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Blogistan: Politik und Internet in Iran
Blogistan: Politik und Internet in Iran
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Blogistan: Politik und Internet in Iran

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Die Protestwelle nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl im Iran vom Juni 2009 lenkte die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die lebendige Internetkultur der Islamischen Republik. Das Internet, heißt es, befördert den gesellschaftlichen Wandel in Ländern wie dem Iran, doch inwiefern unterscheidet sich das Netz von den Printmedien? Stellt es tatsächlich eine neue öffentliche Sphäre dar? Welchen Einfluss haben soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter oder YouTube auf die Organisation von Demonstrationen? Bringt die iranische Blogosphäre eine Kultur des Dissidententums hervor, die das islamistische Regime am Ende zu Fall bringen wird? Diese wegweisende Studie bietet Einblicke in die Internetkultur im heutigen Iran und untersucht die Auswirkungen der neuen Kommunikationsformen auf Gesellschaft und Politik. Die Autoren warnen davor, "Blogger" mit "Dissident" gleichzusetzen, denn auch das Regime hat längst mit der "Kolonisierung Blogistans" begonnen. Das Internet, so eine ihrer Thesen, bringt Veränderungen mit sich, die weder die Regierung noch die Demokratiebewegungen vorhersehen konnten und können. "Blogistan" ist nicht nur eine Fallstudie zur Internetaneigung in der islamischen Welt, sondern das Buch macht auch deutlich, welche Auswirkungen die Neuen Medien auf gesellschaftliche Strukturen und Prozesse haben.
LanguageDeutsch
Release dateOct 18, 2012
ISBN9783868545463
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    Book preview

    Blogistan - Annabelle Sreberny

    Journalism).

    1 Das Internet im Iran: Entwicklung und Reglementierung

    Jede kritische Analyse des Internets im Iran muss sich mit zwei theoretischen Positionen auseinandersetzen, denen gemeinsam ist, dass ihnen ein historischer Fatalismus innewohnt. Die eine Sichtweise betont die »Einzigartigkeit des Internets«, überschätzt die Auswirkungen der neuen Technologien auf Wirtschaft und Gesellschaft und spricht von einem eindeutigen Bruch mit der Vergangenheit. Das Internet, so die zentrale Prämisse dieses Szenarios, bringt die grundlegende Veränderung aller sozialen Beziehungen mit sich und verheißt eine von demokratischer Partizipation geprägte Zukunft. Wird in dieser Darstellung die Technik als treibende Kraft der gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet, so geht die »Gegenposition« von der »Einzigartigkeit des Islam« aus. Dieser Sichtweise zufolge ist der allein entscheidende Faktor im Bereich der iranischen Kultur und Kommunikation der Islam. In diesem Szenario werden die Totalität der Produktion und die der sozialen Beziehungen zu untauglichen Ausgangspunkten für die Medienanalyse erklärt, was den Weg für einen epistemologischen Nativismus frei macht, der einen einförmigen, allumfassenden, unveränderlichen »Islam« als Grundlage für die reale Kommunikation in der Region beschreibt.¹

    Die Islamische Republik Iran entstand 1979 aus einer plötzlichen Mobilisierung des Volkes heraus, die in eine Revolution mündete. Alle Entwicklungen im Bereich von Internet und Cyberspace fanden daher in einem politisch stark aufgeladenen postrevolutionären Umfeld statt, wobei die Ideologie des theokratischen Staates der schiitische Islam war. Die zentrale Frage in Bezug auf die Entwicklung der neuen Medien im Iran ist jedoch nicht der offensichtliche, krasse Gegensatz zwischen einem »konservativen« Staat und »moderner« Technik, denn der Staat und viele einflussreiche Kleriker haben sich die neue Informationstechnologie sehr schnell zu eigen gemacht. Kennzeichnend für die Entwicklung des Internets im Iran sind zwei subtilere Konfliktlinien. Die erste markiert der Versuch des zentralistischen Staates, in einem von »neuen Technologien« geprägten Umfeld, das die Partizipation breiter Bevölkerungsschichten außerordentlich fördert, die freie Meinungsäußerung zu unterdrücken. Mit diesem Problem befasst sich der iranische Staat seit mehr als hundert Jahren. Das Internet ist lediglich der neueste Schauplatz dieser Auseinandersetzung und die neueste Technologie, die den unmittelbar vom Staat Überwachten alternative Kommunikationswege eröffnet hat.

    Die zweite Konfliktlinie markiert der Versuch des zentralistischen Staates, die Entwicklung des privaten Sektors und unternehmerische Aktivitäten auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnologie zu behindern, einem Gebiet, das in anderen Ländern Millionäre hervorgebracht hat. Die Schnelligkeit, mit der sich die neuen Technologien im Iran ausbreiten, illustriert die heterogene Entwicklung dieses Landes ebenso wie die widersprüchliche Rolle des Staates.

    Ungeachtet dieser beiden Konfliktlinien hat sich im Iran innerhalb kürzester Zeit eine Kommunikationsindustrie etabliert, die heute einer der am schnellsten wachsenden Wirtschaftszweige ist. Die »Neuen Medien« stellen einen der dynamischsten und lebendigsten politisch-kulturellen Räume dar. Der verbreitete Wunsch nach Zugang zu informellen Kommunikationswegen und verstärktem Kulturkonsum zeigt sich nicht nur in der wachsenden Zahl der iranischen Medienkanäle, sondern auch in der steigenden Zahl der Nutzer von Mobilfunk und Internet sowie im erstaunlichen Wachstum und der Popularität von Weblogs, die sich zu einem besonders umkämpften Terrain entwickelt haben.

    Dieses Kapitel bettet die Ausbreitung des Internets im Iran in den größeren gesellschaftlichen Kontext ein und beleuchtet die real vorhandene digitale Kluft, also die Tatsache, dass der Iran einigen seiner reicheren Nachbarländer deutlich hinterherhinkt. Indem es den Ausbau der Telekommunikationsinfrastruktur beleuchtet, zeichnet es die Modernisierungspolitik des iranischen Staates und die im Rahmen dieses Entwicklungsprozesses auftretenden Widersprüche nach. Unserer Auffassung nach sind begrenzter Zugang und begrenzte Nutzung nur ein Teilaspekt einer sehr viel komplexeren Geschichte, die Kommunikationserfahrungen im Iran erzählen. Das Internet stellt die Monopolstellung des Staates zusehends in Frage, nicht nur als Kommunikationskanal für Ferngespräche, sondern auch als Medium der politischen und kulturellen Kommunikation. Das private Kapital rüttelt am staatlichen Monopol, während die Politik der Regierung sich allmählich auf die Ökonomisierung und Privatisierung des Kommunikationssektors einstellt. All das vollzieht sich in einem nationalen und internationalen Kontext, der von faszinierenden Entwicklungen im Bereich der Medien und des Internets gekennzeichnet ist.

    Zeitungskiosk, Teheran

    Zwar sind die Werkzeuge und Technologien universell, und die allgemeine Entwicklung des Internets lässt sich nicht getrennt von der Funktionsweise von Staat und Kapital beschreiben. Ebenso wenig kann man das Internet als Ganzes jedoch verstehen, ohne die örtlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen. Im Zeitalter der »Globalisierung« und des »Transnationalismus« lohnt es sich in Erinnerung zu rufen, dass Politik und politisches Handeln nach wie vor an konkreten »Orten« stattfindet. Damit soll das große Ganze keineswegs ausgeblendet werden, doch kann man das Geschehen vor Ort nur begreifen, wenn man den größeren Rahmen ebenso berücksichtigt wie die Art und Weise, in der gemeinsame Geschichte, Interessen und Sprache die Menschen eint. Masserat Amir-Ebrahimi² stellt daher zu Recht fest:

    Trotz des Anspruchs, eine »universelle« Sprache zu sein, stellt das Internet einen neuen öffentlichen Raum beziehungsweise eine neue öffentliche Sphäre dar, die in ganz bestimmten soziokulturellen Aspekten des Alltagslebens wurzelt. Seine kulturelle Bedeutung schwankt von Ort zu Ort beträchtlich, je nach den unterschiedlichen Erfahrungen, Bedürfnissen und Zielen der Menschen. In demokratischen Gesellschaften wird der Cyberspace oft als »alternativer« Informations-, Forschungs- und Freizeitraum betrachtet, der neben oder komplementär zu den realen öffentlichen Räumen und Institutionen besteht. In Ländern jedoch, in denen öffentliche Räume von konservativen beziehungsweise restriktiven kulturellen Kräften kontrolliert werden, kommt dem Internet bisweilen eine ganz andere Bedeutung zu. Im Iran, wo die öffentliche Sphäre von konservativen und staatlichen Kräften streng überwacht und reguliert wird, ist das Internet zu einer Möglichkeit geworden, sich gegen diesen Räumen auferlegte Restriktionen zur Wehr zu setzen. Für die Menschen in solchen Ländern, vor allem für marginalisierte Gruppen wie Jugendliche und Frauen, ist das Internet unter Umständen ein Raum, der »realer« ist als ihr Alltagsleben.

    Der erste Abschnitt dieses Kapitels untersucht Aspekte der digitalen Kluft in Bezug auf aktuelle Diskussionen über die Internationalisierung der Medien- und Internetforschung. Anschließend werden verschiedene Aspekte des Wachstums der iranischen Kommunikationsindustrie und ihrer raschen Modernisierung in den letzten Jahren behandelt. Schließlich werden Widersprüche in der Entwicklung des Internets im Iran thematisiert, die sich aus rivalisierenden wirtschaftlichen und politischen Interessen ergeben.

    Zunächst gilt es jedoch, den Kontext etwas näher zu beleuchten.

    Eine kurze Rekapitulation der jüngeren iranischen Geschichte: Die Entfesselung einer islamischen Revolution

    Die Islamische Republik Iran war und ist ein Konstrukt voller Widersprüche. Nachdem sie 1979 aus einer unterschiedliche Klassen und ideologische Komponenten umfassenden Volksrevolution heraus entstanden war, wurden die Institutionen der Staatsmacht rasch islamisiert. Das Ergebnis war die weltweit einzige Theokratie. Dem Konzept des Velayat-e Faqih entsprechend war das religiöse Oberhaupt des islamischen Staates der Oberste Rechtsgelehrte. Der erste war natürlich Khomeini, gefolgt von Khamenei, dem derzeitigen (2010) ungewählten Führer.

    Parallel zu diesem System der religiösen Führung, das auf der Zustimmung des Klerus basiert, existiert jedoch ein modernes politisches System mit Wahlen und offiziellen politischen Ämtern. Alle Iraner über 18, auch Frauen, denen das Wahlrecht 1963 zugestanden wurde, wählen den Präsidenten und die Abgeordneten der Majles, des Parlaments. Überwacht wird dieser politische Prozess vom darüberstehenden Wächterrat, der politische Gruppierungen und Kandidaten überprüft, wobei die Kenntnis des Islam ein wichtiges Kriterium ist. Aufgrund des allgemeinen Wahlrechts, der wachsenden Bedeutung von Wahlkämpfen, lebhafter politischer Diskussionen und dem verbreiteten Interesse an Partizipation sprechen viele Beobachter³ des Iran von einem zweigeteilten politischen System mit demokratischen Elementen. Die Bandbreite der politischen Partizipation und Meinungsäußerung ist im Iran zweifellos größer als unter den meisten anderen Regimes in der Region, ein Argument, das angesichts eines möglichen Einmarschs der USA immer wieder vorgebracht wird. Der eindrucksvolle Film »Roozegar-e Ma, Our Time« (2002) von Rakshan Bani-Etemad gibt anschauliche Einblicke in die politischen Sehnsüchte und Phantasien in einer Zeit, in der selbst Frauen sich nicht scheuen, sich um das Amt der Präsidentin zu bewerben (obwohl es ihnen offiziell nicht erlaubt ist). Seit Langem gibt es im Inneren heftige Machtkämpfe zwischen den »liberalen Reformern« und den »Konservativen«, sowie zwischen den ernannten und den gewählten Gremien, die sich nach der reformorientierten Präsidentschaft Khatamis und der Wahl von Mahmud Ahmadinedschad 2005 noch verschärften. Ebendiese verstärkte Investition von Energie in den demokratischen Prozess, die von Fernsehdebatten, Wahlkampfveranstaltungen und all den anderen Insignien eines Wahlkampfes befeuert wurde, bewirkte 2009 eine derart konsternierte Reaktion, hatte sich doch der Prozess der politischen Partizipation selbst als Farce erwiesen.

    Neben diesem inneren Machtkampf gibt es noch andere Probleme. Der Iran hat einen erbitterten, acht Jahre währenden Krieg mit dem Irak hinter sich, der Tote, Verwundete und Zerstörung in gewaltigem Ausmaß hervorgebracht hat, nicht zuletzt aufgrund der Raketenangriffe auf Städte. Diese Ereignisse sind in der Islamischen Republik bis heute nicht ganz verstanden und aufgearbeitet. Eine der Folgen des Krieges war, dass der Sicherheit Vorrang vor allen anderen staatlichen Aufgaben eingeräumt wurde. Eine weitere war die Stilisierung von Kriegsveteranen zu Helden, die in Rekordzeit die verschiedenen sozioökonomischen Leitern erklommen. So erhielten nicht wenige eine Stelle an einer Universität, ohne über die entsprechende Ausbildung zu verfügen. Viele besetzten in Bildungseinrichtungen und Firmen Schlüsselpositionen und ermöglichten dem Regime dadurch, diese Organisationen zu kontrollieren und zu überwachen. Teil desselben Prozesses ist auch der lautlose Aufstieg der Revolutionsgarde (auch Pasdaran genannt), die politisch wie ökonomisch von der Mobilisierung während der Revolution und der nachfolgenden Privatisierungswelle profitierte. Im September 2009 erwarb die Revolutionsgarde 51 Prozent der Anteile an der Iranischen Telekommunikationsgesellschaft (TCI), und zwar wenige Minuten nachdem die Firma im Rahmen eines 5-Milliarden-Dollar-Deals, des größten der iranischen Wirtschaftsgeschichte, privatisiert worden war. Heute kontrolliert die Revolutionsgarde über verschiedene gemeinnützige Stiftungen, Tochtergesellschaften und Fonds Schätzungen zufolge etwa ein Drittel der iranischen Wirtschaft.

    Hinzu kommt, dass die Islamische Republik von Anfang an mit chronischen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hatte. Die von der Vorgängerregierung geerbten Probleme wurden durch den verheerenden Irakkrieg und die darauffolgende wirtschaftliche Liberalisierung noch verschärft.⁴ Einer der ausschlaggebenden Gründe für die Wahl Ahmadinedschads 2005 dürfte daher sein Versprechen gewesen sein, sich um die Ärmeren in der iranischen Gesellschaft zu kümmern, einschließlich der Landbevölkerung. Er hat jedoch nicht Wort gehalten. Zwar stieg der Ölpreis im Sommer 2008 auf den historischen Höchststand von 140 Dollar je Barrel, doch der Anstieg des Ölpreises kann mit der Inflation (die auf etwa 35 Prozent geschätzt wird) nicht Schritt halten, ebenso wenig wie die Sparzinsen, die bei rund 20 Prozent liegen. Wohnungen sind, vor allem in Teheran, für viele unerschwinglich, sodass Häuser reihenweise leer stehen, und die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, trotz der Rhetorik der Revolutionäre, die mostazafin (Unterdrückten) gegenüber den mostakbarin (Unterdrückern) bevorzugt behandeln zu wollen. Hodschatoleslam Rafsandschani, der zweitmächtigste Mann in der Geschichte der Islamischen Republik, ist einer der reichsten Iraner und damit der lebende Beweis, dass die Anhänger des Islam sich mit dem Kapitalismus arrangiert haben. Einem in Teheran im Herbst 2008 häufig gehörtem Bonmot zufolge hat jeder Ayatollah seine eigene Ölquelle in der Tasche (»chah-e naft to jib darand«).

    Demungeachtet verfolgt die Islamische Republik auf bestimmten Gebieten eine erstaunlich fortschrittliche Politik. Es gibt Spritzentauschprogramme für Heroinabhängige, ausgereifte Methoden zur künstlichen Befruchtung, geschlechtsangleichende Operationen (auch wenn diese vorwiegend als Methode betrachtet werden, Homosexualität im wahrsten Sinne des Wortes »auszuradieren«) und finanzielle Entschädigungen für Nierenspender, dank deren der Nachschub an Organen gesichert ist (ein Modell, über das weltweit ethische Diskussionen geführt werden). Zugleich gibt es auf anderen Gebieten einen Mangel an eindeutigen und kohärenten Politikansätzen, etwa bei den relativ spärlichen Sozialleistungen und bei der Arbeitslosigkeit. Der Iran hat eine sehr jugendlich geprägte Bevölkerungsstruktur. Über 70 Prozent der Staatsbürger sind unter 30 Jahre alt, was zu erheblichem Andrang auf Studien-, Ausbildungs- und Arbeitsplätze führt, da das Angebot die Nachfrage nicht annähernd decken kann. Der starke Zuzug nach Teheran ist kaum zu bewältigen. Der Verkehr in der Hauptstadt ist ein Albtraum (und in anderen Städten sieht es nicht viel besser aus), und die Luftverschmutzung hat so gefährliche Ausmaße angenommen, dass die Medien an Tagen mit besonders schlechter Luftqualität Warnungen herausgeben und an Schulen regelmäßig der Unterricht ausfallen muss. Dreißig Jahre nach den gewaltigen politischen und ideologischen Veränderungen, die einen langen Krieg und unzählige ungelöste soziale und wirtschaftliche Probleme mit sich brachten, stehen die Iraner also vor zahlreichen Herausforderungen und kämpfen in einem unbeständigen politischen Klima darum, sich in den Printmedien, im Rundfunk oder in den Neuen Medien Gehör zu verschaffen.

    Der Ausbau des Zugangs zum Internet und die Aneignung der Informationstechnologien muss man vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen betrachten, Entwicklungen, die von den Nutzern gleichzeitig hinterfragt und verschärft werden.

    Die Internationalisierung der Internetforschung

    Wer sich ernsthaft mit der aktuellen Debatte um die Internationalisierung der Medientheorie und der Internetforschung auseinandersetzen will, darf zweifelsohne nicht bei einem technologischen Determinismus stehenbleiben und muss viele sinnlose, vereinfachende binäre Deutungen und »Entweder-oder«-Modelle von Medien, Technik und Kultur dekonstruieren. Seitdem John Downing⁵ als einer der Ersten darauf hingewiesen hat, wie stark unser Wissen auf dem Gebiet der Medien fast ausschließlich auf Erfahrungen und Beispielen aus dem Westen beruht, vor allem aus den USA, häufen sich die Warnungen vor den negativen Folgen des »western bias«, einer vom Westen ausgehenden, voreingenommenen Sichtweise, die unseren Gesichtskreis einschränkt.⁶ Allmählich erfährt die Arbeit von Kommunikationswissenschaftlern, die nicht aus Westeuropa oder den USA stammen, mehr und mehr Beachtung. Damit geraten dringend notwendige vergleichende Analysen und eine stetig wachsende Literatur in unser Blickfeld, die sich mit Beispielen für Medien und Gesellschaften jenseits des angloamerikanischen Erfahrungsbereichs befassen. Die Internationalisierung der Medientheorie sollte jedoch mehr umfassen als die Sammlung von Artikeln zur Verfassung der Medien und der Kommunikation in unterschiedlichen Ländern. Der Blick über den Tellerrand eines ganz bestimmten geographischen Gebiets mit hegemonialer Stellung hinaus ist wichtig, reicht jedoch nicht aus, um dem »Amerika- bzw. Eurozentrismus« entgegenzuwirken. Was es heißt, eine »amerika- bzw. eurozentrische Sicht« zu vermeiden, auf welcher Basis das geschieht und warum, das sind nach wie vor wichtige Fragen, die kritisch untersucht werden müssen. Doch die Medientheorie hat es nicht nur bitter nötig, sich zu erneuern und aus den engen geographischen Grenzen des »Westens« auszubrechen, sie muss sich auch von den kulturalistischen Thesen verabschieden, die die Diskussion über die internationale Kommunikation, einschließlich der Modernisierungstheorie, so oft behindert haben. Wir müssen uns davor hüten, die Dichotomie von Tradition und Moderne einfach umzukehren, indem wir alles »Traditionelle« überbewerten und den kommerziellen, entwurzelten, banalen und fertig abgepackten »westlichen« Produkten die »authentischen«, »organisch gewachsenen« und tief verwurzelten Kulturen des »Ostens« gegenüberstellen.

    Die »Internetforschung« wirft noch eine ganze Reihe weiterer Fragen zur Verflochtenheit von Medien und Gesellschaft auf. Zwei wichtige Themen sind dabei zum einen das Problem des Internetzugangs beziehungsweise der sozialen Ungleichheit, zum anderen die Art der politischen Partizipation sowie die Frage, ob die Neuen Medien einige altbekannte Probleme auf diesen beiden Feldern gelöst haben oder lösen können. Zweifellos ist der Begriff »Internet« generell problematisch, nicht zuletzt weil er, wie Livingstone⁷ betont, die Vielzahl an Technologien ausblendet, die zu den »Neuen Medien« zu rechnen sind, von sozialen und geographischen Unterschieden in puncto Internetzugang und den verschiedenen politischen Strategien und Antworten, die sie weltweit hervorgebracht haben, ganz zu schweigen.

    Eine zentrale Fragestellung und ein fruchtbarer Forschungsansatz war in den vergangenen Jahren die »digitale Kluft« und die Unterschiede beim Zugang zu den neuen Technologien. Dieser Ansatz hat die Beschäftigung mit einfachen Statistiken auf nationaler und internationaler Ebene ebenso hinter sich gelassen wie die Vorstellung von der »einen« digitalen Kluft und umfasst nunmehr auch Fragen wie die Qualität des Internetzugangs, Modelle zur Internetnutzung und das Spektrum der verfügbaren Inhalte. Die Kommunikationstechnologien selbst können politische, kulturelle und wirtschaftliche Missverhältnisse innerhalb von Gesellschaften nicht aus der Welt schaffen, und sie sind auch nicht der Motor der Geschichte. Sie fördern die Alphabetisierung nicht, sind kein Synonym für Bildung und kein Ersatz für sauberes Wasser, Strom oder Nahrung. Technologien werden in kulturgeschichtlichen Gesellschaften entwickelt und sind daher in Form, Design und Funktion stark vom jeweiligen historischen Moment geprägt, schon allein aufgrund der Tatsache, dass sie als Güter auf dem freien Markt gehandelt werden. Die Diskussion um die digitale Kluft wirft eine Reihe von Fragen auf: Worin genau besteht die digitale Kluft? Gibt es nur eine solche Kluft? Wer wird ausgeschlossen und von was/wem? Inwiefern handelt es sich dabei um eine de-zidiert »digitale« Kluft?

    Der Kern dieser Diskussion ist unverkennbar die übergeordnete Frage der globalen Ungleichheit, nicht nur im Hinblick auf den Zugang zu neuen Technologien und Medien, sondern auch auf die exorbitante und weiter zunehmende materielle Ungleichheit. Jede ernsthafte Diskussion über die »digitale Kluft« und jeder Versuch, die Internetforschung zu »internationalisieren«, muss über auf Medien fixierte, technologisch-deterministische Argumente hinausgehen, die sich mit dem rein technischen Problem der Verbreitung beschäftigen. Die Debatte über die neuen Technologien und das Internet muss vielmehr bei den gängigen Gesellschaftsmodellen und -theorien ansetzen, insbesondere bei der weltweiten Ausbreitung der kapitalistischen Moderne mit all ihren Folgen und Widersprüchen, sowie bei dem Leid und den Möglichkeiten, die in Entwicklungs- und Schwellenländern daraus

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