehr erschöpften. Sie verglich die Stadt mit einer Kaserne und vermutete hinter der Arroganz der lieben Preußen den Stock, mit dem man sie einst geprügelt. Überhaupt brauche es für das Leben hier eine Reserve an Gesundheit und Kräften, ganz anderen, als Rosa L. mitgebracht habe. Mit der Stadtbahn ging sie auf Wohnungssuche, besichtigte in wenigen Tagen fünfundsiebzig Zimmer und mietete mit Skrupeln im aristokratischsten Teil der Stadt, nahe dem Tiergarten, das um drei Mark zu teure Zimmer, das aber nicht nach Offizieren roch.
Ich bin sicher, dass Du selbst das gewählt hättest, das ich gewählt habe, und das beruhigt mich. (…) Schreibe mir doch sofort, ob Du mich wegen der 3 M nicht zu sehr tadelst.
Buchhalterisch genau rechtfertigte sie gegenüber Leo ihre Wahl und verglich das Preis-Leistungs-Verhältnis mit anderen Angeboten. Der Raum sei elegant möbliert, mit Pianino, Schreibtisch, Schaukelstuhl, einem Spiegel über die ganze Länge der Wand und kolossalem Schlafdiwan, einer Waschgelegenheit hinter dem farblich abgestimmten Vorhang. Dazu der kleine, grün bewachsene Balkon, ringsum üppiges Grün und saubere Luft.
Selbstsicher suchte sie die SPD-Parteizentrale auf, wurde Mitglied der Partei und bot sich für den angehenden Wahlkampf an. Statt nach Westfalen, wie sie sich vorstellte, wurde sie nach Oberschlesien beordert und brachte die Wahlarbeit in polnischer Sprache erfolgreich hinter sich. Nebenbei beschleunigte sie mit drei Mark Schmiergeld die Ausstellung eines Heimatscheins beim Polizeipräsidium am Alexanderplatz.
Rosa L., die polnische Jüdin aus Warschau mit dem kleinen Gehfehler, war nicht problemlos zur preußischen Staatsbürgerin geworden. Sie brauchte die richtigen Papiere, um politisch arbeiten zu können. Ihre Scheinehe mit dem Berliner Gustav Lübeck war wenige Wochen vorher, April 1898, auf dem Zivilstandsamt Basel vollzogen worden.
Das Hochzeitsbild zeigt ein energisches Persönchen mit dunklem Haar, das eingehakt neben dem Scheingatten mit Zylinder posiert, der es gewaltig überragt. Die große Hand des Schreinermaschinisten umfasst gänzlich die kleine Hand der Frau, ohne sie zu besitzen. Sie trägt ein hochgeschlossenes dunkles Wollkostüm. Die Jacke mit vielen Knöpfen betont die geschnürte Taille, der glockig fallende Rock lässt gerade noch die Schuhspitzen frei, und ein elegant drapierter Hut betont das entschlossene Gesicht mit den dunklen Augen.
Einhundert Jahre später lockten bunte Luftballontrauben zum Tag der offenen Tür ins Basler Zivilstandsamt, nahe den roten Münstertürmen. Unter Glas die Heiratspapiere in der Handschrift Rosa Luxemburgs, die sie als gewesene Schriftstellerin auswiesen. Ein weiterer handgeschriebener Brief von Rosa L. ging wenige Tage nach der Eheschließung beim Zivilstandsamt ein, in dem sie höflichst beantragte, den Beruf Gustav Lübecks, der nicht mehr als Schreinermaschinist arbeite, in Kaufmann zu korrigieren, was abgelehnt wurde.
Was war der Grund für dieses Gesuch? Es gibt keine schlüssige Antwort, nur Möglichkeiten. Gewiss kein Standesdünkel, obwohl es zu dieser Zeit kaum nachvollziehbar war, dass ein fertiges Fräulein Doktor einen Arbeiter ehelichte. Vielleicht war es Leo, der vorausschauend ihre Biografie schönen wollte, den geplanten Einstieg in Berlin bedenkend. Ein unübersehbares Heer von bärtigen Melonenträgern würde der jungen Feuerfrau, der klugen Einzelnen, frontal gegenüberstehen und ihr Paroli bieten, die seltsame Eheschließung nicht übersehen.
Das Singen der nahen S-Bahn und das heftige Hornen des Krankenwagens holten mich in die Gegenwart zurück, den Januar in Berlin. Das schwindende Licht ein Versprechen im Rosa- und Blauton. Rasch dunkelte der Himmelskorridor über den langen Miethausfronten, ließ die quere Brandmauer verschwinden, das Rabennest in der windbewegten Baumkrone, von Astfingern gehalten. Lichthell die gläsernen Augen der Wohnungen, sie zeigten hantierende Schatten in Küchenschläuchen, in den Zimmern das glimmerblaue Gegenprogramm, Feierabend vor dem Bildschirm. Eine Tür zum Hinterhof öffnete sich. Der weiße Spitz tänzelte kurz im Kunstlicht, folgte dem unhörbaren Besitzerruf ins Haus. Von der Terrasse im Hochparterre mit der Treppe ins Hinterhofgeviert wurde ein orientgemusterter Läufer genommen. Die kleinen Quartierläden, viele in weiblicher Hand, ausgenommen der anonyme, neonhelle Waschsalon, machten nun dicht: der Blumenkiosk, das Nähatelier, der Papierwarenladen, der Damenfriseur oder die Weinhandlung, wo eine gemütliche Kennerin mit der Flasche auch noch ein Lebensrezept verpasste. Gegenüber ein Schaufenster, an dem ich meine Nase platt drückte, um mehr vom Ladenschlauch zu erspähen. Hinter dem dunklen Verkaufskorpus, von zwei Kronleuchtern erhellt, eine reiche Auswahl von Stoffen für jeden Anlass, die sich, ballenweise in Regalen verstaut, bis zur Decke türmten.
Und ich dachte mir Rosa L. zwischen den Stoffballen, wie sie sorgsam gelbe Seide für ein Kleid auswählte oder cremefarbene und die Schneiderin aufsuchte. Der Schulterteil des blauen Kleides sei vom Schweiß völlig gelb verfärbt, teilte sie Leo mit, sie gebe das Kleid zum Ändern, lasse sich einen seidenen Einsatz machen, wie es jetzt modern sei, und das Kleid sei wieder schick. Sie werde es zum Parteitag in Hannover mitnehmen und am geselligen Abend