Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Schwarzes Wasser oder Ein neues Leben
Schwarzes Wasser oder Ein neues Leben
Schwarzes Wasser oder Ein neues Leben
Ebook304 pages4 hours

Schwarzes Wasser oder Ein neues Leben

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Für ganze Kerle gibt es nichts Besseres, als das Leben im Wald und auf dem Fluss, so hart es auch ist, hört Hans von seinem Vater. Damit ist für Hans klar: Er will Flößer werden wie sein Vater. Doch dann gerät die Familie in Not und Hans steht vor der denkbar größten Herausforderung.

Eine Geschichte aus einer Zeit, in der man Holz noch gefahrvoll mit Flößen transportierte, in der aber auch schon die ersten Eisenbahnen gebaut und Kinder in Fabriken ausgebeutet wurden.

Für Kinder und Jugendliche ab 11 Jahren.
LanguageDeutsch
Release dateNov 9, 2015
ISBN9783739299419
Schwarzes Wasser oder Ein neues Leben
Author

Gabriele Beyerlein

Gabriele Beyerlein ist seit 1987 freie Schriftstellerin und hat mehr als dreißig Bücher für Kinder, für Jugendliche und für Erwachsene veröffentlicht, darunter zahlreiche in der Vergangenheit spielende Jugendromane, in denen sie eine spannende Handlung mit historischer Genauigkeit verbindet. Ihre Bücher standen wiederholt auf Nominierungslisten für Literaturpreise. Sie erhielt den Heinrich Wolgast Preis 2008 und den Gerhard Beier Preis 2010. Gabriele Beyerlein hat Psychologie studiert, promoviert und in der sozialwissenschaftlichen Forschung und Lehre gearbeitet. Nachdem sie ihre Leidenschaft für das Schreiben entdeckt hatte, machte sie sich als Autorin selbstständig. Sie lebt heute in Darmstadt.

Read more from Gabriele Beyerlein

Related to Schwarzes Wasser oder Ein neues Leben

Related ebooks

Related articles

Reviews for Schwarzes Wasser oder Ein neues Leben

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Schwarzes Wasser oder Ein neues Leben - Gabriele Beyerlein

    ÜBER DIE AUTORIN

    Gabriele Beyerlein ist seit 1987 freie Schriftstellerin und hat mehr als dreißig Bücher für Kinder, für Jugendliche und für Erwachsene veröffentlicht, darunter zahlreiche in der Vergangenheit spielende Jugendromane, in denen sie eine spannende Handlung mit historischer Genauigkeit verbindet. Ihre Bücher standen wiederholt auf Nominierungslisten für Literaturpreise. Sie erhielt den Heinrich Wolgast Preis 2008 und den Gerhard Beier Preis 2010.

    Gabriele Beyerlein hat Psychologie studiert, promoviert und in der sozialwissenschaftlichen Forschung und Lehre gearbeitet. Nachdem sie ihre Leidenschaft für das Schreiben entdeckt hatte, machte sie sich als Autorin selbstständig. Sie lebt heute in Darmstadt.

    www.gabriele-beyerlein.de

    www.facebook.com/gabriele.beyerlein.autorin

    Inhaltsverzeichnis

    Der Sohn des Flößers

    Fabrikkinder

    Das Lange Warten

    Auf dem Weg

    Mannheim

    Ein Neues Leben

    Nachwort

    Worterklärungen

    Edition Gegenwind

    Kinder- und Jugendbuch

    Belletristik

    DER SOHN DES FLÖßERS

    Er müsste längst umkehren, es wurde bald dunkel. Hier im Wald unter den Tannen war es schon duster. Aber die Pfifferlinge hoben sich hell vom Waldboden ab, die sah man noch immer. Schnell die hier noch sammeln. Und die dort drüben. Und wenn er noch ein Stück weiter den Steilhang hinabkletterte, wäre er gleich bei der besten Stelle, die er noch vom letzten Jahr her wusste. Aber dann nichts wie heim! Er war tief im Wald, und wenn es finster wurde, fand man nicht mehr heraus.

    Die Mutter hatte nicht zulassen wollen, dass er den Vater ein Stück begleitete. Erst als der Vater gesagt hatte, dass es noch Steinpilze gäbe, hatte sie es erlaubt. Wie der Vater ihm dabei zugezwinkert hatte, nur mit einem Auge, sodass die Mutter es nicht sah …

    Heidi und Vroni, seine beiden jüngeren Schwestern, hatten auch gleich mitgewollt. Aber nicht gedurft. Die kannten sich mit Pilzen und dem Wald eben noch nicht so gut aus wie er. Und jemand musste ja der Mutter beim Flachshecheln helfen.

    Am Steg über den Finstergrund hatte Hans sich vom Vater getrennt. Der Vater hatte noch einen weiten Weg zu dem Waldgebiet vor sich, in dem er endlich wieder Arbeit als Holzfäller gefunden hatte. Nun streifte Hans fernab von jedem Weg allein durch den Forst, ohne einem Menschen zu begegnen. Dafür hatte er Rehe gesehen und sogar einen Hirsch mit kapitalem Geweih.

    Hans bückte sich nach den Pfifferlingen, schnitt sie mit seinem Messer ab und legte sie in den Sack. Mit Pilzen machte ihm keiner was vor: Die zu unterscheiden, hatte er vom Vater gelernt. Er wusste genau, welche giftig waren und welche man essen konnte und wo sie wuchsen. Beim Abschied am Finstergrund hatte der Vater ihm die beste Stelle für Steinpilze verraten. Hans hatte den beschriebenen Fleck unter den Fichten oberhalb des kleinen Wasserfalls mühelos gefunden und seinen Sack schon halb voll mit Steinpilzen. Nun wollte er ihn mit Pfifferlingen auffüllen.

    Hans kletterte den Hang weiter hinab. Es war so steil, dass er ins Rutschen kam. Rasch hielt er sich an einer Baumwurzel fest, bekam einen Ast zu fassen und ließ sich daran hinunter. Er hatte es doch gewusst! Hier wuchsen die Pfifferlinge dicht an dicht. Er schnitt sie ab und schnallte sich den gefüllten Sack auf den Rücken. Eben wollte er die steile Stufe wieder hinaufklettern und den Weg suchen, da stockte er. Was war das dort unter der jungen Buche? Unwillkürlich duckte er sich. Langsam pirschte er näher. Etwas zuckte dort im herabgefallenen Laub. Etwas Braunes. Und dann leuchtete ein heller Fleck.

    Auf einmal war sein Hals ganz trocken. Ein Hase. Gefangen in einer Falle. Vergebens versuchte das Tier sich zu befreien und zappelte verzweifelt. Dann lag es wieder still.

    Hans stand starr. Fallen stellen – das tat kein Jäger. Das tat nur ein Wilderer. Und Wilderei stand streng unter Strafe. Ein Wilddieb, der sich erwischen ließ, kam ins Zuchthaus, davon hatte er reden hören.

    Einem Dieb wegzunehmen, was dem sowieso nicht gehörte, war doch eigentlich kein Diebstahl, oder? Hans fasste das Messer fester. Hasenbraten mit Pilzen … Besser als Weihnachten. Seit Monaten hatte es daheim kein Fleisch mehr gegeben. Weil der Vater diesen Sommer manchmal keine Arbeit gehabt hatte. Und weil das Geld vorn und hinten fehlte, wie die Mutter klagte.

    Hans kniete nieder, den Blick auf die Kehle des Hasen geheftet. Da sah er durch das Fell, wie hoch und schnell die Halsschlagader pochte. Bestimmt hatte der Hase Angst. Und diese Augen! Wenn der Hase ihn doch nicht ansehen würde! Hans ließ das Messer wieder sinken. Er konnte es nicht, unmöglich.

    Mit zitternden Händen befreite er das Tier aus der Falle. Einen Augenblick lag es noch still, dann versuchte es zu fliehen. Doch schon nach der ersten Bewegung brach es hilflos zusammen. Jetzt erst sah Hans: Die Vorderläufe des Hasen waren seltsam verdreht. Gebrochen durch die Falle. Hans stöhnte auf. Tränen schossen ihm in die Augen. Was für eine Gemeinheit, einem Tier so etwas anzutun!

    Da hörte er ein entferntes Bellen. Er fuhr herum. Von links unten am Hang kam es. Durch den dichten Mischwald, in dem nachwachsende Bäume die Lücken zwischen den hohen Stämmen der alten Tannen und Buchen füllten, konnte Hans den Hund nicht sehen, aber es war ihm klar: Hier mitten im Wald, weit ab von jedem Weg, stieg kein Glasträger, Uhrenverkäufer oder Hausierer den Berg herauf – niemand, der sich bei seiner weiten Wanderung zum Schutz von einem Hund begleiten lassen mochte. Und ein Hirte mit Herde und Hütehund war hier schon gar nicht unterwegs.

    Es konnte nur der Hund des Jägers sein, der da bellte. Und der Jäger ging mit seiner Büchse nicht nur deshalb durchs Revier, um Wild zu schießen, sondern ebenso, um Wilddiebe zu fassen.

    Wenn der ihn hier überraschte, neben dem verletzten Tier – würde er gleich schießen? Das wohl nicht. Aber jedenfalls würde der Jäger ihn für den Verbrecher halten, der den Hasen in der Falle gefangen hatte! Packen würde der ihn, zur Gendarmerie schleifen, bei Gericht verklagen …

    Da könnte er seine Unschuld noch so sehr beteuern, keiner würde ihm glauben: Auf frischer Tat ertappt.

    Hans sprang auf, rannte los. Der Rucksack hüpfte bei jedem Schritt auf seinem Rücken. Nach rechts hinüber rannte Hans zwischen den Bäumen den Hang entlang, immer weiter weg von daheim, nur weg hier, weg!

    Das Gebell hinter ihm blieb zurück und änderte sich. Jetzt hat der Hund den Hasen gefunden und verbellt ihn, dachte er, hoffentlich hält ihn das auf! Wenn er mich verfolgt, muss ich mich stellen. Einem Jagdhund, der einmal die Fährte aufgenommen hat, entkommt man nicht. Er rannte und rannte, schlug Haken um Bäume und große Steinbrocken, brach durch dichtes Gebüsch, kletterte um eine Felsnase herum, rannte weiter. Plötzlich fiel der Berghang beinahe senkrecht ab. Unten ein enges, stark abschüssiges Tal. Zu spät, den wilden Lauf zu bremsen. Hans rutschte zwischen den Bäumen den Steilhang hinunter, schlitterte auf seinem Hintern, langte Halt suchend um sich, bekam eine Wurzel zu fassen, drehte sich an ihr herum zum Berg hin, konnte sich nicht halten, rutschte nun auf allen vieren, griff bald hier, bald dort nach dem Ast eines Strauches, dem Stamm eines jungen Bäumchens, stieß gegen einen Baumstamm, aber kam nicht zum Halten, sondern glitt seitlich an ihm ab, konnte seine Rutschpartie nur verlangsamen, nicht stoppen – und landete endlich unsanft in einem schmalen, steinigen Bach.

    Einen Augenblick saß er wie betäubt, dann rappelte er sich wieder auf und lief im Bachbett bergab. Den Hund hörte er nicht mehr. Das Wasser war kalt. Wie Nadeln biss es in seine nackten Füße. Doch wenigstens würde es seine Spur verwischen. Falls der Hund ihm doch bis zum Bach folgen sollte, musste er hier seine Fährte verlieren.

    Nun konnte Hans seine Füße vor Kälte schon kaum mehr fühlen. Aber immer wenn er versuchte, aus dem Bach zu steigen, rutschte er zurück. Das Ufer war zu steil. Und wo es etwas flacher wurde, war es so dicht mit Gestrüpp bewachsen, dass er nicht hinausgelangen konnte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als weiter im sprudelnden Bach bergab zu laufen, von Stein zu Stein zu springen, über Felsbrocken zu steigen und an den Kaskaden kleiner Wasserfälle hinabzuklettern. Mehrfach rutschte er auf den bemoosten Steinen aus und landete im Wasser.

    Endlich fand er eine Stelle, an der er sich auf die Böschung ziehen konnte. Er ließ sich ins Unterholz fallen und umschlang seine eisigen Füße. Nass und kalt klebte ihm die Hose am Leib. Rasch stand er wieder auf. Er musste weiter! Wenn er nur wüsste, wo er war!

    Es gab unzählige Bäche im Wald. Viele kannte er von seinen Streifzügen. Diesen hier nicht. Vielleicht führte er weit weg von zu Hause, womöglich ins Nachbartal?

    Wenn er über die Grenze nach Württemberg geriet, ohne es zu merken! Irgendwo in der Nähe musste die Grenze verlaufen. Aber wie sollte man sie erkennen, mitten im Wald, wenn man gar nicht wusste, wo man war? Man durfte bestimmt nicht einfach so über die Grenze gehen.

    Vielleicht wurde sie von den preußischen Soldaten bewacht? Überall waren diese fremden Soldaten, die der Großherzog ins Land geholt hatte, wegen der Revolution. Es hieß, die verhafteten jeden, der verdächtig war …

    Oder wenn er von württembergischen Gendarmen ergriffen wurde und sie glaubten, er wäre ein Dieb oder Wilderer oder sonst einer, der Grund hatte, aus Baden vor der Polizei wegzulaufen!

    Hans presste die Zähne zusammen. Umkehren half jetzt auch nicht. Es war schon zu dunkel. Er würde die Stelle nicht wiedererkennen, wo er in den Bach geraten war. Er würde es nicht schaffen, den Steilhang hinaufzuklettern. Er würde seinen Weg nicht zurückgehen können. Dem Bach zu folgen war seine einzige Möglichkeit. Ein Bach führte immer zu einem Tal – und irgendwann auch zu Menschen.

    Er lief und lief. Das enge Tal weitete sich. Laubbäume wuchsen neben dem Bach und Gras, in dem sich leicht vorankommen ließ. Hans rannte immer weiter. Manchmal stolperte er über einen Stein oder eine Wurzel und fiel hin. Manchmal stieß er sich den Kopf an einem Ast. Es war schon so dunkel. Eine Nacht allein im Wald, im Finstern, in nassen Kleidern …

    Der Bach mündete in einen anderen, größeren. Plötzlich fühlte er einen Weg unter seinen Füßen. War er hier nicht schon einmal gewesen? Im Dunkeln sah alles so anders aus als bei Tag. Da hörte er etwas: das rumpelnde, kreischende Lärmen einer Sägemühle. Jetzt war er gerettet.

    Der Wald lichtete sich und Hans gelangte auf eine große Wiese. Atemlos blieb er stehen. Er sah ein breit ausladendes Haus mit einer Laterne über der Tür und daneben, ganz am Bach gelegen, ein offenes Bauwerk mit lang gestrecktem Dach, unter dem gleich mehrere Leuchtspäne Licht verbreiteten. Dort wurde noch gearbeitet. Ein Mann stand neben dem Sägegatter, das mit Getöse unablässig auf und nieder ging und den mächtigen Baumstamm zersägte, der darunter eingespannt war. Hans seufzte erleichtert auf: die Höllersägemühle. Er war nicht über die Grenze geraten. Er war nicht einmal so weit weg von zu Hause.

    Einen Augenblick zögerte er. Sollte er an der Haustür klopfen und darum bitten, sich trocknen und aufwärmen zu dürfen? Aber der Höllerer war ein harter Mann, der sich sonntags nie in der Kirche blicken ließ – dem wollte er nicht begegnen.

    Entschlossen wandte Hans sich nach links. Dort drüben wusste er den Weg, der ihn nach Hause führen würde. Wenn er bergan rannte, so schnell er konnte, würde er in einer halben, dreiviertel Stunde daheim sein. Wenn er bergan rannte, so schnell er konnte, fror ihn auch nicht so arg.

    Außer Atem stieß Hans die Tür der Hütte auf. Plötzlich spürte er, wie erschöpft er war. Er taumelte in den notdürftig von einem brennenden Buchenspan erhellten Raum.

    »Dass du auch noch mal heimkommst!«, sagte die Mutter, ohne vom Spinnrad aufzusehen. »Die Arbeit hier macht sich nicht von allein!«

    »Ich hab den ganzen Sack voller Pilze!«, erwiderte Hans und nahm den Rucksack ab. »Sogar Steinpilze. Jede Menge!«

    »Steinpilze?« Die Mutter drehte sich zu ihm. »Zeig her!«

    »Pilze! Pilze!«, riefen Ulli und Michi, die beiden kleinen Brüder, die am Fußboden mit Holzstückchen, kleinen Steinen und Eicheln spielten. »Wir wollen Pilze essen!«

    »Ja doch!«, antwortete die Mutter und lachte. »Ich brate gleich ein paar, die sich zum Trocknen nicht eignen!« Prüfend begutachtete sie die Ausbeute, die Hans auf den Tisch schüttete. »Die Pfifferlinge sind ja ganz zerquetscht. Was hast du nur damit gemacht? Warum hast du auch keinen Korb zum Sammeln genommen!« Doch als Hans die Steinpilze hervorholte, die seine Flucht besser überstanden hatten, nickte sie: »Die kann ich für den Winter trocknen. Bist mein Großer!« Kurz fuhr sie ihm durch das Haar.

    »Ich könnte auch Steinpilze sammeln«, ließ Heidi sich vernehmen und erhob sich von der Bank, wo sie zusammen mit der jüngeren Vroni damit beschäftigt war, Flachs zu hecheln.

    »Ich auch!«, versicherte Vroni rasch.

    Hans lachte. »Und dann bringt ihr den Gallenröhrling an oder gar den Satanspilz und wir krepieren dran!«

    »So blöd bin ich nicht!«, widersprach Heidi gekränkt.

    »So blöd sind wir nicht!«, kam Vroni ihr zu Hilfe.

    Die Mutter lachte noch einmal. Dann runzelte sie die Stirn und musterte Hans. »Sag mal, deine Hose ist ja tropfnass!«

    Er zuckte die Achseln. »Ich bin in den Bach gefallen.«

    »In den Bach!« Die Schwestern kicherten und auch die kleinen Brüder fielen ein: »In den Bach!«

    »Sehr lustig!«, murmelte Hans.

    »Wann war das?«, forschte die Mutter.

    Hans zuckte die Achseln. »Schon eine Weile her.«

    »Kannst du nicht aufpassen!«, erregte sich die Mutter.

    »Wenn du krank wirst, was soll denn dann werden, wir brauchen doch deinen Lohn vom Simesbauern, so wenig es ist! Läuft in nassen Kleidern herum, wo es doch abends schon kalt ist! Los, zieh dieses Zeug aus. Her mit deiner Hose, ich häng sie in der Küche ans Feuer, dann ist sie morgen wieder trocken. Und jetzt ins Bett mit dir, wärm dich auf!« Damit wies sie auf das Bett in der Stube, das Ehebett, in dem die Kinder sonst nur liegen durften, wenn sie krank waren.

    Mit einem wohligen Seufzer kroch Hans unter das dick mit Laub und Heu gefüllte Deckbett und drückte sich in die Kissen. »Ich will auch ins Bett!«, forderte Vroni und machte Anstalten, zu ihm zu klettern.

    »Nichts da!«, erklärte die Mutter. »Und jetzt geht wieder an die Arbeit. Und ihr Kleinen räumt euren Kram weg, sonst gibt’s was!« Damit verschwand sie nebenan in der vom Rauch völlig rußgeschwärzten Küche.

    Hans machte die Augen zu. Auf einmal fühlte er die blauen Flecken am Hintern, die er sich bei seinem Sturz geholt hatte. Das Brennen am Knie, das er sich irgendwo aufgeschürft haben musste. Das Stechen in der Brust vom heftigen Atmen beim Rennen. Und eine bleierne Müdigkeit.

    Ein bisschen ausruhen …

    Aber plötzlich war das Bild wieder da: der Hase mit den gebrochenen Beinen, der verängstigte Blick. Und das Bellen des Jagdhundes. Auf einmal begann er zu zittern.

    Er war froh, als die kleinen Brüder zu streiten begannen, wer aufräumen müsste.

    Wie hatte er überhaupt auf den Gedanken kommen können, den Hasen mitnehmen zu wollen! So genau, wie die Mutter es mit den Zehn Geboten nahm! Die hätte ihm das Fell über die Ohren gezogen und nicht dem Hasen …

    Im Bett hielt es ihn nicht mehr. Er wickelte sich in eine Decke – er besaß keine zweite Hose – und setzte sich auf die Bank zu seinen Schwestern. Rasch nahm er ein Bündel geröstetes Flachsstroh, zog sich den Flachsbrecher heran und klappte den beweglichen Hebel auf, der aus drei scharfkantigen, der Länge nach nebeneinander angeordneten Holzleisten bestand. Er legte das Flachsbüschel darunter auf den tischartigen Teil des Flachsbrechers, in den entsprechend vier Holzleisten wie ein Rost eingearbeitet waren. Kräftig schlug er den Hebel wie ein Fallbeil herab, die Leisten griffen ineinander und zerbrachen dabei die Holzteile der gerösteten Stängel. Er klappte den Hebel wieder hoch, zog das Büschel ein Stückchen weiter, wiederholte den Vorgang immer und immer wieder. Die zerbrochenen holzigen Teile spritzten und stoben davon und fielen ringsum auf den Boden. Das sollte nachher der Ulli aufkehren, der ältere der beiden kleinen Brüder, damit der auch etwas tat! Immerhin war der schon vier und sollte sich ruhig ein Beispiel am Fleiß seiner großen Geschwister nehmen.

    Hans brach den Flachs, Heidi und Vroni zogen Flachsbüschel, die schon weiter aufbereitet waren, durch die Hecheln. So arbeiteten sie einträchtig miteinander, um den Flachs zum Spinnen vorzubereiten. Die Mutter pflegte von früh bis spät zu spinnen, wenn sie gerade beim Simesbauern keine Arbeit als Tagelöhnerin bekam. Ihn konnte der Simesbauer immer brauchen. Einem Kind musste der Bauer ja auch nicht so viel Geld zahlen wie einer Erwachsenen.

    Hans warf das fertig gebrochene Büschel in den Korb. Eigentlich war Flachsvorbereiten ja Frauenarbeit. Der Vater machte es jedenfalls nicht.

    Mächtige alte Bäume fällen und sie entasten und entrinden, sodass die Rinde in großen Bahnen heil blieb, und die riesigen Baumstämme die Berge und Steilhänge zu den Polterplätzen in den Tälern hinunterschaffen: Das war richtige Männerarbeit. Und erst recht, die Stämme im Wasser zu Flößen zusammenbinden und auf den wild dahinschießenden Grundbächen zur Kinzig flößen und sie dort in den Schwellweihern vor den Wehren zu noch größeren Flößen zusammenbinden – und dann mit den langen Flößen auf der Kinzig ins Land fahren bis an den Rhein! Das konnten nur starke, geschickte und mutige Männer. Solche wie sein Vater. Wenn er groß war, würde er es auch machen.

    Flößen war Herrengewerbe, pflegte der Vater zu sagen, weil es gefährlich war und etwas eintrug. Ein Flößer war nicht irgendwer. Ein Flößer galt was.

    Hans nahm ein neues Flachsbüschel und begann es zu brechen. Irgendwie war es gemütlich mit den Schwestern so auf der Bank. Ab und zu zischte es leise, wenn ein glühendes Stück vom Leuchtspan abbrach und in die Wanne voll Wasser fiel, in deren Mitte der eiserne Halter für den Leuchtspan stand. Die Mutter achtete immer darauf, dass nie Glut auf den Holzfußboden fiel. Wenn es hier einmal anfängt zu brennen, dann ist alles zu spät, pflegte sie zu sagen. Die Hütte war ja ganz aus Holz gebaut und mit Holzschindeln gedeckt.

    »Wie gut das riecht!«, sagte Heidi und sog den Duft nach gebratenen Pilzen tief ein. »Das haben wir dir zu verdanken, Hans!«

    »Da siehst du mal!«, erwiderte er und grinste.

    »Nur ein Braten wäre noch besser«, fügte Vroni mit einem sehnsüchtigen Seufzen hinzu.

    Der Hase … Rasch sagte Hans: »Am Martinstag, wenn der Vater für die letzte Floßfahrt im Jahr ausbezahlt wird, macht die Mutter einen Braten!«

    »Bestimmt?«, fragte Vroni.

    »Klar doch! So wie jedes Jahr.«

    »Zum Glück ist sicher, dass der Vater bald noch einmal Arbeit als Flößer bekommt«, flüsterte Heidi ihm zu.

    Er nickte. Kurz sahen sie sich an. Vor den Kleinen redeten sie lieber nicht darüber – Vroni, Ulli und Michi verstanden es ja doch nicht.

    Es war kein gutes Jahr gewesen. Und die Eltern machten sich Sorgen. In den anderen Jahren hätte der Vater immer mehr Arbeit haben können, als er annehmen konnte, schließlich war er einer der besten Floßknechte, einer von denen, die ein Floß auch durch wildes Wasser lenken konnten, sogar ein Holländerfloß mit besonders langen und dicken Stämmen. Aber in diesem Jahr war es schwer gewesen, Arbeit zu bekommen. Der Brandnerbauer – der Waldbauer, für den der Vater am häufigsten im Tagelohn als Holz- und Floßknecht arbeitete -, hatte kaum Holz schlagen lassen. Die andern Waldbauern ebenso. Und die Schiffer aus Schiltach und Wolfach, die reichen Holzhandelsherren, hatten kein Holz aufgekauft, um es zum Rhein bringen zu lassen und dort zu verkaufen. Deshalb waren nur selten Holz- und Floßknechte gebraucht worden, um Bäume zu fällen und Flöße zu bauen und sie die Kinzig hinabzufahren.

    Hans wusste das vom Vater und der hatte ihm auch erklärt, das käme daher, weil im Land alles durcheinandergegangen wäre wegen der Leute, die sich gegen die althergebrachte Ordnung erhoben hätten und den Großherzog hätten vertreiben wollen und Revolution machen, aber darüber rede man besser nicht. Am Gerede über die Revolution könne man sich nur den Mund verbrennen. Hans hatte es Heidi trotzdem erzählt. Mit jemandem musste er schließlich darüber sprechen und Heidi behielt Sachen für sich.

    »Jetzt ist ja die ganze Unruhe vorbei«, flüsterte er zurück. »Die preußischen Soldaten haben für Ordnung im Tal gesorgt. Bald wird alles wieder besser!«

    »Was tuschelt ihr denn da so!«, beschwerte sich Vroni. »Ich will auch wissen, wovon ihr redet!«

    »Davon, dass der Vater diese Woche für den Löwenwirt arbeitet«, antwortete Heidi und warf Hans einen Blick zu.

    »Und das ist einer der größten Waldbesitzer und reichsten Schiffer«, fügte dieser hinzu.

    Vroni zuckte die Schultern. »Und das soll so geheimnisvoll sein? Das weiß ich doch selbst! Und danach soll er mehrere Flöße bis nach Willstätt bringen.« Sie setzte ein kluges Gesicht auf. »Und das ist bei Kehl und ist der größte Holzhandelsplatz vor der Mündung der Kinzig in den Rhein!«

    »Was du nicht alles weißt!«, spottete Hans. »Da brauchst du ja gar nicht erst in die Schule!«

    Die Mutter kam aus der Küche und trug die große Pfanne. So hungrig sie auch waren, erst wurde gebetet. Dann fielen sie alle gierig über das Essen her, fuhren mit ihren Holzlöffeln in die Pfanne. Da klopfte es. Wie auf Kommando drehten sich alle Köpfe zur Tür.

    Unter seiner Krätze gebeugt, dem hohen Korb auf dem hölzernen Tragegestell, kam der alte Schlehmichel herein. Hans freute sich, den Hausierer zu sehen. Der kam alle drei, vier Wochen bei ihnen vorbei und wusste immer die neuesten Nachrichten aus dem Schwarzwald und aus den großen Städten am Rhein. Er kam ja weit herum, nicht nur bis nach Offenburg und Kehl wie der Vater mit dem Floß, sondern bis nach Freiburg hinunter und sogar bis nach Basel. Spannend war es, dem Schlehmichel zuzuhören.

    Früher, als Hans klein gewesen oder noch in die erste Klasse gegangen war, hatte die Mutter beim Schlehmichel oft Zucker gekauft. Obwohl es schon so lange her war, wusste Hans noch genau, wie ein Butterbrot mit Zucker schmeckte – er hatte es für sein Leben gern gegessen. Und noch lieber mit Zucker gekochte Marmelade. Aber darauf, dass es das mal wieder gab, wartete er schon seit Jahren vergebens. Zucker war ein Luxus, den sie sich nicht mehr leisten konnten.

    »Spät bist dran, Schlehmichel«, sagte die Mutter, »hab schon auf dich gewartet! Da, kannst dich hersetzen und mitessen. Es reicht für alle!«

    »Pilze. Na, wenn ihr die esst, wird man wohl nicht dran krepieren«, erwiderte der mit unüberhörbarem Zweifel, lud sich ächzend die Krätze von den Schultern, streckte und dehnte sich einmal und setzte sich neben Hans auf die Bank.

    »Da sei mal ganz unbesorgt!«, erklärte die Mutter. »Du wirst schon sehen, wie es schmeckt! Und Kraft gibt es auch!«

    Dann hörte man nichts mehr außer dem Schaben der Holzlöffel in der Pfanne und dem schmatzenden Kauen. Sie aßen die Pfanne leer bis zum letzten Bröckchen und rieben sich ihre Löffel am Kittel blank. »Nicht schlecht«, gab der Schlehmichel zu und legte sich die Hand auf den Bauch. »Was man auf seine alten

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1