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SPIEGEL-Gespräche mit Helmut Schmidt: Ein SPIEGEL E-Book
SPIEGEL-Gespräche mit Helmut Schmidt: Ein SPIEGEL E-Book
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SPIEGEL-Gespräche mit Helmut Schmidt: Ein SPIEGEL E-Book

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About this ebook

Kein deutscher Kanzler war auf das Amt so gut vorbereitet wie Helmut Schmidt. Schließlich hatte er zuvor mehrere Ministerposten eingenommen. Und doch fürchtete er sich vor der Aufgabe, als er sie 1974 übernahm - und meisterte sie mit Bravour. Ob Terrorismus, Weltwirtschaftskrise, Kalter Krieg: Aus Sicht vieler Deutscher war Schmidt der beste Regierungschef, den wir je hatten. Nach seinem Sturz 1982 folgte eine beinahe ebenso spektakuläre zweite Karriere als Altkanzler. Der Hamburger stieg zur unbestrittenen Autorität in fast allen politischen Fragen auf.

Der SPIEGEL hat den Lebensweg Schmidts mit Sympathie, aber auch Kritik begleitet. Dieses E-Book versammelt die 24 besten Gespräche und Interviews mit ihm aus über vier Jahrzehnten.
LanguageDeutsch
Release dateNov 19, 2015
ISBN9783877631553
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    SPIEGEL-Gespräche mit Helmut Schmidt - SPIEGEL-Verlag

    Inhaltsverzeichnis


    Helmut Schmidt

    Vorwort


    DER AUFSTIEG

    „Ich bin gegen Koalitionen"

    Der SPD-Fraktionsvorsitzende Helmut Schmidt über seine Rolle in der ersten Großen Koalition

    „Ein gewisses Bedauern hier und dort"

    Die frühe Warnung von Verteidigungsminister Schmidt vor sowjetischen Mittelstreckenraketen

    „Ohne Macht kann man nicht reformieren"

    Das überraschende Plädoyer für eine radikale Umverteilung

    „Mit Worten allein kann man nicht kämpfen"

    Wirtschafts- und Finanzminister Schmidt über die Intrigen in der Regierung Willy Brandts und die Vorteile höherer Schulden

    „Die Partei braucht keinen Kronprinzen"

    Finanzminister Schmidt über seine Stellung in Partei und Kabinett

    „Wer die Mitte abschreckt, verliert"

    Die Sicht Schmidts auf das Unbehagen der Bundesbürger der SPD


    DER KANZLER

    „Wir sind ein erstklassiger Partner"

    Die neue weltpolitische Rolle der Bundesrepublik

    „Denen musste es mal gezeigt werden"

    Die Antwort auf den Terrorismus

    „Gleiches nicht mit Gleichem vergelten"

    Die Reaktion der DDR auf das SPIEGEL-Manifest und der Vorwurf des Rentenbetrugs

    „Leistung liegt im Deutschen drin"

    Der Glückfall Bundesrepublik, die deutsche Teilung und der Kampf gegen den RAF-Terrorismus

    „Meine Sorge ist: kein Stillstand"

    Die Gefahr eines Weltkrieges, der Nato-Doppelbeschluss und die sowjetische Invasion in Afghanistan

    „Breschnew ist doch kein Abenteurer"

    Kanzler Schmidt über seinen Versuch, in Moskau zwischen Amerikanern und Sowjets zu vermitteln

    „Einen Zwiespalt gibt es bei mir nicht"

    Die Bereitschaft Schmidts zum Ausstieg aus der Kernenergie

    „Die FDP wird nicht geschont"

    Die Krise der sozialliberalen Koalition


    DER ZEITZEUGE

    „Die Schizophrenie des Ganzen"

    Jugend in der Nazi-Zeit

    „Die Amerikaner haben uns ungeheuer geholfen"

    Erinnerungen an die Gründerjahre der Bundesrepublik

    „Umtaufen in Strauß-Affäre"

    Die SPIEGEL-Affäre 1962

    „Der gefährlichste Moment"

    Die atomare Abschreckung und die Gefahr eines Nuklearkriegs


    DER ELDER STATESMAN

    „Es gibt drei große Krisen"

    Altkanzler Schmidt über Helmut Kohl und die Kanzler-Tauglichkeit von Wolfgang Schäuble

    „Den Knüppel vergraben"

    Die Schwächen des Vertrags von Maastricht

    „Das ist grober Unfug"

    Die Folgen des Irak-Kriegs für das deutsch-amerikanische Verhältnis

    „Er kann regieren"

    Altkanzler Schmidt ruft Peer Steinbrück zum SPD-Kanzlerkandidaten aus

    „17 waren viel zu viele"

    Schmidt und Frankreichs Ex-Präsident Valéry Giscard d'Estaing analysieren die Gründe der Euro-Krise

    „Willy verstand nichts von Wirtschaft"

    Die Altkanzler Schmidt und Gerhard Schröder über 150 Jahre SPD-Geschichte


    Anhang

    Impressum

    Helmut Schmidt • Einleitung

    Vorwort

    Unter normalen Umständen wäre Helmut Schmidt nicht Bundeskanzler geworden, denn zwei nur wenig ältere Sozialdemokraten konnten ihre Ansprüche besser begründen. Doch der eine – es war der heute vergessene SPD-Fraktionsvorsitzende Fritz Erler – starb 1967 an Krebs; und der andere – Schmidts Amtsvorgänger Willy Brandt – trat 1974 zurück. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Schmidt bereits darauf eingestellt, bei nächster Gelegenheit aus der Politik in die Wirtschaft zu wechseln.  

    Stattdessen zog er ins Kanzleramt ein, in dem er gut acht Jahre verblieb. In dieser Spanne übte er enormen Einfluss auf die internationale Politik aus. Ob US-Präsidenten, sowjetische Spitzenpolitiker oder europäische Staats- und Regierungschefs – sie alle gaben Schmidts Worten großes Gewicht.  

    Und dennoch machte sich der Hanseat  keine Illusionen über die eigene Bedeutung. Die entscheidenden Weichenstellungen – die Bindung im Westen und die Öffnung nach Osten – hatten seine Vorgänger vorgenommen. Seine Regierungszeit werde eine „Episode bleiben, schrieb Schmidt 1976, und er fügte hinzu, sie werde hoffentlich als „hilfreich betrachtet werden.  

    Als Schmidts Hauptaufgabe erwies es sich, Schlimmeres zu verhindern: indem er die Folgen der Weltwirtschaftskrise eindämmte, den aufkommenden Konflikt zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion abmilderte und – seine wohl größte Leistung – den Terrorismus bekämpfte, ohne den Rechtsstaat preiszugeben.  

    Viele Deutsche haben ihn dafür respektiert, verehrt haben sie ihn nicht. Das änderte sich erst nach seinem Sturz 1982. Schmidt wurde zum erfolgreichsten Altkanzler, den die Deutschen je hatten, zur unbestrittenen Autorität in fast allen politischen Fragen. Der SPIEGEL hat die zwei Karrieren Schmidts mit einer Mischung aus Sympathie und Kritik begleitet. Herausgeber Rudolf Augstein bezeichnete ihn im Rückblick als einen der weltweit „zehn bedeutendsten Regierungschefs der Nachkriegszeit".  

    Der Sozialdemokrat widerum schimpfte zuweilen über die Neigung des Hamburger Magazins, „jedwede öffentliche Autorität zu zerstören. Und er adelte es zugleich mit dem Befund, dass ohne den SPIEGEL „manche üblen Affären und mancher Betrug am Parlament und an der öffentlichen Meinung unentdeckt und ungeahnt geblieben wären.  

    In diesem E-Book finden Sie ein Auswahl der besten Interviews und SPIEGEL-Gespräche mit Helmut Schmidt.          

    Klaus Wiegrefe

    DER AUFSTIEG • SPIEGEL 28/1969

    „Ich bin gegen Koalitionen"

    SPIEGEL-Interview mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Helmut Schmidt

    SPIEGEL: Herr Schmidt, würden Sie grundsätzlich noch einmal die Aufgabe übernehmen wollen, Moderator einer Großen Koalition zu sein?

    Schmidt: Wenn die Frage so gemeint ist, ob ich, noch einmal zurückversetzt in die Situation vom November/Dezember 1966, die gleiche Entscheidung treffen würde, lautet meine Antwort: ja. Wenn die Frage sich auf künftige Situationen bezieht, lautet meine Antwort: Ich will das nicht ausschließen.

    SPIEGEL: Haben Sie mit Herrn Barzel gern oder nur zähneknirschend zusammengearbeitet?

    Schmidt: Keineswegs zähneknirschend. Ich bin im Grunde kein Freund von Koalitionen. Wenn aber eine notwendig ist, gehört dazu der Wille zur Kooperation. Im Gegensatz zu manch anderem Politiker auf der anderen Seite habe ich den Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion als einen kooperationsfähigen Mann kennengelernt.

    SPIEGEL: Barzel hat ja auch aus der Arbeit mit Ihnen profitiert.

    Schmidt: Ja. Barzel war vor zweieinhalb Jahren als Bundeskanzlerkandidat in seiner Fraktion abgeschlagen im Rennen geendet. Wir haben der Fraktion der CDU vorgemacht, wie in einer solchen Koalition die Parlamentsfraktionen gegenüber der Regierung aufzutreten haben. Von diesem Beispiel hat dann auch die CDU/CSU-Fraktion profitiert, und dies hat dem Herrn Barzel die Stärke gegeben, die er heute in seiner Fraktion hat.

    SPIEGEL: War es vertretbar, daß in den letzten Monaten Politik von dem Bemühen überlagert wurde, die Koalition zusammenzuhalten?

    Schmidt: Was wir im Laufe des letzten halben Jahres an die Gesellschaft voranbewegenden Gesetzen gemacht haben, ist, gemessen am Ertrag früherer Legislaturperioden, ungewöhnlich viel: Ausbildungsförderung zum Beispiel, Lohnfortzahlung, Rentenfinanzierung, Strafrechtsreform, Finanzverfassungsreform, Publizitätsgesetz man kriegt die Gesetze bald gar nicht mehr alle aus dem Kopf zusammen. Diese ungewöhnlich guten Ergebnisse konnten nur durch die Koalition gemeinsam erzielt werden.

    SPIEGEL: Nun hat die CDU/CSU zuletzt recht kaltschnäuzig ihre Mehrheit gegenüber der SPD ausgespielt. Wie fühlt man sich dann als SPD-Fraktionschef?

    Schmidt: Es gibt manche Gesetze, in denen wir sehr kaltschnäuzig unsere Forderungen durchgesetzt haben. Ich nenne zum Beispiel die Verjährung und die Lohnfortzahlung. Wie man sich fühlt, wenn man in einer Sache seinen Willen nicht durchgesetzt hat? Etwa so, wie ein SPIEGEL-Redakteur, dessen Story anders gedruckt wird, als er sie geschrieben hat.

    SPIEGEL: Unsere Storys werden, wenn überhaupt, in Absprache umgeschrieben. In der Großen Koalition dagegen las es sich oft genug am nächsten Tag anders, wenn CSU-Chef Strauß ohne Absprache das Wort oder die Feder ergriff.

    Schmidt: Es hat in der Bundesregierung erhebliche Schwierigkeiten gegeben zwischen dem Bundeskanzler und dem CSU-Vorsitzenden. Das hat sich ausgewirkt auf die Effektivität der Koalitionspolitik insgesamt. Kiesinger hat in Wirklichkeit einer Koalition aus drei und nicht aus zwei Parteien vorgesessen. Ich bezeichnete kürzlich Pressechef Diehl als heimlichen Oberbundeskanzler. Strauß könnte man den unheimlichen Unterbundeskanzler des Herrn Kiesinger nennen.

    SPIEGEL: Halten Sie es dennoch für richtig, daß die SPD 1966 nicht mit der FDP, die ihre Fähigkeit zur Geschlossenheit doch bei der Heinemann-Wahl bewies, eine Koalition bildete?

    Schmidt: Zurückversetzt in die Lage vom Herbst 1966 würde ich dieselbe Entscheidung noch einmal treffen. Im Laufe von 20 Jahren haben über 20 Abgeordnete der FDP während der Legislaturperioden ihre Fraktion verlassen, davon einer zur SPD, alle anderen zu rechten Parteien. Man muß das auch für die Zukunft einkalkulieren. Seit der Heinemann-Wahl haben wir Landesparteitage der FDP erlebt, die nicht zu Ende geführt werden konnten, wir haben Austritte von FDP-Landtagsabgeordneten erlebt. Von zuverlässiger Einheitlichkeit kann hier nicht die Rede sein. Deshalb war die theoretische SPD/FDP-Mehrheit bisher zu klein zum Regieren.

    SPIEGEL: Brandt hat angekündigt, er wolle selbst die Führung im Parlament übernehmen, wenn die SPD in die Opposition käme. Wo sehen Sie dann Ihre Aufgabe?

    Schmidt: Bei der Führung der Sozialdemokratischen Partei handelt es sich immer um ein Team. Einen gegen den anderen durch spitze Fragen in Interviews ausspielen zu wollen, scheint mir ein ziemlich aussichtsloser Versuch.

    DER AUFSTIEG • SPIEGEL 46/1970

    „Ein gewisses Bedauern hier und dort"

    SPIEGEL-Interview mit Verteidigungsminister Helmut Schmidt über die Salt-Gespräche

    In der finnischen Hauptstadt Helsinki sprechen seit letzter Woche Sowjets und Amerikaner zum dritten Mal über eine Begrenzung ihrer strategischen Waffen (Strategic Arms Limitation Talks, Abkürzung Salt). Beide Seiten haben sich offenbar darüber geeinigt, zunächst nur über jene weitreichenden Waffensysteme zu verhandeln, mit denen sie einander direkt angreifen oder einen solchen Angriff abwehren können. Die Mittelstrecken-Atomwaffenträger, über die Ost und West in Europa verfügen – darunter 700 sowjetische Raketen – sind vorerst nicht Verhandlungsthema. Westeuropäische Militärs befürchten, daß die beiden Großen sich einigen, ohne diese atomare Gefahr auszuräumen.

    SPIEGEL: Herr Minister, Sie haben einmal gesagt, es würde eine „ernste Lage entstehen, „wenn Salt zum Erfolg kommt, ohne von den 700 russischen Mittelstrecken-Raketen zu reden. Ist die Lage jetzt ernst?

    Schmidt: Zunächst: Hier sprechen zwei Weltmächte unter dem Gesichtspunkt ihrer eigenen Interessen miteinander. Zu ihren eigenen Interessen gehört bei beiden auch die Berücksichtigung der Interessen ihrer jeweiligen Verbündeten. Ich meine aber, daß ähnlich wie beim Atomsperrvertrag auch nach einem eventuellen Ergebnis der dritten Salt-Runde – ein Resultat wäre im Laufe des Winters oder Frühjahrs denkbar – damit gerechnet werden muß, daß die direkten Interessen dritter Staaten, die an der Verhandlung selbst nicht beteiligt sind, nicht voll befriedigt werden. Das gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland.

    SPIEGEL: Würden Sie ein solches Verhandlungsergebnis ablehnen?

    Schmidt: Nein, es gibt überragende Interessen der Friedenssicherung auch für unseren Staat, die letztlich überwiegen werden. Aus diesem Grunde werden wir etwaigen Vereinbarungen zwischen den beiden Weltmächten aus der dritten Salt-Runde mit ähnlichen Gefühlen – einem gewissen Bedauern hier und dort – zustimmen wie dem Atomsperrvertrag.

    SPIEGEL: Sie haben kürzlich in München erklärt, es habe schon beim Atomsperrvertrag Pressionen gegeben, und man müsse bei Salt vielleicht mit stärkeren rechnen.

    Schmidt: Anders als bei den damaligen Verhandlungen zwischen den Weltmächten sind wir diesmal – nicht nur die Bundesrepublik Deutschland, sondern alle europäischen Verbündeten der USA – sehr stark in jede Phase vor und während dieser drei Gesprächsrunden eingeschaltet gewesen: Man hat uns informiert und konsultiert. Es gibt hier keine Kritik am Verfahren. Übrigens müssen wir ja einer Salt-Vereinbarung nicht beitreten, weil wir „strategische" Waffen nicht besitzen.

    SPIEGEL: Die Supermächte nähern sich einer Einigungsformel, nach der nur strategische Waffen wie Interkontinental-Raketen, Atom-U-Boote und Fernbomber auf dem heutigen Stand eingefroren werden sollen. Fänden Sie das befriedigend?

    Schmidt: Der Unterschied zwischen strategischen Waffen und nichtstrategischen Waffen ist akademisch. Gleichwohl hat er sich im Laufe der Zeit auf der ganzen Welt eingebürgert. Natürlich sind auch Mittelstreckenraketen strategische Waffen, die zu politischen Pressionen benutzt werden können – übrigens ebenso wie Bomberflotten oder Panzerdivisionen –, weil sie strategische, nämlich politische und nicht nur militärische Bedeutung haben können.

    SPIEGEL: Fällt die Frage der Mittelstreckenrakete unter den Tisch?

    Schmidt: Es ist ganz gewiß falsch, anzunehmen, daß bei Salt über Mittelstreckenraketen überhaupt nicht geredet würde. Aber: Vereinbarungen zwischen den USA und der Sowjet-Union sind auf manchen Gebieten sogenannter strategischer Waffen sehr viel einfacher als auf dem Gebiet der Mittelstreckenraketen, und zwar deshalb, weil nur die Sowjet-Union jene Raketen hat. Auf Seiten des Westens steht dem nichts Vergleichbares gegenüber.

    SPIEGEL: Die Amerikaner haben ihre in Europa stationierten Mittelstreckenraketen 1962 abgezogen.

    Schmidt: Es waren nur sehr wenige, und sie wären inzwischen auch reif fürs Heeresmuseum. Über diesen Abzug will ich nicht klagen. Aber es ist auf jenem Gebiet von den Amerikanern auch nichts mehr entwickelt worden. Das macht jeden Handel, jeden Kompromiß über diese Kategorie von Waffen schwierig.

    SPIEGEL: Warum müßte denn eigentlich überhaupt gehandelt werden? Normalerweise kann die Bundesrepublik doch als Nato-Land davon ausgehen, daß auch der Einsatz der sowjetischen atomaren Mittelstreckenraketen zwangsläufig den großen Gegenschlag der Amerikaner auslösen müßte.

    Schmidt: Im Zeitalter nuklearen Gleichgewichts zwischen den Supermächten wird ohne allergrößte Not weder der eine noch der andere von seiner First Strike Capability* Gebrauch machen. Infolgedessen verringert sich im militärischen Gleichgewicht auf der Welt zwangsläufig die politische und kriegsverhindernde Wirkung der First Strike wie auch der Second Strike Capability, über die beide gleichermaßen verfügen. Die politische Bedeutung konventioneller militärischer Machtmittel wird dagegen größer.

    SPIEGEL: Aber Sie haben doch selbst gesagt, die Mittelstreckenraketen gehörten eigentlich zu den strategischen, also keinesfalls zu den konventionellen Waffen.

    Schmidt: Die Tatsache, daß Mittelstreckenraketen nur auf einer Seite vorhanden sind, beeinträchtigt zwar das nuklear-strategische Gleichgewicht nicht wesentlich. Ich würde sogar von politisch-strategischer Parität auf diesem Felde reden. Weil aber diese Mittelstreckenraketen sicherlich noch ein Jahrzehnt militärisch-technisch brauchbar bleiben, bleiben sie auch politisch brauchbar, und zwar gegenüber europäischen Ländern. Mir wäre es, weiß Gott, lieber, sie wären nicht da.

    SPIEGEL: Würde nicht ein Erfolg der Salt-Gespräche die Grundlage für weitere Verhandlungen auch über Mittelstreckenraketen oder die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Europa bedeuten, die Sie angeregt haben?

    Schmidt: Sicher. Falls Salt zu keinem Ergebnis führen oder gar dramatisch scheitern sollte, wird es keine ernsthaften Gespräche zwischen den östlichen und westlichen Staaten über beiderseitige Verringerung der Truppen und Waffen in Mitteleuropa geben. Politisch gesehen kann so etwas nur erfolgreich angestrebt werden im Laufe einer Entwicklung, die auf einem Wirksamwerden des deutsch-sowjetischen Vertrages aufbaut. Das heißt: Befriedigende Regelung der schwebenden Berlin-Fragen, kein neuer Krieg im Nahen Osten und auch kein schwerer Rückschlag bei Salt. Es besteht gute Aussicht, daß diese Voraussetzungen eintreten. Unsere Bemühungen um beiderseitige Truppenreduzierung sind – genauso wie der deutschsowjetische Vertrag und die Verhandlungen darüber – die Fortsetzung unserer Gleichgewichtspolitik mit anderen Mitteln.

    *Fähigkeit zum ersten (Atom-)Schlag, Second Strike Capability: Fähigkeit zum atomaren Gegenschlag.

    DER AUFSTIEG • SPIEGEL 1-2/1971

    „Ohne Macht kann man nicht reformieren"

    SPIEGEL-Gespräch mit dem stellvertretenden SPD-Vorsitzenden, Verteidigungsminister Helmut Schmidt

    SPIEGEL: Herr Minister, wir haben ja in Deutschland, Gott sei Dank, keinen Spiro Agnew, aber wir haben einen Helmut Schmidt. Und dem wird vorgeworfen, daß er verunsicherten Kleinbürgern nach dem Munde redet, daß er, wie Wehner auf dem Jungsozialisten-Kongreß in Bremen sagte, lästerliche Reden gehalten hat. Sind Sie der Champion der SPD für Law and Order?

    Schmidt: Was Herbert Wehner gemeint haben könnte, muß er Ihnen selber erläutern, das ist nicht meine Sache. Ihnen wäre ich dankbar, wenn Sie mir konkret sagen würden, wo der Schmidt sich für „Law and Order" eingesetzt hat.

    SPIEGEL: Vielleicht meinen Wehner und wir dasselbe, nämlich Ihre Äußerungen vor dem SPD-Parteirat im Februar 1969. Da haben Sie von Versumpfung der Landschaft und moralischer Knochenerweichung gesprochen und zugleich davon, daß auch die Demokratie Führer brauche und daß es darum gehe, 25 oder 30 Millionen verunsicherten Kleinbürgern wieder die Sicherheit zu geben, ihre Volkswagen würden nicht umgeworfen.

    Schmidt: Mein Diskussionsbeitrag im Parteirat bezog sich auf die Situation von 1969 und wurde in einem Bundestags-Wahljahr formuliert. Die Sozialdemokratische Partei, die die Gesellschaft und den Staat und seine Institutionen verändern will, muß ja zugleich das Kunststück vollbringen, das Vertrauen von mehr als 50 Prozent der Wähler zu erringen und zu erhalten. Das heißt: Die politisch Führenden dieser Partei müssen einerseits die eigenen und die zukünftigen Wähler, die man dazugewinnen will, in dem, was ihnen an Veränderung des Bestehenden als politisch wünschenswert vorgestellt wird, soweit wie möglich fordern, aber sie andererseits nicht so weit überfordern, daß sie sich aus Konservativismus zurückwenden zur CDU/CSU.

    SPIEGEL: Damals haben Sie von der wünschenswerten Veränderung des Bestehenden nichts gesagt. Sie haben gegen „gewisse Leute", die ja auch verändern wollten, ein bewußt gehandhabtes Prinzip strafrechtlicher Abschreckung gefordert und Richtern und Staatsanwälten vorgeworfen, daß sie die Gesetze nicht zügig anwenden.

    Schmidt: Ich bin der Meinung, daß solche Gesetze, die staatliche Behörden zum Handeln auffordern, auch befolgt werden müssen. Es ist ein Unterschied zwischen einem Gesetz, das einer Behörde anheimgibt, nach Opportunität zu verfahren, und einem Gesetz, das eine Behörde anweist, das eine zu lassen oder das andere zu tun. Personen, die von Staats wegen Macht ausüben, müssen sich in ihrem Verhalten nach dem richten, was im Gesetz steht. Alles andere liefe darauf hinaus, Machtpositionen unkontrolliert benutzen zu lassen.

    SPIEGEL: Warum werden Sie innerhalb Ihrer Partei von einigen Leuten angegriffen?

    Schmidt: Zum Beispiel mein entschiedenes Eintreten für die Große Koalition 1966 trägt mir noch heute einiges an Gegnerschaft in der Partei ein. Zumal ich nicht zu denen gehöre, die ihr Mitmachen bei der Großen Koalition öffentlich vergessen machen wollen.

    SPIEGEL: Ihr Parteifreund Wehner und die Jungsozialisten haben offenbar den Eindruck, daß Sie rigoros nach links abblocken und nach rechts den Kleinbürger streicheln.

    Schmidt: Was den Kleinbürger angeht, so würde ich es für völlig falsch halten, ihn zu streicheln, ihn einzulullen. Bis zu einem gewissen Grade ist es sogar dringend notwendig, ihn unsicher zu machen hinsichtlich der ihm vertraut gewesenen Umwelt, denn ohne ein gewisses Maß an Unsichermachen ist es ja nicht möglich, ihn zum kritischen Urteil über das bisher vertraut Gewesene zu bringen. Aber eine Sicherheit darf ich ihm nicht nehmen: daß das Neue, was die Sozialdemokratische Partei an die Stelle des Vertrauten zu setzen verspricht, nicht nur möglich ist, sondern daß es für alle vorteilhaft ist und für ihn nicht das Ende seiner Existenz bringt.

    SPIEGEL: Darin würden Ihnen wohl sogar die Jungsozialisten zustimmen. Dennoch gelten Sie bei den Jusos als Rechter. Wären Sie zum Juso-Kongreß nach Bremen gegangen, hätten Sie damit rechnen müssen, ausgebuht zu werden. Wie erklären Sie sich das?

    Schmidt: Zunächst einmal halte ich es für unzulässig, „die" Jungsozialisten als eine einheitliche politische Position aufzufassen. Es gibt weit über 100 000 junge Sozialdemokraten im Jungsozialistenalter, und nur ein relativ kleiner Prozentsatz von ihnen hat sich in den Jungsozialistengruppen zusammengetan. Viele politisch sehr aktive junge Sozialdemokraten sind außerhalb dieser Gruppen tätig. Und selbst der relativ kleine Teil, der sich in Jungsozialistengruppen organisiert, hat unter sich durchaus verschiedene Auffassungen zu verschiedenen Fragen.

    SPIEGEL: Zugegeben, aber die Mehrheit der Jusos, die Mehrheit der gewählten Delegierten in Bremen hätte Ihnen bei dem Kongreß einen unfreundlichen Empfang bereitet.

    Schmidt: Wenn es so gekommen wäre – das steht ja nicht fest –, hätte es an Vorurteilen gelegen, die der eine oder andere und manche miteinander über meine politische Position verbreiten. Und im übrigen glaube ich nicht, daß jemand, der konkret politisch denken und auch argumentieren will, im Ernst einer Diskussion mit mir ausweichen würde.

    SPIEGEL: Norbert Gansel sagte, im Parteipräsidium gebe es außer Wehner, Brandt und Wischnewski nur eine reaktionäre Masse. Nun bestreiten Politiker heute gern, daß es rechte und linke Flügel überhaupt gibt. Aber ist es nicht doch so, daß es in Ihrer Partei eine rechte Mehrheit gibt und daß sie in Ihnen ihren Mann sieht?

    Schmidt: Ich gehöre zu denjenigen, die sich immer gegen die Tendenz zur Gruppenbildung innerhalb der eigenen Partei gewehrt haben. Von einer rechten Flügelbildung in diesem Sinne, insbesondere wenn sie gleichgesetzt wird mit der Mehrheit in der SPD, wie Sie es eben taten, kann man gegenwärtig – und ich füge hinzu: Gott sei Dank – nicht sprechen.

    SPIEGEL: Aber von markanten Gegensätzen wird man wohl sprechen dürfen.

    Schmidt: Was ich für mich gelten lassen würde, ist die ausgesprochene Überzeugung, daß die Sozialdemokratische Partei Deutschlands in die Lage versetzt werden muß, aus eigener Kraft, gestützt nur auf die Mandate ihrer eigenen Fraktionskollegen, eine Regierung im Deutschen Bundestag zu bilden. Das ist mein Ziel gewesen, seit ich dieser Partei zugehöre. Damit es erreicht werden kann, ist notwendig, die Sozialdemokratische Partei wählbar zu machen und wählbar zu halten für ausreichend viele Personen, das heißt über die 50 Prozent hinaus. Ob man diese Personen als rechts, links, oben oder unten einstuft, ist im Augenblick kein brennendes politisches Problem.

    SPIEGEL: Sind Sie der kompromißlose Pragmatiker der SPD, der auf die Veränderung gesellschaftspolitischer Verhältnisse verzichtet, um konservative Wähler zu gewinnen?

    Schmidt: Wenn eine politische Partei danach strebt, die Mehrheit im Lande zu erringen, ist das kein Pragmatismus, sondern der Daseinszweck einer politischen Partei in einem parlamentarischen Staatssystem. Weiter: Was mich angeht, kann von einem Verzicht auf den Versuch, die Gesellschaft und den Staat und seine Institutionen zu verändern, überhaupt keine Rede sein. Ich halte es hier mit Herbert Wehner, und wir halten es beide mit Max Weber, der das Wort von der Notwendigkeit des Augenmaßes für einen Politiker zuerst geprägt hat. Augenmaß für das, was jeweils möglich ist.

    SPIEGEL: Oder nötig ist.

    Schmidt: Es gibt Leute, die das im Augenblick Mögliche für weniger nötig halten und sich lieber mit Fernzielen oder gar mit Endzielen beschäftigen. Andere und ich selbst halten Fern- oder Endziele für etwas unverzichtbar Notwendiges, an dem sie ihre augenblicklichen Schritte orientieren, legen aber besonderes Gewicht darauf, die augenblicklichen Schritte genauso groß zu tun, wie es nur gerade eben geht, aber nicht größer, als es geht. Um zum Beispiel nicht Gefahr zu laufen, daß sie entweder Stimmen verlieren oder daß sie Versprechungen machen, die sie im Laufe einer Legislaturperiode nicht verwirklichen können. Ich würde es für unzulässig halten, jemand als „bloßen" Pragmatiker abzustempeln, weil er immer gerade die Schritte tut, die eben noch möglich sind, und nicht zugleich über das große Ziel spricht. Genauso würde ich es für unzulässig halten, denjenigen, der seine Aufmerksamkeit auf das Fernziel richtet, deswegen als Nichtpolitiker abzustempeln. Ich gehöre nicht der Denkrichtung an, die sich etwa den Wahlspruch zu eigen macht, das Ziel sei nicht wichtig, der Weg sei alles.

    SPIEGEL: Aber dabei kommt es zu Zielkonflikten. Es könnte sein, daß gewisse Fragen keinen Aufschub mehr dulden und gelöst werden müssen, man sie aber gleichwohl nicht glaubt anpacken zu können, weil man Rückschläge bei den Wählern befürchtet.

    Schmidt: Können Sie mir ein praktisches Beispiel für eine Frage geben, die aus Rücksicht auf irgendwelche Wählergruppen nicht angepackt wird, obwohl sie eigentlich keinen Aufschub duldet?

    SPIEGEL: Sind Sie der Meinung, daß beispielsweise das Eigentum an Grund und Boden stärker eingeschränkt werden muß als bisher?

    Schmidt: Ja. Im Prinzip muß die soziale Bindung des Eigentums an Grund und Boden in der Praxis des Bundes, der Länder und vor allem der Gemeinden sehr viel stärker ausgeprägt werden. Dazu ist zweifellos eine Änderung der zugrundeliegenden Gesetze notwendig.

    SPIEGEL: Sind Sie für konfiskatorische Erbschaftsteuern bei Großvermögen, um die Vererbung von Machtpositionen zu verhindern?

    Schmidt: Nein. Ich bin überhaupt gegen „konfiskatorische Steuern". Der Ausdruck ist in Wirklichkeit ein Pleonasmus, denn jede Steuer konfisziert. Ich spreche lieber davon, daß das bisherige System unserer Erbschaftsteuer den Grundsatz steuerlicher Gerechtigkeit nur in sehr unzureichender Weise widerspiegelt, daß unser Steuersystem insgesamt diesen Grundsatz nicht ausreichend befolgt und daß es deshalb geändert werden muß.

    SPIEGEL: Meinen Sie mit mehr Steuergerechtigkeit höhere Steuern auf Groß-Einkommen, Großvermögen und Groß-Erbschaften?

    Schmidt: Ich gehe über eine mittlere Frist – über eine Frist von zehn, zwölf Jahren – davon aus, daß die wachsenden Aufgaben, die in einer modernen Industriegesellschaft durch den Staat oder durch die Gemeinschaft geleistet werden müssen, zwangsläufig dazu führen, daß die Gesamtsteuerbelastung der Gesellschaft zwar langsam, aber sicher ansteigen muß. Und daß sie außerdem gerechter verteilt werden muß.

    SPIEGEL: Wenn Sie nicht deutlich sagen, welche Gruppen stärker belastet werden sollen, dann werden Sie damit auch potentielle SPD-Wähler verschrecken.

    Schmidt: Das Publikum ist heute ganz gewiß einer höheren Steuerbelastung in der Gesamtgesellschaft abgeneigt. Dies ist also nicht dem Publikum nach dem Munde geredet, sondern eher gegen die bisherige Mehrheitsmeinung gesagt. Ich bin allerdings nicht der Meinung, daß das in abrupten Sprüngen zu geschehen habe, sondern daß es sukzessiv geschehen muß.

    SPIEGEL: Stimmen Sie mit dem Fernziel der Jungsozialisten überein, daß die westdeutsche Gesellschaft durch systemüberwindende Reformen von Grund auf verändert werden muß?

    Schmidt: Diese Formel ist kein Fernziel, sondern ein Gemeinplatz.

    SPIEGEL: Sie selbst haben von der Veränderung der Gesellschaft gesprochen, der sich die SPD verschrieben habe.

    Schmidt: Ich habe nicht gesagt, daß Veränderung an sich ein Fernziel sei.

    SPIEGEL: Ist die westdeutsche Gesellschaft eine Klassengesellschaft?

    Schmidt: Die Gesellschaft in der Bundesrepublik ist gewiß durch Klassen und Klassengegensätze geprägt -- aber nicht nur durch diese Art von Gegensätzen, auch durch andersartige Gegensätze. Und wenn man in der heutigen deutschen Gesellschaft von Klassen spricht, so sind die Klassen nicht etwa ausschließlich oder überwiegend definiert durch Eigentum oder Nichteigentum.

    SPIEGEL: Wodurch noch?

    Schmidt: Sie sind zum Teil definiert durch Abhängigkeiten der verschiedensten Art, und umgekehrt durch Dispositionsbefugnisse. Aber Dispositionsbefugnisse sind häufig gegeben, ohne daß Eigentum gegeben ist.

    SPIEGEL: Akzeptieren Sie, daß die Klassengesellschaft etwas Vorgegebenes hat, das nicht verändert werden muß?

    Schmidt: Nein, nein. Wie käme ich auf die Idee. Wo steht denn, daß sie vorgegeben sei. Nein, sie muß verändert werden. Nur bin ich vorsichtig bei der Formulierung des Zieles. Ich würde höchst ungern ohne Differenzierung von einer klassenlosen Gesellschaft als Ziel sprechen, denn ich weiß, daß es nach bisheriger geschichtlicher Erfahrung auch in jeder zukünftigen Gesellschaft mit Sicherheit Menschen geben wird, die mehr Dispositionsbefugnisse haben als andere.

    SPIEGEL: Halten Sie denn für wünschbar, daß künftig eine erheblich größere Zahl von Leuten als bisher an der Dispositionsbefugnis teilhat?

    Schmidt: Ich halte es nicht nur für wünschbar, sondern ich halte es für notwendig und überdies für machbar.

    SPIEGEL: Sind Sie für die paritätische Mitbestimmung?

    Schmidt: Ja. Aber

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