Tibethaus Journal - Chökor 55
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Tibethaus Journal - Chökor 55 - Tibethaus Deutschland
Chenagtsang
Das Subtilste Bewusstsein ist unsere Basis
Erklärungen zu den verschiedenen Bewusstseinsebenen und ihre Bedeutung im Sterbeprozess
S. E. Dagyab Kyabgön Rinpoche
Echte Dharma-Praxis bedeutet nicht nur tantrische Praxis, Gottheitenpraxis, Durchführung von Ritualen und Rezitationen. Echte Praxis besteht in der Entwicklung einer korrekten Geisteshaltung, durch die ich weder mir selbst noch anderen Lebewesen Schaden zufüge. Wenn das so ist, dann ist jeder gelebte Moment Dharma-Praxis.
Eine korrekte Dharma-Praxis wird dadurch bewirkt, dass wir Körper, Rede und Geist, die sogenannten drei Tore, ständig „bewachen", also äußerst achtsam sind. Denn wir sind permanent mit irgendwelchen Handlungen geistiger, sprachlicher oder körperlicher Natur beschäftigt.
Die Wirkung jeder einzelnen Handlung wird auf dem Subtilsten Bewusstsein abgelegt und vernichtet bzw. neutralisiert die Potentiale, die aus früheren unheilsamen Handlungen entstanden sind. Ähnlich einer Waage, die sich auf die Seite neigt, auf der mehr Gewicht liegt.
Wenn wir mit dem Geist und am Geist arbeiten und versuchen, unsere Kraft zum Nutzen der Lebewesen einzusetzen, dann haben wir immer genügend Zeit für die Praxis, nämlich ein ganzes Leben lang.
In unserem Leben gibt es keine Sicherheit.
Die heutige Zeit wird traditionell als degeneriert bezeichnet. Zwar gibt es sehr viele technische Errungenschaften, diese können aber gleichzeitig unser Leben bedrohen, z. B. durch Autoabgase. Dabei wurden die technischen Errungenschaften eigentlich entwickelt, um uns zu helfen, und nicht, um uns zu schaden.
Man muss sich darüber im Klaren sein, dass der Körper sehr verletzlich ist, er kann leicht zerstört werden. Eine Erkältung kann manchmal tödlich enden, und eine winzige Veränderung in unserem Körper oder in unserer Umgebung kann für uns tödliche Konsequenzen haben. Aber es gibt auf der anderen Seite natürlich auch Menschen, die nicht sterben können und z. B. jahrelang im Koma liegen, weil die Verbindung von Körper und Geist sehr stark ist.
Wenn der Tod kommt, können wir nichts von dem, was wir besitzen und was uns das Leben so angenehm macht, mitnehmen.
Weder die Familie, die Freunde noch unseren Reichtum, nicht einmal den eigenen Körper können wir über den Tod hinaus behalten.
Alles, was uns im alltäglichen Leben eine so große Hilfe ist, wird angesichts des Todes bedeutungslos. Dann kann uns nur eine effektive Praxis helfen, mit der wir den Geist ruhig und klar halten. Wir müssen uns an den Todesprozess gewöhnen und uns im Klaren darüber sein, was während dieses Prozesses abläuft.
Sterben ist wie eine Reise: Wenn wir die Fahrtroute genau im Kopf haben, kann das sehr hilfreich sein. Angst ist eher kontraproduktiv.
Betende Chinesin im tibetischen Tempel Yong He in Beijing © Elke Hessel
Was die Angst betrifft, so ist es wichtig zu wissen, wie wir meditieren müssen, um Anhaftung zu überwinden. Durch das Nachdenken über den Tod darf man nicht nervös oder ängstlich werden. Wenn aber Angst auftritt, so mache ich die Angst selbst zum Objekt meiner Achtsamkeit: Warum habe ich Angst? Wovor habe ich Angst? Wo sitzt die Angst? Wie fühlt sie sich an? Ist sie immer gleich oder ändert sie sich? Ist diese Angst gut begründet oder nicht?
Wichtig ist, dass wir begreifen, dass das Subtilste Bewusstsein die eigentliche Basis für unsere Identifikation bildet. Körper und Geist in ihrer gröberen Form sind dagegen nur wie ein vorübergehendes Hilfsmittel. Daran festzuhalten, sich darauf zu stützen, wäre reine Selbsttäuschung. Das Subtilste Bewusstsein jedoch wandert durch die Existenzen, und für das Subtilste Bewusstsein ändert sich im Tod eigentlich nichts.
Es ist hier sicher sinnvoll, erst einmal zu untersuchen, was oder wer sich im Tod wovon trennt. Ganz allgemein ausgedrückt kann man sagen: Im Tod trenne ich mich von meinem Körper.
Nur wer ist „Ich? Mit „Ich
ist hier das Bewusstsein gemeint, das sich vom Körper trennt. Nun unterscheidet man im Buddhismus drei verschiedene Ebenen des Bewusstseins bzw. des Geistes: Man spricht von grobem, feinem und subtilstem Bewusstsein. Damit wir die Erklärungen zu Tod und Wiedergeburt verstehen, sollten uns die Unterschiede klar sein.
Was ist Geist?
Der Geist hat zwei Eigenschaften: Er ist klar und erkennend, und zwar gilt das für alle drei Ebenen des Geistes: die grobe, die feine und die subtilste.
Im Tibetischen verwenden wir in dem Zusammenhang drei Begriffe:
„Säl-wa, was so viel wie Klarheit heißt, „Rig-pa
, das bedeutet Erkennen oder Wahrnehmungsaktivität (es handelt sich nicht um das Rigpa, das im Dzogchen eine Rolle spielt), sowie „Dzin-pa", dies kann als Wahrnehmungsfähigkeit bezeichnet werden (wörtlich: halten, erhalten).
Mit Klarheit ist hier nicht die Klarheit z. B. eines Fotos gemeint, sondern dass die Natur des Geistes selbst klar ist. Der Geist ist wie der freie Raum, er ist so wie der Himmel. Damit wird ausgedrückt, dass der Geist selbst nicht behindert wird. Der Geist kann zwar durch andere geistige Faktoren behindert werden, diese Hindernisse sind aber von vorübergehender Natur. Von seiner Natur her ist der Geist ungehindert. Die Konzepte – bzw. Geistesgifte – „beflecken" den Geist nur insofern, als sie für uns (vorübergehend) die Sicht auf seine eigentliche Natur verstellen. Die Konzepte selbst gehören aber nicht zur Natur des Geistes. Der Ausdruck Klarheit bezieht sich also auf das Subjekt, den Geist, und die Klarheit ermöglicht es dem Geist, ein Objekt zu erfahren bzw. zu erkennen. Die Fähigkeit des Erkennens ist eine Eigenschaft des Geistes (also des Subjekts), die das Objekt in gewisser Weise mit einbezieht, denn im Erkennen erscheint dieses Objekt im Geist. Im Prozess des Erkennens verbindet sich das betreffende Sinnesbewusstsein mit dem Objekt, und es entsteht eine Wahrnehmung.
Wenn ich z. B. ein Mikrofon sehe, dann geht natürlich das Mikro nicht in meinen Körper hinein, sondern durch die Kraft der Sehorgane verbindet sich das Sehbewusstsein mit dem Objekt, und ein Abbild des Objekts entsteht im Bewusstsein. Ich sehe nicht das Mikro selbst, sondern das Bild in meinem Geist. Dieses Bild erscheint leider nicht klar, sondern es wird durch die geistigen Gifte in meinem Geist getrübt. Mit diesen Wahrnehmungen und getrübten Bildern erzeugen wir unsere gesamte Welt.
Säl-wa und Dzin-pa, die Klarheit und die Wahrnehmungsfähigkeit, stehen in enger Beziehung zueinander. Das Erkennen (Rig-pa), die Aktivität des Wahrnehmens, hat wiederum eine enge Verbindung zur Fähigkeit des Wahrnehmens (Dzin-pa), im Englischen sagt man hier „perceiver (für Dzin-pa / halten), Rig-pa (Erkennen) wird mit „perceived
bezeichnet. Im Ausdruck „perceived (dt.: wahrgenommen) erkennt man bereits im Wort selbst, dass eine Handlung stattgefunden hat. Daher ist es gut, Rig-pa, „Erkennen
, auch mit „Wahrnehmungsaktivität" zu übersetzen.
Unsere gesamten Wahrnehmungen sind mit dieser einen Existenz verbunden. Der grobe Geisteszustand wird mit dem Tod beendet. Er wird im nächsten Leben nicht wieder aktiviert, er ist einfach zu Ende. Das heißt aber nicht, dass der Geist selbst zu Ende geht. Diejenigen, die sich in der Meditation der Entwicklung von Konzentration geübt haben, wissen sicherlich bereits, dass es verschiedene Bewusstseinsschichten gibt. Im Alltag sind wir durch unsere gewöhnlichen Aktivitäten oft abgelenkt. Wenn wir uns aber in der Meditation oder im Studium einem Thema nähern, dann vertieft sich die Erfahrung. Wir wechseln sozusagen auf eine andere Ebene des Bewusstseins. Eine solche Erfahrung hat jeder schon einmal gemacht: Ist man bei der Arbeit sehr konzentriert, so stören Einflüsse von außen – z. B. Geräusche – nicht mehr. Gröbere Aktivitäten des Bewusstseins wie das Hören, „rutschen" sozusagen in ein anderes Stockwerk. Deswegen stören sie nicht mehr, wenn man auf eine tiefere Bewusstseinsebene wechselt.
Entwickelt sich die Meditation weiter, so wird der geistige Zustand klarer, tiefer und freier. Störungen sind nicht mehr möglich. In der Meditation kann man und im Tod wird man automatisch mit dem Subtilsten Bewusstsein in Berührung kommen. Das bedeutet: In diesem Moment der tiefen Meditation bzw. im Moment des Todes „landen" wir auf dieser Ebene. Das ist nur möglich, wenn die groben Schichten, die gröberen geistigen Konzepte zur Ruhe gekommen sind, dann kann das Subtilste Bewusstsein erfahren werden. Im Alltag selbst ist das ohne Meditation nicht möglich.
Die verschiedenen Schichten des Bewusstseins bestehen natürlich nicht unabhängig voneinander, sondern sie stehen in Beziehung: Das Subtilste Bewusstsein ist sozusagen die Zentrale, es erzeugt ein feineres Bewusstsein, dieses ein gröberes Bewusstsein und so fort; die gröberen Schichten dehnen sich bis ins Unendliche. Das Ganze ähnelt einem Spinnennetz, wenn wir es grafisch darstellen wollten.
Dieses wirre Netz verdeckt die Reine Sicht auf das Subtilste Bewusstsein. Wir haben keine Chance, die Natur des Geistes zu erfahren, solange das Netz nicht entwirrt ist und die Konzepte nicht beseitigt sind. Das Subtilste Bewusstsein hat damit kein Problem, denn es ist klar und ungetrübt von Natur aus. Aber es ist für uns durch die gröberen Schichten des Geistes verdeckt. Wir können die Klare Natur des Geistes im Moment nicht sehen und erfahren.
Noch einmal: Da wir offensichtlich in der Meditation auch tiefere Schichten des Bewusstseins erreichen können, sollte uns klar sein, dass es sich nur um ein zeitlich begrenztes, ein vorübergehendes Problem handelt, das wir irgendwann beseitigen können, auch wenn das sicher nicht einfach ist.
Im Tod trennen sich der Körper und auch die gröberen Schichten des Bewusstseins vom Subtilsten Bewusstsein, bzw. das Subtilste Bewusstsein trennt sich von diesen. Das ist tatsächlich eine Veränderung, aber keine Veränderung für das Subtilste Bewusstsein selbst, das der Träger aller Existenzen ist.
Mauer-Chörten in Samye, Tibet © Elke Hessel
Ich möchte an einem einfachen Beispiel versuchen, die Zusammenhänge beim Übergang von einer zur nächsten Existenz etwas deutlicher zu machen. Im Schlaf werden ebenfalls bestimmte Anteile der gröberen Bewusstseinsschichten deaktiviert. Obwohl der Schlaf für uns das Gestern vom Heute trennt, so betrachten wir diese Trennung nicht als dramatisch. Das Bindeglied (der Träger) zwischen den verschiedenen Zeitabschnitten sind Körper und Geist, die uns eine Existenz lang begleiten, auch wenn im Schlaf immer wieder eine Unterbrechung der Bewusstheit stattfindet. Wir sind uns der Kontinuität sicher, weil für uns die Erfahrungen „Heute und „Gestern
offensichtlich sind, wir erinnern uns an ziemlich viele „Heute und „Gestern
. Was eine vorherige oder nächste Existenz betrifft, so haben wir dafür wenig Konkretes in der Hand und sind daher ein wenig misstrauisch.
Um unser Misstrauen zu überwinden,