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Armut macht frei (1) Leiden als Luxus: Apokalyptische Realsatire
Armut macht frei (1) Leiden als Luxus: Apokalyptische Realsatire
Armut macht frei (1) Leiden als Luxus: Apokalyptische Realsatire
Ebook952 pages13 hours

Armut macht frei (1) Leiden als Luxus: Apokalyptische Realsatire

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About this ebook

Sie haben noch nicht genug? Es kann nur schlimmer werden.
Verschwörungstheorien und warum die Wirklichkeit sie alle übertrifft. Sinn und Zweck der Verschwörungstheorien: Sie sind alle zusammen selbst eine. Warum die wirksamsten Geheimgesellschaften so geheim sein müssen, dass selbst ihre eigenen Mitglieder sie nicht kennen. Und nicht wissen, dass sie Mitglieder sind. Warum Gutmenschen zwar lieb sind, aber sich schon seit Tausenden von Jahren irren. Wie man in unserem Zeitalter der Überwachungsgesellschaft laut etwas verheimlicht. Warum Wahlen nur noch die Bedeutung eines Song Contests haben und wie sich Demokratie abschaffen lässt. Wie in der Damenwelt der BH zurückkehren konnte? Nein, das bleibt ein Rätsel.
Wie man nichts verkauft, das aber teuer. Warum uns allen deshalb bald der Atem stocken wird. Wie ein Familienvater die Kampagne betreibt, Kinderschänder reinzuwaschen.
Am Ende große Bombenstimmung.
Igitt!
LanguageDeutsch
Release dateNov 19, 2015
ISBN9783739281179
Armut macht frei (1) Leiden als Luxus: Apokalyptische Realsatire
Author

Werner Laraß

Jahrgang 1953, Naturwissenschaftler, schreibwütig, immer mit einem Hang zur Satire. Aber Privates bleibt privat.

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    Book preview

    Armut macht frei (1) Leiden als Luxus - Werner Laraß

    Inhaltsverzeichnis

    Drohung

    Kapitel 1: Unzureichende Damen-Oberbekleidung

    Kapitel 2: Zureichende Bekleidung von Menschen und Ämtern

    Kapitel 3: Tritte fassen

    Kapitel 4: Kreise ziehen

    Kapitel 5: Richtig fieser Schmerz

    Kapitel 6: Jenseits von Sodom und Gomorrha

    Drohung

    Diese Erzählung ist eine Satire. Das heißt, die darin dargestellten Vorgänge und Zusammenhänge entsprechen nicht den tatsächlichen Verhältnissen. Sie sind in Wirklichkeit sehr viel schlimmer. Ähnlichkeiten mit lebenden, toten oder noch nicht geborenen Personen sowie mit geschehenen oder bevorstehenden Ereignissen sind weit untertrieben.

    Einige Namen werden nicht genannt, weil sie austauschbar wären; jeder aufgeweckte Leser wird sofort mehrere Anwärter für jeden Einzelfall wissen, und jede Vermutung trifft wahrscheinlich zu. Belegbare Skandale sind aber benannt.

    Wenn Teile des Geschehens ausgetretene Erwartungen bedienen, dann weise ich auf die Sachkenntnis zuständiger Kreise hin, in denen man weiß: Alle Klischees stimmen. Warum hätte ich das verheimlichen sollen?

    Warnung: Dieser Text

    enthüllt viele neue Verschwörungstheorien,

    bedient niederste Instinkte, insbesondere solche des parthenophilen Sadismus und zugehörigen Voyeurismus,

    ist zynisch, sarkastisch und ohne jede Ehrfurcht,

    untergräbt jegliche Moral, indem er sie als Täuschung entlarvt,

    endet in melodramatischem Monumentalkitsch,

    alles dies nur, um es unter breiten Volksmassen als Reißer zu verkaufen. Denn der eigentliche Inhalt ist langweilig, ausschweifend theoretisch, politisch und philosophisch.

    Die wichtigsten Erkenntnisse stammen aus langwierigen Nachforschungen, deren Anstoß mir eine Freundin gegeben hat, die ich hier Biggi Bergl nennen möchte; wer mich näher kennt, weiß genug. Was sich daraus ergeben hat, ist weitaus mehr, als Biggi selbst ahnen darf. Ihr Leben ist nicht deshalb eingeschnürt wie das einer Tochter islamischer Fundamentalisten, weil sie zu viel weiß, sondern weil sie zu viel wissen könnte.

    Aber so lieb sie auch immer ist, verschwinden ihre Umstände für den ermittelnden Schriftsteller längst vor dem Ausmaß der Hintergründe. Dort beißt jetzt der Kampfhund zu. Im weiteren Verlauf stehen die allgemeinen Folgerungen, Hinweise auf die Spuren im einzelnen erscheinen hier nicht; sie sind viel teurer, als jemals ein Verlag bezahlen könnte. Außerdem sind Geheimdienste, Rüstungsindustrie und andere Mitspieler in Frau Bergls Abgrund weitaus zu popelige gesellschaftliche Hilfskräfte, um in diesem Buch wichtig zu werden; sie sind ihrerseits nur Spielzeug grundlegender (Un-)Kulturtechniken, um die es ab hier geht. Das nachfolgende Märchen enthält also vorläufig nur die Grundsätze, keine namentlichen Einzelheiten. Vorläufig; neugierig darf man bleiben.

    Da sich trotzdem kein Politiker und kein Unternehmerverband gefunden hat, der mir mindestens zehn Millionen Euro Schweigegeld bezahlen wollte, um die Veröffentlichung dieses Buches zu verhindern, ist es jetzt auf dem Markt. Verharmlosend und beschönigend; das nächste kostet sehr viel mehr.

    Und falls jemand hoffen sollte, jetzt noch etwas dagegen tun zu können, sei darauf verwiesen, wie Dr. Friedhelm Wallner weiter hinten im Buch genau solchen Versuchen vorbeugt.

    Es gibt Leute, die meinen, ein Roman brauche Kapitel, also irgendeine Unterteilung. Dieser hier ist nicht wie gewohnt quer geschnitten, sondern in Längsrichtung als Zopf immer neu verflochten. Aber versuchen wir es trotzdem mal. Dreizehn scheint mir eine gute Zahl zu sein.

    1

    Unzureichende Damen-Oberbekleidung

    Ysolde kann man nicht heißen. Aber manches kann nur deshalb nicht sein, weil es nicht sein darf. Etwas darf nur darum nicht sein, weil es nicht erlaubt ist. Aber wenn man es sich erlaubt, darf zwar nicht, kann aber manches eben doch sein.

    Das war eine eigene Geschichte, sicher wert, sie irgendwann zu erzählen, wenn Zeit genug dafür ist. Vom Standesbeamten, der nach dem Krieg den Druckbetrieb des Vaters um Faksimiles der alten Formulare bat; wer geübter Fälscher war, konnte so etwas. Und nun bekamen ein paar Leute, die sich als Nazis ausgezeichnet hatten, rückwirkend jüdische Ahnen. Da muß doch jeder verstehen, daß man sich zu ducken hatte, den Arier vortäuschte, um zu überleben; gab es eine bessere Entnazifizierung? Ein Großvater namens Gabriel Schmul, eine Oma, die Sarah Weinheimer hieß . . . Da fragte niemand mehr genauer nach, warum jemand unbedingt und ausgerechnet bei der SS untergetaucht war . . .

    Diese Masche war am Biertisch aufgekeimt, und sie hatte nachdrücklich geholfen, sogar bei blonden, blauäugigen Kunden. Auch solche Juden gibt es, wie man weiß. Die angeblichen Juden zahlten gut, damals in Zigarettenwährung. Nach der Arisierung nun die Judifikation; Zeiten ändern sich. Vater Schlatt lieferte die nachgealterten Vorlagen, der Freund trug ein. Man half sich gegenseitig aus, man hatte beieinander etwas gut, und so bekam Jahre später aus Dankbarkeit auch die Tochter ihr Ypsilon, wenn sie sonst schon nur Schlatt heißen durfte.

    Aus der Fälscherwerkstatt entstand die blühende Druckgrafikfirma Schlatt, später Grafik-Design, noch später Design-Center.

    Söldchen brauchte von alledem nichts zu wissen. Sie wußte es auch nicht. Sie wuchs behütet auf, studierte ebenfalls Grafik-Design, Betriebswirtschaft, ging ins Werbegeschäft, wurde etwas, wurde mehr, das sagte sie jedem, blieb nichts, und das wußte keiner.

    *

    Der Cognac stand neben dem Bett. Nichts sonst half mehr. Der Wecker war auf halb sieben eingestellt, und aus gewissermaßen nachtragendem Stolz hatte sie daran nichts geändert. Aber sie hatte ihn stumpf gestellt, das heißt, nicht mehr scharf; er schaltete die Musik und die künstlich fröhlichen Stimmen der unausgeschlafenen Rundfunkplauderer längst nicht mehr selbsttätig ein.

    Selten wurde sie noch vor elf wach. Und dann reichte ihr erster Griff gerade zur Flasche und dem Schnapsgläschen daneben. Es war ein kleines; sie hatte noch immer Disziplin. Nur eins: Disziplin. Den Schwenker hatte sie weggestellt, denn er gab ihr keine erkennbare Obergrenze. Und außerdem war es das billige Zeug für zehn Mark; – fünf Euro, ja richtig. Als es ihr noch gut ging, war sie gewöhnt, in der ordentlichen Währung zu rechnen, für die man etwas bekam. Die neue reichte nun nicht mehr für tauglichen Stoff, er hatte nur noch die Bedeutung von Alkohol.

    Lara hatte schon lange nicht mehr angerufen. Kein Wunder, wenn sie nie mehr als den elektrischen Ablehner antraf.

    „Hallo, Yso! So ließ sich Söldchen schon immer nennen, gesprochen natürlich „Üso. Ganz enge Freunde riefen sie „Sö", aber das mochte sie nicht, denn da blieb ja ihr kostbarer Anfangsbuchstabe unbeachtet. Irgend jemand wollte einst erklären, der Umlaut sei ja nur eine Silbe weitergerutscht, aber das ließ sie nicht gelten, denn das sprach nicht für sich.

    „Ich weiß ja, du bist so viel im Ausland, perlte die Freundin. „Aber du könntest dich doch wirklich mal melden. Na ja, danke für den Anruf aus Hongkong, aber das ist doch auch schon wieder sechs Wochen her. Red’ mir nicht ein, daß du in der ganzen Zeit nie hier warst. Also: Ich hab’ Karten für die Salzburger Festspiele, und Helmut mag keinen Bruckner. Sein Platz ist frei, du kannst also mitkommen, aber ich muß das bis übermorgen wissen. Sag’ auch Bescheid, wenn du nicht kannst, wär’ doch nett. Dann geh’n wir wenigstens mal wieder ins ,Schneider’s‘, war’n wir doch schon so lange nicht mehr. Also, bis dann!

    Lara war eine der letzten, die es noch versuchten. Lange hatte Yso sich mit Arbeitsüberlastung herausgeredet, bis nach und nach der Freundeskreis sie aufgegeben hatte. Das war doch immerhin noch ein ehrenvoller Abgang: berufliche Überforderung. So oder so brach alles weg, dann war es doch besser, man verblieb als überbeschäftigte Streberin in verschiedenen Erinnerungen.

    Yso hatte am Weigerungsgerät mitgehört. Erst halb zehn. Aber jetzt war sie wach, und es war zu spät am Vormittag, um noch einmal neu einzuschlafen. Sie goß sich ihr Gläschen ein. Die Vormittagssonne knallte durch die handbedruckten Designervorhänge ihres Penthauses. Hier oben, wo niemand hineinsehen konnte, leistete sie sich die Besonderheit einer Verglasung rundum, sogar bis ins Bad. Es war anspruchsvoll gewesen, so etwas zu finden.

    Langsam rechnete sie nach. Ein letztes Rettungsbudget hatte sie bisher noch gehabt. Aber nein. Immer weiter hatte sie die Erkenntnis vor sich her geschoben, immer tückischere Verfahren entwickelt, es noch ein bißchen zu strekken, die Titanic einen, vielleicht einen zusätzlichen Monat über Wasser zu halten. Aber jetzt war es so weit. Endgültig. Da war nichts mehr zu schieben und langzuziehen. Wo nichts übrig ist, läßt es sich nicht herausschinden.

    Nein, noch hatte sie ihren Stolz. Es gab kein zweites Gläschen. Das durfte sie sich aufsparen bis – sie sich auch diesen Fusel nicht mehr leisten konnte und die Frage sich erledigt hatte. Jetzt blieb sie freiwillig nüchtern, dann gezwungen.

    Dafür aber gleich eine Zigarette.

    „Man" raucht nicht mehr. Sie war eine der Koryphäen gewesen, sie hatte sich Sonderrechte herausnehmen können. An ihr hatte es ganz sicher nicht gelegen, daß die Firma pleite gegangen war. Nein; Firmen gehen heutzutage pleite, das ist der natürliche Vorgang. Es gibt eine Halbwertszeit, denn kein Unternehmen bringt beliebig lange lebend mehr Geld als durch einen geschickten Untergang. Den Zeitpunkt dafür hatte der Chef gefunden; es ist ähnlich, wie man ein Schiff rechtzeitig versenken muß, um nach der Abschreibung und vor einer dringenden Renovierung die Versicherung dafür zu kassieren.

    Und jetzt war sie zu alt, um noch einmal irgendwo unterzukommen. Da half alle Tüchtigkeit nichts; heutzutage werden nur frische Kräfte gesucht. Die sind billiger und unterwürfiger. Gerade sie selbst hatte darauf immer genau geachtet.

    Also: Noch ein letztes Mal Theater. Aber wie? Sie konnte Lara nicht begegnen, ohne mindestens drei neue Garnituren zu tragen, neu nur so verstanden, daß Lara sie vor einem halben Jahr noch nicht gesehen hatte. Und natürlich erste Preislage, denn nur so kannte man sie. Dann das Hotel in Salzburg, essen gehen. Nein.

    Das Konto war am unteren Ende des Überziehungskredits. Sie brachte schon das nicht mehr wieder herein. Den Porsche verkaufen. Aber dann? Und was erzählte sie Lara, womit sie anreiste? Sie konnte zum Ersatz etwas mieten, vielleicht mal einen BMW oder Mercedes CLS, das Auto ohne Fenster, damit Lara etwas Neues zu sehen bekam. Aber was konnte sie für den alten einhandeln, wenn sie ihn so eilig abstoßen mußte? Nahm ihn jemand vorläufig in Zahlung? Kann man ein Auto beleihen, und wenn, wie viel setzt man zu, wenn man es nicht mehr auslöst?

    Auch der „Ausredendienst" war teuer. Ihre Briefe, Postkarten, die Umleitung ihrer Anrufe und SMS aus aller Welt kosteten einen Haufen Geld, der nun nicht mehr da war. Potemkinscher Wohlstand ist teurer als ein echter.

    Betriebswirtschaft hatte sie studiert. Sie wußte sicher: Das Wochenende mit Lara rechnete sich nicht heraus.

    Der Niagarafluß strömt auf seine Kante zu. Und dann hat er sie erreicht. Dort unten ist der Boden. Dies war der Augenblick, als sie in den freien Fall überging.

    *

    Noch war man dabei, dem jungen Geschöpf einen Namen zu geben. Urban Neuspring hatte zwar die Aufgabe, seinen eigenen Geist zu verkaufen, aber er mußte sich mit der Runde doch einigen. Es ging ja noch um seine Bewährung; der Vertrag war nicht endgültig unterzeichnet. Und auch schließlich: Mit wem? Der ganze Kreis war ja erst dabei, sich zusammenzufinden.

    Einer der vielen beteiligten Aufsichtsräte fand jedenfalls: „Auch die Abkürzung muß aufmunternd klingen. Man war bei „Aktion Aufschwung hängengeblieben. Aber A-A klingt so, wie Kleinkinder ihre endgültige Leistung nennen; das war nicht gut.

    Immerhin waren die meisten hier Mitglieder, Anhänger, Förderer oder heimliche Bewunderer der AMSA, „Aktion Moderner Sozialer Aufbau", einer teuer bezahlten Werbekampagne der Arbeitgeber, um der breiten Bevölkerung genau das Gegenteil zu verkaufen. Man konnte darin sogar Fördermitglied werden, natürlich ohne jede Mitbestimmung. Aber das hieß, man durfte Geld darin einsetzen; die Rückschrittler ließen sich ihre Zerstörungsarbeit gern auch noch fremd bezahlen.

    „Wäre doch schön, wenn wir irgendwas aus ,okay‘ machen könnten", meinte der hochbezahlte Redakteur eines verbreiteten Nachrichtenmagazins, ein bewährter Sympathisant dieses Kreises.

    „Wir sollten irgendwie auch ,Bürger‘ mit einbauen, fand eine führende Abgeordnete einer vorbelasteten Partei. „Das betrifft heute jeden in der ,Neuen Mitte‘. Damit sind alle eingebunden. Alle Wähler, meinte sie also. Links ist man nicht mehr, rechts zwar schon, aber das ist igitt, also sind alle in der Mitte.

    „Wie wär’s mit ,BOAH, EY‘?" fragte ein Großaktionär.

    „Bürger-Organisation Aufschwung heute, meinte Urban schlagfertig; er mußte sich bewähren, aber so etwas konnte er ja gut. „Na schön, für das E irgendwas mit ,Elite‘, aber das läßt sich schwer einbinden. Und was machen wir mit dem ,Y‘?

    „Natürlich ,yes‘", schlug wieder der Redakteur vor.

    „Sehr gut, log Urban, „aber das hat keinen Zusammenhang mehr. Wir brauchen einen Grund für das Komma.

    „Und ,Aktion‘ sollte doch drinbleiben, meinte die teure Psychologin; „das beweist positives Denken.

    Die junge Dame, die zwischendurch Getränke brachte, war keine Geschäftsfrau; sie trug ein Trägertop, deutlich ohne BH, ganz gegen die Mode, Mikrorock, keine Strümpfe; das darf sich eine Angehörige der hier versammelten Kaste nicht erlauben, sie aus ihrer Schicht mußte es. Nackt waren schon immer die Armen, Abhängigen, nackt tanzt die Garde im Nachtlokal, aber der Star singt angezogen. Die solchem Brauch angemessen also ziemlich unbedeckte Hosteß brachte Saft, Kaffee und Wasser und strahlte steif aus ihrem totgeschminkten Gesicht. Ihre freigiebig ausgestellte Haut war aus der Nähe unschön, rauh und mit roten Kraterchen überstreut. Urban bestand auf seinem Pils. „Ich habe es doch schon einmal gesagt."

    Rundum hoben sich die Brauen. Es mußte sein. Er war er. Zwischen allen diesen Anzügen mit Krawatten, schwarzen Kostümen und Strumpfhosen saß er da in Jeans und Pullover. Er war das Genie. Die anderen, ob Unternehmer, Manager oder Politiker, mußten sich anpassen, aneinander, denn sonst war niemand dafür da, er aber war der Künstler, der sprühende Geist. Seht her: Ich zeige euch, wo es langgeht, aber ich habe nicht nötig, selbst langzugehen. Er pokerte hoch. Es ging um einen mehrstelligen Millionenbetrag, wenn seine Beratungsfirma den Auftrag endgültig bekommen sollte. Und es ging um ein mindestens einstelliges Millionengehalt für ihn selbst, wenn das sein Verdienst war.

    „Wir schenken hier doch keinen Alkohol aus während der Arbeitszeit", flüsterte verschüchtert folglich das folgsame Gehorsamsmädchen.

    „An mich schon."

    Man ist heutzutage seriös und trinkt keinen Alkohol. Nicht nur das; den meisten der forschen Neumenschen ist es zu wenig, daß sie selbst darauf verzichten. Weitaus mehr kommt es darauf an, anderen die Freiheit zu verwehren, die man sich selbst nicht nimmt. Es gehört sich nicht, daß irgend jemand auf der Sitzung so etwas trinken auch nur dürfte. Nicht weil jemand sich dann vielleicht schlecht benehmen könnte; darauf kommt es nicht an. Es geht um ein Prinzip: Wo kämen wir denn da hin, wenn Menschen für sich selbst verantwortlich wären?

    Ein Urban Neuspring verlangt um so mehr sein Bier, ausdrücklich schon am fortgeschrittenen Vormittag. Hier steht der Sünder, der es sich leisten kann, das Alpha-Männchen. Er war einer der Gedankengeber, er konnte sich Sonderrechte herausnehmen. Ich brauche euch nicht, aber ihr braucht mich. Und da saßen sie also vor ihm in ihren Anzügen und Kostümen, wo er seine Markenjeans trug und das Jackett ausdrücklich um die Stuhllehne gehängt hatte. Eigentlich schmeckte ihm das Bier jetzt noch gar nicht, aber es gehörte zu seinem Auftritt.

    Womit er sich dieses Sonderrecht einmal erstritten hatte, das leuchtete ein: Wenn auf einer Veranstaltung Alkoholgebrauch ausdrücklich verboten werden muß, was für ein Licht wirft das auf die Teilnehmer? Alles haltlose Säufer, die man am Händchen nehmen muß. Nein, in solchen Kreisen möchte ich mich nicht bewegen. Entweder traut ihr mir zu, daß ich für mich selbst entscheiden kann, oder ich bin nicht der Richtige für euch. Und schließlich auch: Wer denn verbietet mir das? Glaubt da etwa jemand, er könne klüger sein als ich? Nein, diese Beleidigung lasse ich nicht auf mir sitzen. In einem solchen Laden arbeite ich nicht mit. Er konnte sich das erlauben; dafür war er unentbehrlich genug.

    Alpha-Gehabe ist manchmal schon vorbeugend wichtig. Es gab diesen uralten Politiker, der immer und überall rauchen durfte, und niemand wagte, ihm dieses Recht zu bestreiten. Also trank Urban sein Bier und manchmal sehr ausdrücklich einen Korn dazu. Er war selbst der erste, der verstand, daß solche Regeln keiner Vernunft gewidmet sind; es geht allein darum, Menschen zu gängeln, um das Grundrecht der einen, über die anderen zu bestimmen. Einzig bestritt er daran, daß er jemals einer sein konnte, über den bestimmt wurde; er bestimmte. Anderen das Bier zu verbieten hätte ihn solange nicht gestört, wie er selbst es trinken konnte. Es gibt den „Mullah-Effekt", eine Entdeckung Neusprings: Man lebt selbst karg, und man befiehlt zugleich allen anderen, es auch zu tun. Khomeini hatte ganz sicher außer seiner Machtgier keinen Spaß im Leben, und diese Gier lebte er darin aus, im Namen des Propheten den Spaß auch allen anderen zu verbieten.

    Ein Beispiel aus unseren Breiten: In Landschaften mit überwiegend katholischer Bevölkerung gibt es sogenannte „stille Feiertage". Das ist zum Beispiel Allerheiligen. Aber am Vorabend haben Geschäftemacher Halloween eingeschleppt, eigentlich doch altes keltisches Erbe und darum trotz allem berechtigt. Dabei treibt man mit Entsetzen Scherz und feiert große Parties.

    Aber ab der Nacht verbieten die Behörden Tanz. Nun könnte man wohl noch anerkennen: Menschen, die sich den trüben Herbst zusätzlich erschweren wollen, indem sie ihre Depressionen hätscheln und innere Einkehr halten, die wollen dabei nicht durch muntere Musik gestört werden. Aber welcher Grund läßt sich vorschützen, Tanzbetrieb auch da zu verbieten, wo kein Geräusch nach draußen dringt? Es gibt schalldichte Clubs genug, schon deshalb, weil manche davon in Wohngebieten liegen. Dort hinein begibt sich nur, wer will. Selbstverständlich geht es nur um das Vergnügen derer, die eine Unterhaltung selbst nicht suchen, sie auch anderen verderben zu dürfen. Es gibt keinen Gewinn daraus, sondern nur einen Verlust für andere. Das allein ist das Anliegen: andere bevormunden zu dürfen. Deshalb sind solche blödsinnigen Gesetze bis heute erhalten geblieben.

    Natürlich wird niemand katholisch, weil zu Halloween oder Karfreitag Tanz verboten ist. Im Gegenteil; wer sich vergnügen will, fühlt sich vom katholischen Glauben belästigt und abgeschreckt. Aber nein; wir dürfen dir verbieten, daß du tanzt. Das Grundrecht, daß Menschen über Menschen bestimmen dürfen, ist nun einmal stärker als jede Vernunft.

    Also drehte er dies um: Er verlangte eine Vergünstigung für sich, nicht weil er sie wirklich wollte, sondern weil er sich nichts von anderen verbieten ließ. Die künstliche Nachahmung einer Frau nickte knapp und enteilte; als sie bald darauf zurückkam, hatte sie das verlockend beschlagene Stielglas mit Stil in eine Serviette keusch eingewickelt.

    Es geht schließlich nicht wirklich um Wohlverhalten. Es geht um den äußeren Anschein. Auf gewissen Veranstaltungen wird Bier auch alkoholfrei nicht ausgeschenkt, denn dem Glas kann man ja nicht ansehen, daß der Inhalt geistlos ist. Dagegen eine Wasserflasche auf dem Tisch, tatsächlich gefüllt mit Wodka, kümmert niemanden. Wichtig ist allein der äußere Eindruck, nicht der Inhalt. So denken im Ernst sogar erwachsene Führungskräfte.

    Sie gebrauchten ein bewährtes Spiel: bunte Zettel auf eine Wand kleben.

    Boah ey – Bürgerorganisation Aufschwung heute Elite yes. Neuspring stand eine Weile dabei. Dann befand er von der Warte des Fachmanns: „Und was ist mit ,AAH‘? Das klingt nach Genuß, nichts mehr von Ausscheidung. Aktion Aufschwung heute."

    Das war genial und einfach. Alle sahen sich untereinander an. Wie konnte man sich noch vor dem unbotmäßigen Teilnehmer behaupten? Er war ein schöpferischer Geist, also rechtmäßig nur ein nachgeordneter Mitarbeiter, kein Großeigentümer oder Entscheidungsträger. Aber er hatte recht; man fand sonst nichts.

    Urban trank ausdrucksvoll sein Pils weg, das er im Gegensatz zur Bedienungskraft möglichst weithin und offen vorzeigte; die Blume hinterließ einen steifen, weißen Ring. „Ich glaube, auf diesen Erfolg gehen wir erst mal in die Mittagspause", schlug er vor. Er war hier zwar nicht der Veranstalter, aber er benahm sich so.

    *

    Noch ein Pfefferminzbonbon. Es war zwar schon fast Mittag, aber eine Erfolgsfrau riecht um diese Zeit noch nicht nach Schnaps, auch dann nicht, wenn sie ihren Erfolg verbergen muß. Sie zog das billige Kleid aus dem Schrank, das sie so schwer bekommen hatte. Auf einem Flohmarkt hatte sie es erworben und dabei immer links und rechts gespäht, daß nur niemand sie erkannte. Und jetzt brauchte sie es wieder: zu weit, wenig bunt kleinteilig geblümt, damit sie auch bei mehreren Begegnungen nicht auffiel. Sie hatte ja nur dieses eine billige Kleid. So weit hatte sie es gebracht: schon mehrere abgelegte Klamotten nebeneinander konnte sie sich nicht mehr leisten. Ein Kopftuch war noch zu Mamas Zeiten einfach nur ein Zeichen armer Frauen gewesen; heute hielt man es für Bekenntnis, und wer nicht wußte, wie man es damals in Deutschland gebunden hatte, nahm sie als Türkin. Na und? Um so weniger verdächtig war sie. Sie schnürte es, wie sie es als kleines Mädchen in kalten Zeiten für die Schule gebraucht hatte. Türken erkannten sie damit als deutsch; na und?

    Sie schlich durch die Tiefgarage hinten hinaus. Dann neben der Buslinie her eine halbe Stunde geradeaus; mitzufahren konnte sie sich nicht mehr leisten. Aber mit dem Porsche erwischen lassen durfte sie sich noch viel weniger. Durch den Hof in die alte Werkshalle; hier kam es nun nicht mehr darauf an. Wenn sie hier Bekannten begegnete, dann waren sie in derselben Lage wie sie selbst. Da brauchte sich niemand mehr zu schämen. Sie hatte es inzwischen gelernt. Wer gemeinsam in der Jauchegrube badet, stinkt ebenso wie die anderen.

    Seit mehreren Wochen schon lebte sie von öffentlichen mildtätigen Suppenküchen. Zur Tafel hatte sie keinen Zutritt, denn ihren Ausweis für Armut besaß sie noch nicht; sie mußte als Mensch überzeugen, daß sie nichts mehr hatte. Ihr Antrag war schon eingereicht, aber noch nicht bearbeitet. Dann bekam sie wenigstens so viel, daß sie mit der Straßenbahn fahren konnte. Umziehen mußte sie sowieso; sie konnte sich ohne Aufsehen verdrücken. Ihren Absturz hatte sie gut vorbereitet. So wie ein Turmspringer: Es soll möglichst wenig spritzen. Alles, was man brauchen konnte, war verkauft. Zuletzt hatte sie die Münzsammlung zu Geld machen wollen; hoffnungslos, sagte man ihr bei der Firma, von der sie einmal Stück für Stück teuer bezogen hatte; derzeit kaum Wiederverkaufswert. Und daraufhin hatte sie alles ihrem Enkel geschenkt. Da konnte sie protzen; sie war ja die reiche Großmutter.

    Langsam gewöhnte sie sich daran, an der Essensausgabe entlangzustreifen, ohne sich zu ducken. Man durfte sie ja sehen, denn wer hier war, dem ging es wie ihr. Jedem der anderen sonst war es vor ihr mindestens ebenso peinlich.

    Und da stand sie nun plötzlich vor ihr, die Scheurer. Sie hatte offenbar schon eine Bescheinigung, denn im Geschäftskostüm hätte man ihr sonst hier nichts gegeben. Es war abgetragen, aber man sah doch, daß sie sich noch nicht abgewöhnt hatte, sich selbst mit einer Dame zu verwechseln. Sogar Geld für geschmacklose Schminke hatte sie übrig.

    Beim letzten Besuch hatte sie diese Gestalt noch als Chefsekretärin angetroffen, Yso auf gleicher Ebene mit ihrem Arbeitgeber. Was doch so alles geschieht! Fast war es lustig.

    Die Scheurer blieb schlagartig stehen und starrte Yso verschreckt ins Gesicht. Ein paar Sekunden lang regte sie sich nicht, sondern steckte fest im Entsetzen. Dann drehte sie sich plötzlich um und stelzte eilig weg, hinaus auf die Straße, weiter hungrig zurück in die Welt.

    Yso konnte nicht anders; sie lachte laut los. Die da wurde noch nicht damit fertig. War sie so dumm? Wer hier wen traf, war in gleicher Weise unten angekommen; hatte sie das noch nicht verstanden? Sie war nicht nur erwischt, sie hatte auch erwischt. Na gut, sollte die verhungern. Da war Söldchen längst besser dran, vielleicht einfach abgebrühter. Sie brauchte keine Gefahr zu fürchten.

    Es war wirklich komisch. Auch dem sozialen Zusammenbruch kann man noch lustige Seiten abgewinnen.

    Sie holte noch einen Nachschlag. Jetzt brauchte sie nicht mehr darauf zu achten, daß sie schlank blieb; etwas anderes als solche Sparkost hatte sie allemal nicht mehr zu erwarten. Auch dick werden kostet etwas, und das hatte sie nicht mehr.

    Und dann später: Aus Rohware selbst kochen? Bisher unvorstellbar.

    Jetzt war sie 55; ja, vor zwanzig Jahren, da hätte sie sich einfach ausziehen und dafür Geld bekommen können. So hatte sie einmal ausgesehen; damals hatte sie es nicht getan, denn sie es war noch nicht nötig, und ja nicht wirklich fein. Geschämt hätte sie sich dabei so wenig wie für irgend etwas anderes, was sie für Geld tat, aber es gehört sich nicht in dieser Gesellschaftsschicht. Vor Fotografen entblößen sich arme Mädchen. Öffentlich nackig macht sich nur das Fußvolk, oder die Torschlußpanik scheucht dazu, kurz ehe die Haut verknittert und es nicht mehr geht. Viele allgemein bekannte Frauen zwischen vierzig und fünfzig nutzen schnell die späte Gelegenheit, um im Gespräch zu bleiben. Heute sah Yso äußerlich noch immer wie eine flotte Dame aus, aber man bemerkte deutlich, daß sie nur gut erhalten war. Haut konnte sie nicht mehr zeigen, wenn sie noch Achtung wollte. Daraus war nun so deutlich fleckiges Pergament geworden, daß es sogar auf Fotos schwierig wurde, den Eindruck zu glätten. Die Achtung hatte sie vielleicht bald nicht mehr nötig. Geld konnte sie um so weniger für ihren welken Anblick erwarten.

    *

    Inzwischen verhandelten sie über den Inhalt.

    „Armut muß sich wieder lohnen", fand die Journalistin.

    „Zu plump", meinte ein führender Abgeordneter einer bisher unbelasteten Partei.

    Neuspring dozierte und fühlte sich wieder sehr wichtig: „Nein, wir wollen ja der Armut kein gutes Image geben. Das wäre falsch, dann können wir die Linie nicht weiter durchhalten, der Unterschicht die Schuld am Unglück selbst zuzuweisen. Das wäre widersprüchlich, und der eine oder andere könnte uns doch einmal dabei ertappen. Nein, wir müssen die Leute weiterhin im Abseits halten, sonst kommen Sentimentalitäten auf. Wer arm ist, muß bestraft werden, andernfalls wird es teuer für uns."

    Die Psychologin mußte beweisen, daß auch sie etwas beizutragen hatte: „Aber trotzdem ist wichtig, daß wir den Begriff thematisieren. Wir dürfen uns künftig nicht mehr schämen, reich zu sein, nur weil andere unfähig und darum arm sind."

    „Auch wenn es nur deshalb möglich ist, weil andere arm sind", ergänzte die Abgeordnete der schon immer belasteten Partei.

    „Sehr richtig, erklärte der Vertreter eines Wirtschaftsverbandes, „ Es muß dabei bleiben, so, wie wir es verabredet hatten: Wer arm ist, hat versagt und ist selbst dran schuld. Das heißt: Armut gehört bestraft. Wir brauchen die Bösen, und zwar genug von ihnen, damit wir weiter wissen, wer die Guten sind.

    Kurzes Räuspern rundum, aber verstohlenes Kopfnicken.

    „Richtig, erklärte Urban, der sichtlich genoß, wie er die Marionettenfäden in der Hand hielt. „Armut ist nicht wünschenswert, und niemand soll sie erstreben; die Leute, die wir da unten haben, müssen schließlich . . . motiviert bleiben, etwas zum gesellschaftlichen Produkt beizutragen. Ganz so offen durfte man auch wieder nicht reden, schließlich galt eine gewisse Höflichkeit. Sie müssen erpreßbar bleiben, sollte das heißen, und jeder verstand das kurze Zögern. „Wir müssen aufzeigen, daß Armut ein Teil jeder gesunden, entwikkelten Gesellschaft ist, daß sie anders nicht funktioniert. Die Armen sollen sich trotzdem weiterhin schämen, weil sie Versager sind, aber wir anderen dürfen nicht der Versuchung erliegen, uns daran schuldig zu fühlen. Alle höhere Kultur entsteht nur, wenn es auch Opfer gibt. Wir müssen endlich das Tabu brechen und aussprechen, daß Gleichheit auf hohem Niveau nicht möglich ist. Und daß ein hohes Niveau bei Gleichheit schon gar nicht möglich ist."

    „Wir brauchen Arme, damit die Motivation zur Leistung bleibt", befand der Altvater eines mittelständischen Unternehmens mit Produktion im Ausland zusammenfassend.

    „Aber das verlangt Diplomatie", erklärte der Aufsichtsratsvorsitzende eines Großkonzerns, der gerade Spitzengewinne veröffentlicht, einige tausend Mitarbeiter entlassen und die Vorstandsgehälter um eine satte Hälfte erhöht hatte.

    Es raunte rundum. Sogar der Milliardenaktionär brummte „hmm".

    „Ja, bitte sehr, meinte der Manager. „Das muß man doch vom jeweiligen Standpunkt aus sehen. Ich muß mein Unternehmen vor den Investoren vertreten. Aber unser Gremium hier ist für die allgemeine Öffentlichkeit zuständig. Das ist doch wohl ein klarer Unterschied.

    „Aber wie macht sich das denn, wenn die Aussage ist: ,Deutschland braucht wieder Armut‘?" erkundigte sich der Bankier.

    „Es hat sie doch schon längst wieder", murmelte jemand, der unauffindbar blieb.

    Die Redakteurin meldete sich noch einmal: „Das hängt selbstverständlich von der Formulierung ab. Stellen wir es als Frage: ,Wieviel Armut braucht Deutschland?‘ Dann haben wir die Aussage gleich mit eingeschoben: Ohne geht es nicht. Nur noch: wieviel. Und das Ganze nicht im Titel, sondern schön pc¹: ,soziale Herausforderung‘. Wer arm ist, der hat eben eine besondere Aufgabe: beweisen, daß er da wieder ’rauskommt. Das können wir sogar positiv verkaufen: Unser Land braucht die soziale Herausforderung als Motor."

    „Aha, murmelte der bestochene Betriebsratsvorsitzende, „Armut ist nötig, aber die Pflicht des Armen ist auch, es nicht zu bleiben. Stimmt ja auch, sozial gesehen. Jeder Arme ist verpflichtet, sich zu bemühen, daß andere an seiner Stelle arm werden.

    „Sehr vertrackte Aussage, murmelte der Herausgeber einer besonders weit verbreiteten Boulevardzeitung. „Das versteht kein Mensch. Da müßten die Leute ja wieder nachdenken. Das sollen sie doch gerade nicht.

    „Nicht ganz, erklärte der Ökonomieprofessor. „In unseren Kreisen sollen sie wenigstens stutzen. Und verstehen werden sie sowieso nichts, wenn wir fürs Fach die Arbeiten so formulieren, daß . . . die Evidenz einer sachlichen Kompetenz stilistisch evoziert wird, auch unter Vermeidung einer präjudizierten argumentativen Konsistenz. Jetzt war auch er vor der Falle gestutzt; man durfte doch auch in diesem Kreis nicht zu offen reden, wer konnte wissen, welcher Spitzel Stoff für künftige Erpressungen suchte? Gemeint war natürlich: Man muß so gelehrt schwafeln, daß man nichts sagt, aber keiner es merkt. Wie gut das geht, hatte er mit diesem Beispiel treffend vorgeführt. Die Runde klopfte Beifall auf dem Tisch.

    „Und Ihr Blatt bringt das dementsprechend, schlug Neuspring vor: ,Armut als Herausforderung: Deutschland braucht Menschen mit dem Willen zum Aufstieg, und das geht nur, wenn da unten immer gerade jemand ist. Das geht aber auch nur, wenn stattdessen jemand anders unten strandet. Leben als Leistungssport.

    „Dabei sein ist alles; gewinnen kann nur einer", murmelte jemand.

    „Soziale Konvektion, ein anderer. „Wäre das gut? Aber vorläufig bemerkte es niemand.

    „Reich werden als Potential: Das kann nur wünschen, wer arm ist", feixte der Aufsichtsrat.

    „Aber wir wollen doch den überzogenen Willen zum Aufstieg gar nicht, wandte vorsichtig der Soziologe ein, der den Einwand über die Konvektion trotz allem gehört hatte. „Wir waren uns bisher einig, daß eine konstruktive Stratifikation der Gesellschaft nur möglich ist, wenn die, wie Sie sagen, soziale Konvektion gedämpft ist, weil sonst die notwendige Stabilität in Gefahr gerät.

    Das hieß: Nur wenn die Oberschicht unter sich bleibt, kann sie friedlich leben. Und das war überraschend gut gelungen: Die Wirtschaft braucht gut ausgebildete Fachkräfte, aber die sollen gefälligst selbst für ihre Qualifikation zahlen. Darum können arme Kinder nicht aufsteigen. Warum sonst hatte sich diese Organisation so dringlich für Studiengebühren eingesetzt?

    Für Laien auf naturwissenschaftlichem Gebiet wäre zu erklären gewesen, was Konvektion ist: die Umwälzung in einer beweglichen Masse durch Wärme, die von unten einwirkt. Was warm ist, steigt auf, kühlt sich oben ab und sinkt dann wieder herunter, wo es sich noch und noch einmal aufheizt. Das führt zu einer ständigen Umwälzung in kreisförmigen Zellen im Kochtopf und auf der Erde zur Wanderung der Kontinente. Arme werden reich, Reiche arm, sollte das bedeuten. Stratifikation ist eine Schichtenlage, konstruktiv ist sie dann, wenn daraus Nutzen entsteht.

    Aber in diesem Kreis hätte niemals jemand zugegeben, daß er auf irgendeinem Gebiet ohne Fachkenntnis war. Obwohl es in Wirklichkeit doch jeder auf der Mehrzahl davon war.

    Urban notierte beiläufig die Begriffe „konstruktive Stratifikation und „soziale Konvektion. Den ersten unterstrich er.

    Der Redakteur des schuldigen Nachrichtenmagazins konnte es erklären: „Ja, völlig einverstanden, Herr Professor, aber wir haben doch auch herausgearbeitet, wie wichtig es ist, den Betroffenen trotzdem ihre Verpflichtung zur gesellschaftlichen Teilnahme bewußt zu halten, damit sie nicht aus ihrem Rollenbild vielleicht in subversive Aktivitäten abgleiten könnten." Das hieß wiederum: Sobald sie kein schlechtes Gewissen mehr haben, könnten sie einen Aufstand machen.

    Neuspring kritzelte auf seinen Zettel: „Immer strampeln als Pflicht, aber keine Hoffnung. – Sisyphos; Buddha, der Weg ist das Ziel?"

    Auch die Psychologin hatte es verstanden. „Also weichen wir vom ,Positiven Denken‘ ein bißchen ab. So in der Art: Es kommt nicht darauf an, daß du ein Ziel erreichst, sondern nur, daß du danach strebst. Sowas geht: Der real existierende Sozialismus hat seine kommunistische Gesellschaft erst für künftige Generationen versprochen und von den Lebenden nur Opfer verlangt, aber er hatte glühende Anhänger."

    „Ja, im Westen", grunzte der Bankier.

    Urban wußte wieder Bescheid: „Es genügt, wenn ein großer Teil der Bevölkerung es glaubt. Die Betroffenen selbst werden sich schon nicht rühren, solange sie sozial unauffällig bleiben wollen. Und wenn nicht, nun, dagegen bestehen längst disziplinarische Mittel."

    Er verzichtete nicht darauf, der übrigen Runde ausdrücklich und unübersehbar ein weiteres Pils vorzutrinken. Nicht, daß er es noch gemocht hätte; er mußte zeigen, wer er war. Er war es, der erklärte, wie man Menschen anpaßt, aber gerade er war es nicht, der sich anpaßte. Ein braver Bürger trinkt in der Öffentlichkeit keinen Alkohol mehr. Aber derjenige, der anderen vorschreibt, wie man brav zu sein hat, muß es selbst nicht sein. Nein, er darf es nicht einmal; das ist die „konstruktive Stratifikation". Schon der rechtsgehässige Senator einer Hansestadt mit dem Ruf nach Zucht und Ordnung hatte es deutlich vorgelebt: Drogengebrauch verbietet man nur der Unterschicht, aber die oberen Leute sollen doch gern naschen. Moral ist Willkür; das ist wichtig zu lehren, wenn man eine Ständegesellschaft vertritt. Und das zu tun war immerhin sein bezahlter Auftrag; er mußte leben, was er verkaufte.

    Eine Journalistin faßte schließlich zusammen und ärgerte ihn damit: „Gerechtigkeit braucht Armut. Das war es natürlich! Wir können nur nach Leistung verteilen, wenn es Verlierer gibt. „Deutschland braucht Versager war aber doch zu hart.

    Urban konnte es nicht zugestehen, denn es war nicht von ihm. Es war zu gut, um es anderen Urhebern zu gönnen, aber zu wahr für ihr Anliegen, um es der Öffentlichkeit arglos vorzulegen. „Wir können diese Aussage im Text verwerten. Nur bitte nicht in der Schlagzeile. ,Arm‘ ist nun mal ein belastetes Wort, und wir wollen doch positive Gefühle wecken. In der Sache sind wir uns einig; hier geht es aber um die Öffentlichkeitsarbeit."

    Für sich dachte er: Die Wendung klaue ich mir. Ich muß nur eine Höflichkeitspause halten, damit es niemand merkt. So wie der Ausdruck „Leitkultur" vom Islamwissenschaftler Bassam Tibi stammte, aber die Konservativen hatten ihn für sich beschlagnahmt und den Urheber vorsorglich aus dem Land gegrault. Ich muß die kleine Maus nur vorher ausbooten, damit sie nicht erzählen kann, wer wirklich dahinter steckt. Vielleicht vergißt sie auch rechtzeitig, daß es von ihr ist.

    Und damit löste sich die Runde vorläufig auf.

    *

    Wie ist das, wenn man zum ersten Mal im Leben an Selbstmord denkt? Yso war erstaunt, wie sachlich sie den Gedanken auf einmal annahm, nun, da er sich anbot. Dem Leben ein Ende machen? Das tat die künftige Armut ja von selbst. Wenn sie von der Tafel lebte, irgendwo eine kleine Absteige bewohnte, keine Arbeit von Rang mehr hatte, kein Geld ausgeben, nicht einkaufen, nicht im Theaterfoyer glänzen konnte, dann war sie ja schon tot. Das war kein Unterschied mehr, davon dann auch nichts zu wissen konnte nur ein Gewinn sein. Bewußtlosigkeit war doch immer besser als Bewußtsein des Elends.

    Nur: Wie wollte sie es anstellen? Es mußte stilvoll sein. Wie aber konnte sie mit einem Ferrari an den Baum fahren, wenn sie keinen Zugang mehr zu einem Ferrari hatte? Sie wollte glanzvoll untergehen, nicht im Elend verhungern.

    Sie war doch immer so geschäftstüchtig gewesen. Geld zu beschaffen für Firmen, die eigentlich längst pleite waren, mehr scheinen als sein, das hatte sie immer gut gekonnt. Aber jetzt war es schwieriger; wenn sie einen Kredit brauchte, wie wollte sie erklären, daß sie dafür nicht zu einer ordentlichen Bank ging?

    Aus dem Nebel gestaltete sich ein Bild: Wenn sie doch nie etwas zurückzahlen wollte, tat auch der Biß eines Hais ihr nicht weh. Ein einziges Mal Geld von unehrlichen Quellen einheben, noch einmal die geeignete Ausrüstung zusammenkaufen, den Ferrari mieten und auf der Rückfahrt von Salzburg das Auto an einem Brückenpfeiler zerlegen einschließlich sich selbst; niemand konnte von einer Toten mehr Geld eintreiben. Und sie hatte ihren letzten Auftritt mit Lara, niemand sollte etwas ahnen. Das geliehene Auto war versichert, der Unfall also kein Schaden für die Mietgesellschaft; um den Kredithai sollte es ihr nicht leid tun. Dann sollte man sie mit zwei Promille Alkohol im Blut aus dem Blech kratzen, und alles war ein standesgemäßer Unfall.

    Sie sah sich förmlich selbst über die Schulter und war erstaunt, wie eiskalt sie diese Gedanken um sich aufbaute wie ein letztes Haus. „Wenigstens zwölf Jahre anständig gelebt", soll Hermann Göring in Nürnberg gesagt haben, bevor er Gift schluckte. Wie konnte sie so kalt sein? Es ging doch um ihr eigenes Leben. Nein; betteln, in irgendeiner Etagenwohnung vor sich hin dämmern, kochen von der Tafel, mit dem Bus fahren; das war kein Leben. Das Leben war: mit Lara und anderen Freundinnen Festspiele besuchen, in Sternerestaurants und teuren Bars einkehren, an südlichen Stränden von braunen Kellnern unterwürfig bedient werden; um das, was sonst blieb, war es nicht schade. Dann eben nicht mehr demnächst in Ostafrika einen flotten, willigen Nomaden kaufen; die waren so potent, hieß es, die brachten es sogar bei welken, blassen Frauen. Aber auch ohne diesen Abschluß hatte sie ihren schönen Anteil daran gehabt. Dann nicht mehr nachdenken, genießen und am Ende sich abfüllen und noch die Brücke treffen; mehr brauchte es nicht.

    Oder sollte ihr nicht am Ende doch, wie so oft, noch eine Lösung einfallen?

    Fast war sie fröhlich, beinahe wie befreit, als sie nun anfing, diesen Abgang einzufädeln. Wie gestaltet man so etwas? Man plant es sachlich, ohne Gefühl, lebt vorher um so heftiger, und dann kommt es nur noch darauf an, mit genug edlem Champagner durch die Adern im entscheidenden Augenblick wirklich von der Straße zu lenken. Ob sie das am Ende konnte? Darüber wollte sie nicht früher nachdenken, als sie wirklich auf der Strecke war und keinen anderen Ausweg mehr kannte. Und wenn doch? Stahl sie dann das schöne Auto, verkaufte es und setzte sich mit dem Erlös irgendwohin ab? Es war gut, bis zuallerletzt den Gedanken zu bewahren, es könnte doch noch eine Ausfahrt irgendwohin geben.

    Die Zeitungen sind voll von Anzeigen über günstige Kredite ohne Sicherheiten. Jeder denkende Mensch weiß, wer sie aufsetzt; jemand wie Yso pflegte dergleichen zu mißachten. Jetzt suchte sie, und auf einmal waren diese Angebote selten. Wer vergab wirklich zehntausend ohne Prüfung?

    Den Porsche brachte sie bei einem guten Händler unter und kassierte einen anständigen Vorschuß auf den Verkaufspreis. Ein böser Haifisch fand sich; ohne SCHUFA, ohne Sicherheiten, wieviel Zinsen, fragte sie gar nicht. Zu vererben hatte sie nichts mehr; niemandem war geschadet. Sie hatte nur noch ein bißchen zu überlegen, wie sie ihren glanzvollen Abgang würdig tarnen sollte. Pleite gehen kann man bekanntlich im Geschäftsleben; da ja nachweislich kein Geld zurückblieb, sollte es so aussehen, als hätte sie in einer ganz großen Sache falsch spekuliert. Das nimmt man nicht übel. Und dann sollte ihr dieser Unfall dazwischenstoßen, vorgeblich mitten im frischen Aufschwung, in einem unbekannten Netz neuer Verbindungen, in Erwartung millionenfachen Gewinns, kurz vor der späten, aber üppigen Blüte, in die sie alles investiert hatte. Sie wollte nutzlose, leere Hinweise auf eine frische Schweizer Bankverbindung ausstreuen; dort, durften alle glauben, lag steuerfrei nun das neue Vermögen für alle Ewigkeit, so frisch eingemauert, daß sie noch nicht dazu gekommen war, ihren Nachkommen Hinweise darauf zu hinterlassen. Wer immer sie kannte, sollte das leicht glauben können.

    Sie rechnete, teilte auf und rief dann Lara an. Und damit hatte sie ihren Lebenslauf besiegelt; noch ein großer Auftritt und in Schönheit sterben.

    Die Freundin kreischte fast vor Vergnügen; endlich sah man sich einmal wieder.

    *

    Das „Treffen interessierter Kreise, TIK schmiedete die Beschlüsse fest. AAH blieb, das Schlagwort hieß erst einmal „Herausforderung Aufstieg als vorläufige Umschreibung für Armut. Das Wort mußte vorkommen, der Tatbestand durfte nicht verschwiegen werden, aber man konnte noch nicht zu deutlich werden. Aber immerhin war ungefähr so etwas vorgesehen wie „ohne Armut geht es nicht, umschnörkelt von Aussagen, daß nichts ohne sein Gegenteil denkbar sei. Zu viel politische Korrektheit wurde zum Begleitnebel, immerhin sollte jeder Mensch in Armut künftig verstehen, welcher Platz ihm zugewiesen war. „Der Traum vom gleichen Wohlstand für jeden ist ausgeträumt; so etwas durfte man heute durchaus wieder sagen. „Er war ein Irrweg, wie wir heute wissen. Leistung entsteht nur aus Herausforderung. Und als nächster Schritt zum Diebstahl der nützlichen Formel: „Gleichmacherei ist ungerecht. Denn: „Unter Gleichen werden die Begabten und Tüchtigen bestraft. Dann eine Fotoserie: „Haben diese Leute wirklich das Gleiche verdient? In der oberen Reihe ein Arbeiter am Fließband beim Schweißen am Auto; wer weiß schon, daß so etwas heute Roboter machen? Und gehorsam gekleidete Menschen, Anzug mit Krawatte, schwarzes Geschäftskostüm an Schreibtischen. Beide Bilder waren damit in eine gemeinsame Ordnung gefaßt: Leistungsträger, Macher. Die zweite Reihe: Biedermann mit Bauch, Füße auf dem Tisch, leere Bierflaschen, überfüllter Aschenbecher, vor dem Fernsehgerät; mehrere Jugendliche, rauchend und beim Umtrunk auf der Straße.

    Was noch wichtig blieb: Eine Leitgestalt, um die AAH zu verkörpern. Jemand, der allem Volk glaubwürdig erklärte, worum es ging. Nicht selbst ein Mitglied des Prekariats, sondern ein Betreuer, dem alle nachtrotten sollten. Ein Öffentlichkeitsarbeiter, der sich für nichts zu schade war, der jede Zumutung freundlich aussprechen konnte und durch die Fernseh-Talkshows zog. Und einer, der alles richtig verstand und ohne Zweideutigkeiten gehorsam vertrat.

    Die Feinarbeit tat sich ein Neuspring nicht selbst an. Er verstand sich als Agent und Vermittler, als Quelle des Anstoßes. Ins einzelne sollte eine feine, kleine Firma gehen, auf die er sich immer verlassen konnte. Kreativität war etwas für Arbeitstiere; er verwaltete Erfolg, so war er es gewöhnt. Schöpferische Menschen brauchen nicht reich zu werden; sie sind ihrer Natur gemäß dazu da, daß man sie ausbeutet, so wie schon Johannes Fust den Drucker Gutenberg. Fust war schon ein echter kapitalistischer Halunke gewesen, wie man ihn bewundern muß. So geht Erfolg! Neuspring schob die Figuren hin und her, er ging nicht selbst, oder wie der Kapitän auf der Kommandobrücke gab er die Befehle, der trägt aber weiße Handschuhe, damit jeder sieht, daß er selbst das Steuerrad beileibe nicht anfaßt. Das erledigt auf See ein unwichtiger Matrose.

    Dafür gibt es Fachbetriebe; er kannte vv&v, die waren bewährt. Man hatte schon mehrfach zusammengearbeitet. Zum Beispiel das Wort „Eigenverantwortung" dafür, daß der Bürger nicht etwa selbst entscheiden, sondern selbst zahlen soll, war eine der Leistungen dieser feinen Giftküche. Den Reisenden erklären, daß es ein Fortschritt und eine Verbesserung sei, wenn sie im Zug keine Fahrkarten mehr kaufen können, so die Deutsche Bahn, solcher Art waren die Kampagnen, die man hier erbrütete.

    *

    Dort arbeitete man selbst an Programmen zur gesellschaftlichen Umgestaltung.

    Wir brauchen das neue Weichei. Da der Unfug grenzenlos ist, hat einmal ein Magazin den Begriff „metrosexuell" erfunden; das steht ungefähr für einen Mann, der wie eine Schwuchtel aussieht und sich ausdrücklich so benimmt, aber trotzdem gelegentlich mit Frauen Sex macht. Eigentlich besagt es ja, daß jemand es in der U-Bahn treibt; das ist denen, die dieses erschütternd dämliche Wort erfunden haben, wohl nicht bewußt gewesen. Nichts beschränkt die Dummheit der Menschen außer allenfalls ihre Beschränktheit.

    Dummheit ist eine Leistung des Geistes, und für manche Beispiele davon ist große Anstrengung verlangt. Wie sonst kommen Modegestalter auf den Gedanken eines Regenmantels, der oberhalb vom Knie endet? Er ist die geistige Großtat einer Waschmaschine für die Hosenbeine, aber für den Schutz vor schlechtem Wetter unbrauchbar. Oder wie ist zu erklären, daß man in Fachgeschäften Anoraks kaufen kann, deren einziger nicht wasserdichte Teil die Kapuze ist? Für solche Eingebungen ist viel schöpferischer Geist verlangt. Von selbst kommt derartiger Unfug nicht, jedem Versehen verschließt er sich. Nein, das braucht bewußte Planung wie die französische Nationalbibliothek in Paris, wo die Bücher in gläsernen Hochhäusern stehen und darin mit Holzwänden vor der Sonne geschützt werden müssen, während der Lesesaal unterirdisch künstliche Beleuchtung braucht². Wahrscheinlich hat niemand bemerkt, daß der Architekt Dominique Perrault seinen Entwurf am 1. April eingereicht oder mindestens im eigenen Haus für sich abgeschlossen hat. Das sieht nicht aus wie Satire, das ist Satire, nur hat das der Urheber nie offen gesagt.

    Nun also war der männliche Versager auf dem Markt und wollte sein eigenes Recht. Wie geht man mit dem Trottel vom Dienst um? Zum Beispiel durch Mitleid: So einer kann Frauen nicht beeindrucken, aber er kann sie zu Tränen rühren; vielleicht streicheln sie ihn und mehr. Der ehrlos metrosexuelle Un-Kerl schleicht sich durch Schwäche bei den Frauen ein, und das bei manchen davon mit Erfolg. So etwas kann Zukunft haben, wenn es zur Masche wird. Den Softie wollte die Damenwelt nicht; den schleimig weibischen Kriecher, die Heterotucke mögen aber die einen oder anderen doch. Allerdings kann man dieses Wort nicht vermarkten; der U-Bahn-Ficker macht sich da doch besser.

    Ein ganzer Zweig der Industrie kann überflüssige Erzeugnisse nur verkaufen, wenn er Kunden findet, die doch an einen Bedarf glauben. Also erzähle man dem Teil der männlichen Menschheit, der bisher keine abkriegt: Du hast keine Chance, also nutze sie. So hat es Herbert Achternbusch ausgedrückt. Mach was draus, daß du abgemeldet bist, ein Versager oder, wie es heute auf Pidgin heißt, ein Luhser. Sei stolz darauf, gib damit an! Immerhin vertrittst du den durchschnittlichen Fall deiner ganzen Gesellschaft, du stehst für das Ganze und alle seine Teile. Du bist einer von denen, die nicht besser werden können; deine einzige Hoffnung ist, daß du andere auch daran hinderst, die Grundregel jeder Bürolaufbahn. Wer nicht aufsteigen kann, hole die anderen zu sich herunter. Alle sammeln sich im unteren Mittelmaß, und wer Ärger vermeiden will, versucht gar nicht erst, besser zu sein.

    Zarte Duftwässer für Memmen, solche Sachen gibt es in den Regalen, und die Drogisten wollen auch sie noch verkaufen, um das Lager wieder leer zu kriegen. Darum braucht die Wirtschaft verdrehte Werbung. Alle Frauen übersehen dich? Macht nichts, werde noch kleiner, dann müssen sie über dich stolpern. Mach dich selbst zum Weib, dann gemeinden sie dich ein. Auf dem Münchener Oktoberfest bedienten in einem der großen Zelte noch Tage nach dem Schwulenabend Männer im Dirndl die Trinkgemeinde; selten wurden Männer von Frauen so heftig angeflirtet wie damals diese Travestie-Bierträger.

    Das sind dann oft sogar die hübschesten der Frauen, die sich mit tuntigen Behelfskavalieren einlassen; denken wir an den Fußballspieler und seine würzige Trällersängerin. Aber doch nicht mit dem bierbäuchigen Halbglatzenspießer. Fragst du wirklich danach? Es ist doch besser als nichts, wenigstens irgend etwas abzukriegen. Teenies sind für dich unerreichbar, außer dann, wenn du dreißig Jahre auf sie wartest, bis sie keine mehr sind, oder die mit Babyspeck und Pickeln. Aber wie wäre es mit ihren Tanten und Großmüttern? Man kann Licht auch dimmen, verdämmern, dumm dumpf machen. Werbung war noch nie für kluge Kunden da. Sei froh, wenn du nicht sexuell verhungerst, wenn wenigstens irgend etwas für dich übrigbleibt, wo doch du selbst auch nur irgend etwas bist.

    Diesen Auftrag bekam das Werbemedienstudio „vv&v nun also: Sprecht die Gruppe der männlichen Benachteiligten an, die von allen Geschlechtsgenossen angespuckt werden, mit denen keiner am Stammtisch sitzen will, gebt dem Waschlappen ein eigenes Image, damit er weiß, aus welcher Ecke er künftig für sein Bad einkaufen soll. Damit er überhaupt einmal weiß, daß er gefälligst etwas zu kaufen hat wie alle anderen ordentlichen Mitglieder der Gesellschaft auch. In jedem noch so benachteiligten Winkel der Bevölkerung schart sich noch ein Häuflein, das sich einen Namen gibt und versucht, stolz zu sein. Es ist wie der umgekehrte Fall: der Vorstadtschläger, der nicht einmal die Hauptschule schafft, der wenigstens am wildesten draufhauen kann, der geborene Versager, der nur noch unter seinesgleichen den sogenannten „Respekt erhoffen darf, am abgelegensten Rand der Gesellschaft, der außer kaputt überhaupt nichts kann und nie können wird, und hier steht ganz zum Gegenteil verdreht einer, der vom kleinsten Hauch umgeweht wird. Wir stellen nichts dar, wir können nichts, wir sind einfach nur schlecht; na und, wir sind ein großer, repräsentativer Teil der Bevölkerung. Der starke Mann, der Held ist die Ausnahme; wir verkörpern, was fast alle sind, so wie nur ganz wenige Frauen lang, dürr und Models sein können. Wir sind die lebendige Gegenwart!

    Es ging also um eine Hebung des Selbstbewußtseins aller durchschnittlichen Männer als Zielgruppe, damit sie einen Grund entdecken sollten, sich künstliche Krücken aus Kosmetik und Mode zu kaufen. Nicht mehr zwar mit Halbglatze und Bäuchlein, aber doch sicherem Einkommen, darum wenigstens noch als Schwiegersohn willkommen, sondern ab sofort mit eigenem Profil; wer nie auf dem Hinterhof mitbolzen durfte, bestenfalls im Tor stand, der soll sich nicht weiter mit den kräftigen Kerlen messen, sondern seinen Ehrgeiz umpolen. Ich kann nicht der stärkste Held sein; gut, dann bin ich eben einer der Besten unter den Gewöhnlichen. Ich bin nicht mehr einer, der Angst vor dem Ball hat, nicht mehr der schlechteste Fußballspieler, sondern wenigstens Durchschnitt unter denen, die so etwas gar nicht können und längst aufgegeben haben. Ich bin unter den Feiglingen immer noch derjenige, der am langsamsten flieht, mein Heldentum ist, daß ich fußkrank bin und nicht schnell genug laufen kann.

    Denn ich kann teilhaben, ich kaufe mir das Recht auf Geltung durch Erzeugnisse, die mir endlich eine Gruppe zuteilen, die mir eine Zugehörigkeit geben, wenn andere ebenso schal riechen wie ich und wir uns untereinander erkennen, wir uns eine Front zum Rest der Menschheit geben, an der man uns bemerken kann.

    Aber gehen diese Leute dann nicht den Fitneßstudios verloren, wenn sie die Hoffnung aufgeben, die sich doch nie einlösen läßt? Da war das Fingerspitzengefühl der Werbeprofis gefordert. So etwas meistern Könner: Sprecht diejenigen an, die doch nie einen Sport treiben werden, so oft sie es sich auch vornehmen mögen. Der Bierbauchbürger trainiert so oder so nie; geben wir ihm ein neues Selbstgefühl.

    Dahinter steckte natürlich eine Arbeitsgemeinschaft der Kosmetikindustrie. Wenn schon ein gestandener Mann, ein echter Kerl sich inzwischen hat einreden lassen, auch seinesgleichen müsse duften und sich überall abscheren, warum nicht dann auch der Versager oder die U-Bahn-Hetero-Tucke? Vorbei waren die Zeiten, als ein Mann noch glauben durfte, sportlicher Schweiß und seltene Körperpflege lockten Frauen an! Vergangen war das Alter, als ein richtiger Kumpel noch nach kaltem Rauch und abgestandenem Bier duften sollte. Jetzt mußte endlich auch der letzte Biedermann an die Nabelschnur des Pflegegewerbes geknüpft werden, so wie Frauen schon seit langer Zeit verstanden haben, daß sie von Natur aus häßlich aussehen und stinken und darum von künstlicher Erscheinung abhängig sind wie von der Atemluft. Eine Frau, die so aussieht, wie sie aussieht? Nein, wie scheußlich. Sie braucht den Friseur, die Boutique, die Parfümerie so lebensnotwendig wie ein Diabetiker seine Spritzen. Das weiß doch jeder: Aller weibliche Reiz ist Täuschung. Und wie beleidigt ist schließlich jede von ihnen, wenn der Herzallerliebste womöglich eher sie selbst nackt begehrt als all ihren teuer gekauften Takel!

    Schließlich zählt ein Mann ja auch nur als Spender all seines Geldes; wie sollte dann ein Weibchen als es selbst begehrenswert sein? Da wissen es Handel und Gewerbe besser: Erst wir machen die Frau! Warum aber sollte es den Männern besser gehen?

    *

    Die Firma vv&v mußte in der Zeit des Business-Pidgins ihren Namen natürlich englisch erklären. Eigentlich hatte dieser verdreifachte Buchstabe entweder gar keine Bedeutung oder, damals zur Gründungszeit noch mit nur zwei Fogel-Fs, so eine wie „verraten, verkauft", als das Unternehmen zwar nicht in der Garage, aber in der privaten Wohngemeinschaft zweier jeweils mehrfach gescheiterter Studenten entstand. Das Zeichen war so zynisch gemeint wie gesagt, nicht nur, weil die beiden Gründer sich von der Gesellschaft in eben dieser Weise kaltgestellt verstanden, sondern vor allem, weil sie es ihr heimzahlen wollten. Verraten und verkaufen wollten sie die Kunden ihrer Kunden, ehrlicher noch und mehr geradeaus den Endverbraucher betrügen und plündern, die Schicht der Menschheit ausbeuten, die dafür schon immer bereitstand: die untere.

    Als man die englische Erklärung suchte, fand sich schnell noch das dritte „V: verloren, vergeblich? Amtlich nannte sich das Unternehmen zwar nur nach Buchstaben, aber untergründig standen sie nun für „vain, void, and vanished (vergeblich, vergeudet und verschwunden). Die etwas unhandliche grammatische Endung ließ man dann aber weg: einfach „vanish. „Money for nothing stand nicht zur Verfügung; sie hätten es von Mark Knopfler³ kaufen und ihm bezahlen müssen. Auch wieder: Nicht der Kunde bekommt nichts für sein Geld, sondern der Kunde des Kunden wird geprellt. Wer immer wollte, konnte das verstehen. vv&v, gesprochen „wie, wie end wie" wandte sich an Firmen, deren Erzeugnisse die Welt nicht braucht, wahrscheinlich nicht einmal will. Vielleicht bezahlt die Welt ja sogar dafür, daß man sie davor bewahrt? Auch das verkaufte diese Tandschmiede gern, aber so weit war es noch nicht.

    *

    Es gab einmal den „Softie; das ist lange her. Er versuchte sich bei den Emanzen einzujammern, um in ihre Bettchen zu kriechen; Ehrgefühle vor Frauen gab es bei Männern solange nie, wie sie Achtung vor ihnen nur heuchelten. Vernascher hatten keine Hemmungen, Damen anzuschmachten, ihnen ihren Notstand vorzujaulen, sie erbärmlich und schluchzend um ihren Schlitz anzuflehen, wenn sie am Ende doch die Sieger waren, weil sie bekamen, was sie wollten. In jeder italienischen Oper wirft sich der Tenor seiner Angebeteten zu Füßen; am Ende liegt sie zwar nicht auf der Bühne, aber gedacht im Bett unter ihm, und er hat seine Genugtuung. Was ein Mann vor einem anderen Mann nie tun würde, leistet er sich vor Frauen hemmungslos: die Demütigung. Denn er fühlt sich sicher, daß sie ihm am Ende durch den Sieg vergolten wird. Entweder macht er die Frau zur Hure, benutzt sie und läßt sie nach einmaligem Gebrauch schnöde liegen, oder er wird ihr Ehemann und beherrscht sie fortan. Darum schadet es nicht der Ehre, daß sie sich, diese Ehre nämlich, zwischendurch selbst verrät; die Frau ist nicht satisfaktionsfähig, vor ihr muß man die Stärke nicht beweisen. Stark sein ist nur wichtig vor anderen Männern. Und wo die beieinander sind, pfeift man den Weibern nach und nennt sie „Puppe.

    Aber der modische Versuch, in der Öffentlichkeit durch Schwäche andere Männer auszustechen, gefiel auch den Frauen nicht wirklich; zu sehr wurde ihre eigene Taktik bloßgestellt. Hinter jedem starken Mann steht eine noch stärkere Frau; welche möchte sich dann mit einem Schwächling schmücken? Die Frau, die Helden lenken kann, zählt mehr als eine, die einen Waschlappen auswringt.

    Auch die Männer dieses Schlages gaben es auf, weil der Erfolg gering blieb. Statt sich einerseits aufwendig hübsch zu machen, aber nun hinter Emanzen und nicht mehr schwachen Weibchen herzuwinseln, kehrten sie zum viel bequemeren Bierbauch zurück. Keine Frau abzubekommen ist angenehmer, wenn man sich nicht noch dafür anstrengt. Dann kann man besser gleich mit Bier und Chips auf der Couch liegenbleiben und Fußballspiele ansehen, ohne daß man unrettbaren Laiinnen die Abseitsregel erklären muß.

    Um so mehr, als heute die Frauen längst nicht mehr nur eigene Abseitsbeschäftigungen suchen, sondern auch beim Fußball oft die lautesten Zuschauerinnen geworden sind. Und jetzt erklärt oft die Frau dem Mann das Abseits, auch daß er längst dort ist.

    Aber nun sollte vv&v diesen Markt trotz allem erschließen. Denn ein Nichts als Mann gehörte ins Arbeitsgebiet. Wie also spricht man Männer an, die von keiner Frau angesehen werden und trotzdem kaufen sollen? Welcher Kerl gibt schon Geld für sich selbst aus? Wenn man doch keine Mieze in den Sportwagen bekommt, wozu soll man ihn dann kaufen? In die Stammkneipe kommt man auch mit der Straßenbahn, aber man kann dort nach Belieben saufen.

    Sagt der Psychiater zum Patienten: „Sie haben keinen Minderwertigkeitskomplex. Sie sind minderwertig. Aber weiter: „Na und? Die Welt braucht auch solche Menschen, sie halten sie am Laufen. Seid stolz darauf!

    *

    Es wurde telefoniert.

    „Ach, Kurt! Na, was macht das Geschäft?"

    „Guten Tag, Willi. Ja, läuft schon."

    „Du rufst mich doch ganz sicher nicht an, um mir zu erzählen, daß es dir gut geht. Du doch nicht."

    Gequetschtes Lachen. „Ach, weißt du, mir geht’s immer gut. Du kennst mich doch. Das muß ich dir nicht extra sagen. Nein, klar. Ich hab’ da was. Wenn du dich mal ein bißchen umtun könntest."

    Willi mußte kurz zurückhaken: „Bist du noch immer als freischaffender Bankberater im Geschäft?" Geplänkel, wie die Höflichkeit es verlangt; wie wenig es in Wirklichkeit darum ging, mußte einer dem anderen nicht sagen.

    „Ach ja, wie man das nennen mag. Ich vermittle schon immer auch für Lobbyverbände. Nein, auch die kennen mich nicht wirklich, und du wirst auch weiter nicht zu viel erfahren, du Erzgauner. Ich durchschau’ dich doch. Nicht daß du mich am Profil noch erkennst."

    Jetzt lachte Willi knapp gehustet. Natürlich, er war schon lange eingeweiht. Seine eigene Schattenwelt. Nur: nie es offen aussprechen.

    Kurt wieder: „Na ja, man hört hier und da Wünsche. Eben von den Lobbies. Also, es wird gemurmelt, der Muchser, dieser Lolli, hört auf die falschen Leute. Der zickt beim Geheimvertrag über Umweltstandards, du weißt. Hört auf den falschen Verband."

    „Ja, und?"

    „Wir brauchen einen geschmeidigen Nachfolger. Einen schön fügsamen. Wenn du einen anfüttern könntest?

    Kurze Pause, wieder Willi: „Ja, ich könnte mir da schon welche denken. So zwei oder drei. Nicht ganz so plump wie der Graf, nicht so eitel. Versuch’ ich’s mal. Da fällt mir besonders einer ein, der ist fällig. Geht sonst übers Verfallsdatum, denn sollte man mal verbrauchen."

    Kurt begeisterte sich. „Na, prachtvoll. Also die erste Rate von der Vermittlungsprovision gleich, die zweite bei Erfolg, und nach Cayman an deine Makleradresse wie immer?"

    „Wieviel?"

    „Der übliche Tarif. Nimm mal ein Objekt in Abu Dhabi. Also bemüh dich. Wir zählen darauf."

    Man hatte sich noch nie gesehen. Ob Kurt wirklich Kurt hieß? Ein unabhängig schaffender Freigeist, so viel war klar, jemand, der vor allem die richtigen Anlaufstellen kannte. Wahrscheinlich einer, der solche Vermittlungsarbeit auf eigene Faust unternahm, ohne eigentlichen Auftraggeber. So machte es Willi auch. Er hieß jedenfalls nicht Willi, darüber konnte er sich gewiß sein. Aber man muß ja nicht alles wissen. Oder es ist manchmal sogar besser. Immobilienmakler war er jedenfalls auch nicht, aber er hatte auf solche Tätigkeit Konten angemeldet. Baugrund in der arabischen Wüste, wer wußte da schon Näheres?

    Da ließ sich zufrieden schmunzeln. Die Nebenbeschäftigung lief gut.

    *

    Frau Sehl bemängelte die Praktikantin Ulla, die heute in kurzer Hose gekommen war; ob das denn angehe in dieser Branche mitten im Geschäftsleben, und das ohne Strumpfhose?

    Fotograf Markus Paller sah es sachlich. „Solange sie keine Kundenkontakte macht, warum nicht? Wir haben Sommer; es ist warm. Aber diese Länge ist ungünstig."

    Die Hose war kanariengelb und ziemlich locker geschnitten, etwa ein Drittel Oberschenkel lang, also zahm und bürgerlich, einfach nur der Jahreszeit gemäß bequem. Paller erläuterte weiter, seines Faches kundig: „Soweit sind das ganz gefällige Beine, wie üblich, wenig Wade, etwas volle Oberschenkel, aber noch ansehbar. Richtige Hot Pants wären natürlich besser, die machen lang, aber die sehen nur gut aus bei Frauen mit schmalem Becken. Hat unsere Ulla aber nicht; die ist richtig weiblich. Dann ist die Gegend da oben sehr heikel. Feiste Hüften können alles zerstören. Gut, hat sie auch nicht. Aber doch ordentlich rund. Bei dieser Länge hätte ein Minirock mehr Eleganz. Diese Hose macht die Schenkel kurz, und das kommt nicht gut."

    „Ist aber die Mode, erklärte die Sehl. „Sonst wäre das zu sexy. Sexy ist aber nicht mehr in.

    Peter Kaul, Grafikdesigner, gesellte sich dazu. Ulla gab sich taub.

    Frau Sehl beharrte auf den Strumpfhosen. Kein Wunder; sie war die Frau für den Empfang, nicht mehr ganz jung, ihr geziemte das Geschäftskostüm. Wie sollte sie anderen gönnen, daß sie es sich bequemer machten?

    Paller griff sich die Kamera und ging an die Arbeit. „Da wäre ich nicht so stur. Strumpfhosen können auch verrucht sein, Revue oder so. Nackte Haut hat was von Freizeit; ist es etwa das, was Sie stört?"

    Kaul meinte: „Ich sehe das vor allem ästhetisch. Bei glatter Haut ist nichts einzuwenden; wenn sie grobporig wäre, pickelig oder mit Cellulitis, dann ja. Ist sie aber nicht."

    Und Paller fand: „Gut ist auch irgendwie originell, zum Beispiel sehr blaß grün mit vielen eckigen Sommersprossen, sowas sieht man nur in Natur, das kriegt keine Strumpfhose hin."

    Ulla hatte die Nervenstärke, ungerührt weiterzuarbeiten. Das hier waren Profis, da mußte sie bestehen, und die Musterung war nicht pornographisch, sondern graphisch und photographisch. Es gab keinen Vorwand, sich zu beschweren, wenn man sie als Modell benutzte. Das war weit entfernt von aller sexuellen Belustigung. Hier ging es um Stil und Gestaltung, es war ein Arbeitsgebiet dieses Ladens, die Beschäftigung damit gehörte zum Dienst, da waren Fachleute bei der Arbeit. Das hatte nicht die Lüsternheit von Gaffern; so urteilt ein Techniker über die Eignung eines Gerätes, und in diesem Büro war immer der Hintergedanke: Wie läßt sich das vermarkten, was uns vorliegt? Natürlich auch der Körperbau einer Praktikantin.

    Eigentlich schade.

    Kaul meinte: „Mädchenbeine wirken am besten in größerer Zahl. Sonst sieht man zu genau auf die Einzelheiten und wird kritisch. Wirklich hübsch anzusehen sind Frauenbeine selten. Aber so drei bis fünf Paar, nahe beieinander. Am besten, wenn sie deutlich verschieden sind. Nicht wie ein Ballett, nicht so militärisch wie in der Revue. Da gleicht sich viel aus, und jeder sucht sich heraus, was ihm gefällt. So eine Art Hain."

    Mit säuerlichem Gesicht meinte Frau Sehl, die ja auch professionell ungerührt zu sein hatte: „Also eine Mädchenklasse in Shorts."

    „Ja, das kann sehr niedlich aussehen", bestätigte Paller. „Das merk’ ich mir mal vor. Zum

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