Große Freiheit Ost: Auf der B96 durch ein wildes Stück Deutschland
By Marc Kayser
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heutzutage? Entstanden ist eine Entdeckungsreise in eine reiche, vielfältige, bunte, faszinierende Gegenwart, die vor Abenteuerlust und Neugier strotzt, eine Vermessung des Ostens von Süd nach Nord entlang ihrer wichtigsten Verkehrsader, eine packende Reportage über ganz normale Menschen und ihre Geschichten. In diesem Sinne: Gute Fahrt!
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Große Freiheit Ost - Marc Kayser
ausgeschildert.
1 Von Zittau nach Bautzen
Eine Straße wie die Welt
Meine Reise beginnt im südöstlichsten Zipfel Deutschlands, am Rande des Zittauer Gebirges. Einer Gegend, in der die Menschen den Buchstaben R eigentümlich rollen, wo sich Polen, Tschechen und Deutsche sehr nahekommen. Die Luft ist mild, riecht nach Frühling, nach Sommer, nach Herbst. In Bäumen, Sträuchern, an Häuserwänden und Wäscheleinen haben Spinnen feine Fäden gesponnen. Vor mir liegen 520 Kilometer einer Reise, die durch drei wärmere Jahreszeiten führt. Die B96 ist eine Lebensader von kleinen und großen Orten. Eine Straße der Arbeit, auf der Fahrräder, Autos, Traktoren und Lkws rollen, Lasten und Lüste transportiert werden, schwere und leichte Gedanken. Eine Straße des Staus, der Eile, des Vergnügens. Die B96 macht mobil und fordert zugleich ihre Opfer. Neben alten Buchen stehen Holzkreuze, neben schönen Häusern steht Zerfall.
Die B96 ist eine Straße mit Geschichte. In der DDR hieß sie F96, war die längste Fernverkehrsstraße innerhalb der DDR und gleichzeitig eine Hauptverkehrsachse von Nord nach Süd. Sie verband die Menschen und trennte sie zuweilen. Als Kind war ich oft auf ihr unterwegs. Zum Zelten an den Müritzer Seen, auf dem Weg ans Meer nach Rügen oder als Flüchtiger aus der Enge meiner Heimatstadt Potsdam in Brandenburg. Es sind die Erinnerungen von einst, die mich antreiben, Geschichten zu suchen, die von Menschen und ihren Sehnsüchten, Träumen, Zweifeln und Niederlagen handeln. Erzählt bei Wind und Wetter, zwischen Tür und Angel, bei einem Kaffee oder einem kräftigen Schluck. Das Leben als Füllhorn mit guten und schlechten Zeiten.
Was passiert auf einer Straße, die ihren Anfang an einer unbedeutenden Kreuzung in Zittau nimmt – im Hintergrund das Gebirge – und an deren Ende das Meer und ein romantischer Sonnenuntergang warten? Obwohl ich diese Straße aus meiner Kindheit kenne, ist es ungewiss, ob das mehr als 500 Kilometer lange Band eine gute Straße ist. Konfuzius, dem chinesischen Philosophen, der 551 vor Christus geboren wurde, wird der Satz zugeschrieben, dass der Weg das Ziel sein sollte. Die B96 ist so ein Weg, auf dem der sich etwas Gutes tut, der seine Augen offen hält. Mal sehen.
Kickstart und ein paar scharfe Gewehre
ZITTAU. Der Ursprung der heutigen B96 liegt in der Einführung von Fernverkehrsstraßen durch die Weimarer Republik am 17. Januar 1932. Dabei wurde in Deutschland zum ersten Mal eine fortlaufende Nummerierung eingeführt. Die Fernverkehrsstraße 96 verlief in diesem Ursprungsnetz anders als heute, nämlich etwas südlicher. Nach der Umwandlung der Fernverkehrsstraßen 1934 in Reichsstraßen wurde der heutige Verlauf eingeführt, auf dem auch dieses Buch und seine Geschichten spielen.
Die B96 beginnt so unvermittelt an einer Kreuzung in Zittau wie sie in Sassnitz auf Rügen auch endet. Im Unterschied zu Sassnitz trägt sie hier einen Namen: Äußere Weberstraße. Ihr Weg führt durch das Zentrum der Stadt. Der Abend ist noch jung. Das Wirtshaus Zum Alten Sack, das seinen Namen von hier früher gelagerten Salzsäcken entlieh, lockt mit Zittauer »Teichelmauke«. In eine Portion Stampfkartoffeln wird ein Trichter geformt, der mit Rinderbrühe, Möhrengemüse und Rindfleischstücken gefüllt wird. Aber auch Sauerkraut soll sich schon mit der Teichelmauke verbunden haben. Sehr traditionell, sehr sättigend, aber vom Geschmack her ungewöhnlich.
Durch die Scheiben blitzt das Licht einer Laterne. In ihrem Schein funkeln die kleinen Tropfen eines unermüdlich fallenden Sprühregens wie winzige Diamanten. Es ist die Laterne von Jochen Kaminsky, einem Mann, der kostümiert ist wie ein Darsteller aus einer romantischen Oper. Er erzählt als Kunstfigur eines Nachtwächters Touristen Geschichten und Merkwürdigkeiten aus der Oberlausitz, führt sie bei jedem Wetter durch das Dunkel der Stadt. Kaminsky ist ein lebendes Lexikon, aus dem wasserfallartig Wissen über hier ansässige Damastspinnereien, Herrnhuter Sterne, Eibauer Bier, geheimnisvolle Spreequellen oder die sorbische Kultur fällt. Der Kellner, ein Typ wie ein Spanier von Ende zwanzig, mit zwei winzigen Metallringen in den Lippen, ist mindestens so beredt, und ehe ich es verhindern will, habe ich viel zu viel »Alten Zittauer« geschluckt, ein Kräuterlikör, der eine feine Note und unanständig viele Prozente hat.
Jochen Kaminsky fallen wahre und unheimliche Geschichten über seine Lausitzer Heimat nur so aus der Laterne. Deshalb wird er oft und gern des Nachts als Fremdenführer gebucht. Dieser Mann ist auch als Unterhalter ein Naturtalent.
BEI MITTELHERWIGSDORF. Am darauffolgenden Morgen erfüllt sich die Hoffnung, die hier oft begründet ist: Das Wetter ist gut. Die Oberlausitz gehört zu den Regionen Deutschlands, die vom Wetter oft verwöhnt werden. Deshalb ist schlau, wer hierher fährt, um zu wandern, zu entspannen und die Schönheiten der Landschaft und der pittoresken Dörfer rund um das Zittauer Gebirge mit allen Sinnen zu genießen.
Auf der Straße staut sich der Verkehr. Auto an Auto, Lastwagen an Lastwagen. Der Asphalt ist ruppig und ausgefahren. In der Oberlausitz ist die B96 keine vornehme Straße. Und oft wird es mir passieren, dass Bitumenkocher überraschend die Straße sperren, um Löcher zu stopfen. Nur wenige Kilometer hinter Zittau betreibt ein älteres Ehepaar einen schräg sortierten Laden mit Handfeuerwaffen, Lebensmitteln, Zeitungen und frischen Eiern. Ingrid und Gunther Lommatzsch.
»Was wollen Sie?«, fragt sie. »Eine Unterhaltung? Ne, ne, lassen Sie mal.«
»Ach«, schiebt Gunther nach, »was macht das alles für einen Sinn?« Mir fällt ein Spruch aus der Oberlausitzer Mundart ein: »Willst de woaas warn, doarfst de ne mahrn …« – was so viel heißt wie: Willst du was werden, dann darfst du nicht murren – aber murren tut er, der Gunther, wie einer, der alles erlebt und alles gesehen hat. Der Laden ist von außen eine Mischung aus Bungalow und exzentrischer Straßenbar. Die Sonne bricht jetzt aus eben noch regenschweren Wolken durch.
»Wir sind vor sechs Jahren überfallen worden«, erklärt Ingrid sogleich ihr Misstrauen. »Die Männer hätten mich fast umgebracht. Ich traue hier keinem.« Ihr Gesichtsausdruck zeigt, dass sie noch immer an dieser Erinnerung kaut.
»Ich will Ihr Geld nicht«, sage ich, »mich interessiert, wie Sie hier überleben können.«
Seit 1863 gibt es dieses Geschäft schon – damals verkaufte man Seifen und Nägel, Pasten und Öle. Heute teilt eine unsichtbare Grenze den Laden. Während auf Ingrids Seite Lebensmittel, Zeitungen und Tabak friedlich ausliegen, weckt der Nachbarraum eher martialische Gefühle. »Die Kundschaft kommt aus dem Dorf. Manchmal halten Durchreisende an, viel Geld bleibt nicht hängen«, sagt Ingrid. Sie zupft an ihrer Schürze, lächelt gequält.
Die Luftgewehre in Gunthers Shop sind schon älteren Kalibers, aber augenscheinlich Wertarbeit aus der früheren Jagdwaffenfabrik in Suhl. Mit Gaspatronen betriebene 45er Revolver und Combat-Pistolen sehen den Originalen täuschend ähnlich. Messer, Säbel und Schwerter sind teils scharf wie Rasierklingen.
»Wofür das alles?«, frage ich.
»Ich bin ein Waffennarr«, sagt Gunther und sieht dabei auf seine Frau, die nun schnell nachschiebt, dass man wieder zu tun habe, und mich zurück auf die Straße bittet.
Am Himmel braut sich etwas zusammen. Wind kommt auf. Er fegt die ersten Herbstblätter wie braune Gespenster durch die Luft und gegen die Frontscheibe meines Autos. Alte Apfelbäume mischen sich mit Pappeln, Birken und Linden. Felder ziehen sich weit hin. Am Horizont Linien des Zittauer Gebirges, gezeichnet wie Fieberkurven. Was für ein schönes Stück Deutschland!
Die Braulady und ich, das Greenhorn
ODERWITZ. Unter einer Brücke fließt ein Bach dahin. Er heißt Landwasser und gleich dahinter, direkt am Straßenrand, stehen hier und da noch die traditionellen Umgebindehäuser mit ihrem typischen Fachwerk, den Schieferschindeln am Obergeschoss und – wegen des feuchten Bodens – mit Holzbohlen als Stützen. »Modern« sucht man ohnehin vergebens, denn es scheint hier nicht der Stil der Menschen zu sein, Reichtum in Glas und Beton zu verbauen, sollten sie Geld besitzen.
Schilder versprechen Felsenkletterei und Rodelbahnen, Bauden mit lokaler Küche und Entspannung an Plätzen mit Panoramablick. Ich biege ab, lasse die B96 rechts hinter mir, folge einem dieser Schilder und fahre auf eine kegelförmige, imposante Erhebung zu. Der Spitzberg bei Oderwitz, eine Ansammlung zerklüfteter Felsen mit wilden Wegen, gelbblühenden Kräutern, auf seinem Plateau prangt eine Deutschlandfahne. Ein paar Schweißtropfen später trete ich mit meinem rechten Schuh eindrücklich neben der Fahne in den Staub und hinterlasse einen Fußabdruck für die Ewigkeit.
Der Berg ist einen halben Kilometer hoch. Das mag im Vergleich zur Zugspitze wenig sein – egal, die weite Sicht ins Tal auf einzelne Dörfer, Felder und die Eibau-Brauerei ist großartig. Zumal sich von hier oben die B96 wie ein asphaltierter Wurm durch die Landschaft schlängelt. Die Wolken kommen einem hautnah, wenn sie so tief hängen wie an diesem Tag. Glück hat der, der Glück erkennt, denke ich aphoristisch, auch wenn das Glück mich heute nass macht.
Klettern macht durstig, das weiß jeder. Und deshalb muss man etwas dagegen tun, sonst wird der Mensch grämlich. Ich besuche die Eibau-Brauerei unten im Tal, von der es heißt, dass sie ein wohlschmeckendes Bier braut und eine ziemlich große Auswahl an Biersorten in einem Werksladen verkauft. Ich will sie alle verkosten. Die Uhrzeit erscheint mir reif für ein solches Unterfangen, das Auto steht sicher.
Schreibe niemals über etwas, das du nicht probiert hast. Und so war die Eibauer Brauerei ein wichtiger Moment auf dem Weg durch das Land.
EIBAU. Carola Dellbrügge, eine blonde Frau mit einem herzhaften Lachen, ist Managerin und dafür zuständig, dass das Bier auch unters Volk kommt. Sie lotst mich über den Brauereihof an einer Unmenge an Bierkisten und Fässern vorbei – bis wir auf einer zweiachsigen Bierkutsche sitzen, auf der es sich famos trinken und reden lässt. Acht Millionen Liter braut das 1810 von König August I. bewilligte Unternehmen jährlich, exportiert vor allem nach China, was mich sofort verwundert, denn ich glaubte, die Chinesen trinken den ganzen Tag lang Tee aus bemalten Porzellantässchen.
»Sie sind ganz wild auf unser Eibauer«, sagt meine Gastgeberin. Als sei ich auch eine Art Markt an diesem Abend, registriert Carola aufmerksam, wenn ich eine Flasche geleert habe. Für ein Foto rücken wir eng zusammen, ihr Haar streift meine Wange, meine Schultern berühren die ihre. Mir wird unanständig heiß mit tausend Fantasien im Kopf.
Auch am nächsten Morgen gibt sich das Wetter launisch und pubertär. Zurück auf der Straße ist die Ansammlung von Autos und Lastwagen verdächtig lang. Eine gräuliche Wolke mäandert durch die feuchte Luft, und je weiter ich im Stau vorankomme, umso klarer wird mir, dass es auf dieser Straße wohl nicht mehr weitergeht. Bitumenkocher in orangefarbenen Overalls haben überraschend die B96 gesperrt, und zwar auf sehr unkonventionelle Weise. Sie stellten einen faulig anmutenden Holzstuhl mitten auf die Fahrbahn auf einen kleinen Berg aus Split, besprühten ihn mit einem Durchfahrtsverbot und machten sich an die Arbeit.
EBERSBACH. Ich parke mein Auto, setze mich auf den Stuhl und studiere den Atlas,