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Der Sekretär: Schicksal einer jüdischen Familie aus Aachen in der NS-Zeit
Der Sekretär: Schicksal einer jüdischen Familie aus Aachen in der NS-Zeit
Der Sekretär: Schicksal einer jüdischen Familie aus Aachen in der NS-Zeit
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Der Sekretär: Schicksal einer jüdischen Familie aus Aachen in der NS-Zeit

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About this ebook

Markus Waldeck, Studienrat an einem Gymnasium in Aachen, sammelt antike Möbel und restauriert sie für die eigene Wohnung. Das ist sein Hobby. Im Mai 1978 erwirbt er ein äußerst ramponiertes Möbelstück, einen alten 'Sekretär'. Bei den Restaurierungsarbeiten findet er Briefe, die Jahrzehnte darin verborgen gewesen sind. Durch diese Briefe erfahren er und seine Frau Esther von dem grausamen Schicksal einer jüdischen Großfamilie aus Aachen in der NS-Zeit.
Sensibilisiert durch den Inhalt der Briefe forscht Markus nach Überlebenden der jüdischen Familie. Eine schwierige Aufgabe, weil er Mauern des Schweigens und des Vergessenwollens durchbrechen muss. Esther und Markus erfahren aber auch, teils durch Zufall, teils durch andere Ereignisse, die schockierende, völlig gegensätzliche, mit Bedacht totgeschwiegene Vergangenheit der NS-Zeit der Eltern und Verwandten.
LanguageDeutsch
PublisherHelios Verlag
Release dateOct 12, 2015
ISBN9783869330099
Der Sekretär: Schicksal einer jüdischen Familie aus Aachen in der NS-Zeit

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    Der Sekretär - Helmut Clahsen

    978-3-86933-009-9

    Aachen, den 16. August 1928

    Emil, geliebter Bruder,

    es hat uns alle gefreut, einen Brief von Dir in Händen zu halten und zu lesen, daß es Dir gut geht. Nun aber zuerst das aller aller Wichtigste. Rebekka hat mir am 9. Juli unseren zweiten Sohn geschenkt. Mutter und Kind sind bei bester Gesundheit. Wir geben ihm den Namen Josef. Er ist ein kräftiger Junge mit einer gewaltigen Stimme, die er Tag und Nacht, letzteres nicht gerade zu meiner Freude, erschallen läßt. Wenn seine Stimme sich weiter so kräftig entwickelt, wird er bestimmt einmal ein guter Kantor in unserer Gemeinde.

    Auch Jakob entwickelt sich prächtig. Mit seinen drei Jahren hält er unser Kindermädchen ganz schön in Trab. Sein Temperament scheint eher aus der Familie Frankfurther zu stammen als aus unserer. Du hast ihn lange nicht gesehen. Er gleicht Rebekka unglaublich.

    Das war das Allerwichtigste, lieber Emil. Bevor ich Dir von den anderen Familienmitgliedern berichte, will ich auf Deinen Brief vom letzten Monat antworten.

    Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, als ich las, daß es Dir gesundheitlich und geschäftlich gut geht. Es war schon ein großes Risiko, Deinen Tuchhandel nach München zu verlegen. Obwohl ein guter Kaufmann, wofür ich Dich unbedingt halte, überall sein Auskommen findet, war ich in Sorge um Dich.

    Findest Du das normal oder übertrieben?

    Rebekka behauptet, meine Sorgen um Dich hätten ihren Grund darin, daß wir Zwillingsbrüder sind.

    Du schreibst, daß Du immer größere Geschäfte mit Tuchen in den braunen Farben der ‚Hakenkreuzler‘ machst und Dich das beunruhigt.

    Ich finde, so lange Deine Lieferungen bezahlt werden, solltest Du Dich nicht sorgen. Obwohl die Hakenkreuzler aller Orten ihre Schmutzkübel niederträchtiger und gemeiner geistiger Produkte über uns Juden ausschütten, glaube ich nicht, daß sie ernsthaft gefährlich für uns werden können. Antisemitismus hat es immer gegeben und wird es auch in Zukunft geben. Trotzdem die Hitleristen viel Zulauf haben, kann ich sie mir nicht in einer politischen Machtposition vorstellen.

    Nein, geliebter Bruder, das ist ein Spuk, der vorübergeht. Das ist auch Vaters Meinung. Du kennst sein untrügliches Gespür bei politischen und geschäftlichen Dingen. Er hält diesen Herrn Hitler für einen Säbelrassler und Unfriedenstifter. Aber eine wirkliche Gefahr sieht er von diesem Mann und seinen Spießgesellen nicht ausgehen. Papas Geschäftsfreunde in aller Welt übrigens auch nicht.

    Papa und Mama haben sich über Deinen Brief sehr gefreut und lassen Dich herzlich grüßen. Du weißt ja, daß in unserem Elternhaus jeder Brief, der nicht rein geschäftlich ist, zumindest von Mama gelesen wird. Sie ist eben eine echte jüdische Mama. Und Informationen, die sie bei ihren Teestunden und Festen in der jüdischen Gemeinde weitergeben kann, braucht sie immer. Du hättest ihre Augen strahlen sehen sollen, als sie beim letzten Purim den Damen in der Gemeinde verkünden konnte, daß ihr ältester Sohn, unser David, einer alten jüdischen Sozietät als Rechtsanwalt beitreten konnte.

    Daß Du und unsere Schwester Ruth immer noch nicht verheiratet seid, obwohl ihr wahrlich alt genug seid, bekümmert sie sehr. Ruth wohnt immer noch bei uns und zeigt keine Ambitionen, sich an einen Mann binden zu lassen. Dabei reißen die Männer sich um sie.

    Du hast auch sie lange nicht gesehen. Schau Dir die Bilder an, die ich Dir beigelegt habe. Ist sie nicht eine echte Schönheit?

    Mama präsentiert Ruthchen bei jeder Gelegenheit, wie Papa die teuersten seiner Juwelen im Schaufenster präsentiert. Mama ist immer noch davon überzeugt, daß ein jüdisches Mädchen nicht früh genug verheiratet werden kann. Wenn Ruthchen wieder einmal einen von Mama geköderten, reichen bis einflussreichen Heiratskandidaten in die Wüste geschickt hat, ist Mama sehr unleidlich. Gleichwohl Ruthchen ihr jedes Mal sagt, daß sie sich niemals verschachern lassen wird, versucht Mama es ein bis zweimal im Jahr. Die ‚Bewerber‘ werden schon immer ‚reifer‘. Dabei ist unsere schöne Schwester doch erst dreißig, und außerdem ist sie durch ihren Beruf unabhängig. Aber bringe das Mama mal bei. Du, mein geliebter Bruder und Ruthchen, ihr seid noch nicht unter der Haube und deshalb Mamas Sorgenkinder.

    Bei unserer Ida hatte sie es leichter. Folgsam, wie Ida immer war, hat sie den ausgesuchten Falkenstein geheiratet und hat mit Friedrich zwei Mädchen und für Mama zwei entzückende Enkelkinder bekommen. Sibille, so alt wie unser Jakob, hat sich gut entwickelt. Julie ist noch kein Jahr, aber auch sie ist gesund und kräftig. Ida und Friedrich wohnen seit einigen Monaten in der Stadt. Einmal in der Woche mindestens kommt Ida mit den Mädchen zu Besuch. Mamas Begeisterung kannst Du Dir vorstellen. Schau Dir die Fotos an, wie sie mit ihren Enkelkindern im Sandkasten spielt. Ist sie nicht eine echte jüdische Baba?

    Papa hat auf dem Kunstmarkt in Paris wieder eine wertsteigernde Eroberung gemacht. Ein Bild eines italienischen Malers aus dem 13. Jahrhundert. Es hängt bei den anderen ‚Pinseljuwelen‘ im blauen Salon. Er hält eben Bilder, Geschmeide oder besondere ‚Steine‘ für die bessere Art der Zukunftssicherung. Den Währungen hat er noch nie getraut. Die schlimmen Zeiten der Arbeitslosigkeit und Inflation haben gezeigt, wie recht er damit hatte.

    Meine Herrenschneiderei läuft gut. Ich kann mich wirklich nicht beklagen. Ich habe noch einen zusätzlichen Zuschneider eingestellt. Der Mann ist sehr tüchtig und gewandt im Umgang mit der Kundschaft. Vier Mann habe ich nun in Lohn.

    Das war’s für heute, mein herzlieber Bruder. Viele tausend Küsse sollen Dich von allen Familienmitgliedern mit diesem Brief erreichen und ganz besonders von mir, deinem Gustav.

    PS: David hat feierlich gelobt, Dir zu schreiben. Hat er schon?

    Bevor Markus den Brief auf die Hobelbank seiner Werkstatt legte, las er noch einmal das Datum. Er erhob sich von der stabilen hölzernen Obstkiste. Noch einmal nahm er den braun gefütterten, beigen Briefumschlag zur Hand.

    An

    Herrn Emil Hartog

    München

    Baderstraße 36

    stand dort in feinster Sütterlin-Handschrift, in der auch der Brief geschrieben war. Er las den Absender: Gustav Hartog, Aachen, Försterstraße 27. Er kannte das Haus. Seit er mit Esther vor vier Jahren hierher gezogen war, ging er jeden Morgen an ihm vorbei zu der Schule, an der er unterrichtete. Vom vorderen Balkon seiner Wohnung konnte er direkt auf das Haus sehen. Er kannte die Menschen, die darin wohnten, vom Ansehen. Manchmal sah er die Kinder der Leute durch den von seiner Wohnung aus einsehbaren Garten laufen und spielen.

    Seine Hände zitterten ein wenig vor Erregung, als er den Brief beinahe andächtig zusammenfaltete und mit den Bildern wieder in den Umschlag schob. Er hob die anderen Briefumschläge vom Boden auf. Fünf hatten den gleichen Absender und den gleichen Adressaten.

    Markus schaute auf das alte Möbel. Er hatte es auseinander genommen, um es zu restaurieren. Dabei waren aus der doppelten Bodenplatte die Briefe herausgefallen. Kopfschüttelnd murmelte er vor sich hin: „Dich setze ich vorerst nicht wieder zusammen. Zuerst muss ich dich genauer untersuchen, ob du mir noch mehr zu sagen hast."

    Er nahm die Briefe, schloss die Werkstatt ab und ging hinauf in die Wohnung, in der er noch alleine war. Bis Esther nach Hause käme, würden noch Stunden vergehen. Er ging auf den vorderen Balkon und schaute hinüber zu dem Haus, dessen frühere Bewohner sich auf so wunderliche Weise in sein Leben gedrängt hatten. Er war neugierig geworden auf das, was die Briefe ihm offenbaren würden. Briefe, die vor 50 Jahren geschrieben worden waren und erst heute, 1978, plötzlich und rein zufällig in seine Hände gelangt sind.

    Esther ließ den Hefter mit den Vorgängen auf den übervollen Schreibtisch fallen, setzte die Kaffeemaschine auf dem kleinen Beistelltisch vor dem Fenster in Betrieb. Mit der gefüllten großen Steinguttasse kehrte sie zurück, setzte sich in ihren ledernen Schreibtischsessel. Sie hatte ihn selbst gekauft, als ihr die Leitung der Abteilung übertragen worden war. Sie senkte die Rückenlehne ein wenig nach hinten, um ein paar Minuten zu entspannen.

    Dienstbesprechungen, die früher immer am Vormittag stattfanden, hielt sie erst nach der Mittagspause ab. Nachmittags war kein Publikum im Amt, und die einzelnen Besprechungspunkte konnten störungsfrei abgearbeitet werden.

    Sie zündete eine Zigarette an, lehnte sich zurück und genoss den inhalierten Rauch. Ihren Kaffee trank sie schwarz und ohne Zucker. Als sie die Tasse abstellte, ruhte ihr Blick auf dem aufgemalten Hasen und der ungelenken Schrift. ‚Für Esther‘ stand da. Sie lächelte. Ein Junge hatte ihr die Tasse geschenkt. Sie besaß noch so eine, mit einer Katze drauf. Ein behindertes Mädchen hatte sie ihr zu Weihnachten geschenkt. Sie hieß Wilma und der Junge Klaus. Fünf Jahre war das schon her. Damals hatte sie als Sozialpädagogin zwei Jahre in einem Haus für körperlich und geistig behinderte Kinder gearbeitet. Eine harte, nervenaufreibende Arbeit. Nicht wegen der behinderten Kinder. Von denen hatte sie viel Liebe und Zuneigung erfahren. Der Verwaltungskram, der immerwährende Kampf gegen veraltete Strukturen und um die notwendigen finanziellen Mittel zu erhalten, hatten ihr zu schaffen gemacht. Sie war den Eindruck nie los geworden, dass dauerhaft behinderte Kinder noch immer nicht richtig ernst genommen wurden.

    Ihre ständigen Auseinandersetzungen mit der Verwaltung des Heimes um Verbesserungen zu Gunsten der Lebensqualität der Kinder hatten letztendlich zu ihrer Versetzung hierher geführt.

    Zunächst war die neue Arbeit ein Schock für sie gewesen. Täglich erfuhr sie Elend, Not, Ausweglosigkeit, Verzweiflung. Manches Leid war selbst verschuldet. Andere versuchten, die Behörden zu täuschen, um sich in schamloser Weise Geld zu erschleichen. Es gab Gesetze, Verordnungen, Verhaltensvorgaben und Anwendungsmuster. Nichts, was ihre neue Aufgabe betraf, hatte mit dem Beruf zu tun, für den sie jahrelang studiert hatte. Was hatte sie sich nicht alles vorgenommen. Es gab so vieles, was mit wenig Geld, aber mit mehr persönlichem Einsatz verbessert werden konnte. Aber davon mussten erst der ‚Heilige Bürokratius‘ und sein schier unüberwindbarer Verbündeter, der ‚Heilige Vorschrift ist Vorschrift‘ überzeugt, überrumpelt oder wenn möglich umgangen werden. Im Anfang hatte sie viel Widerstand ihrer männlich überheblichen ‚Kollegen‘ zu überwinden. Fand aber später doch einen Weg zu deren Köpfen und damit auch deren Unterstützung.

    Sie zündete erneut eine Zigarette an und lächelte bei dem Gedanken. Sie hatte damals nicht etwa an den Sachverstand der Herren appelliert. Der war durch den Amtsheiligen blockiert. Sie hatte es über die Augen der Männer geschafft. Etwas figurbetontere Kleidung, ein wenig mehr ihrer formvollendeten Beine herzeigen, und schon wurden die dienstlichen Gespräche mit ihren Mitarbeitern intensiver, erfolgreicher. Sie lächelte immer noch, versuchte Rauchringe zu produzieren. Jetzt hatte sie ein gutes Team und war dessen Vorgesetzte.

    Die Verbindung zu den behinderten Kindern hatte sie nie abreißen lassen. In ihrer jetzigen Position hatte sie schon viel mehr für diese Kinder tun können als in den zwei Jahren ihrer Tätigkeit vor Ort. Das war befriedigend.

    Sie brachte den Sessel wieder in Arbeitsposition, erhob sich und versetzte ihr Büro in Feierabendzustand. Sie achtete peinlichst darauf, dass kein beschriebenes Blatt unverschlossen liegen blieb, wenn sie nach Hause ging. Als Letztes riss sie noch die Kalenderblätter bis zum kommenden Montag, dem 8. Mai, ab.

    Markus wurde es zu heiß auf dem Balkon, den die pralle Nachmittagssonne in einen wahren Glutofen verwandelte. Er ging in die Wohnung, schloss die Balkontüre und die Jalousien, um die Hitze auszusperren. Er ging auf den geräumigeren hinteren Balkon, der dem Lousberg zugewandt war und im Schatten lag. In der warmen Jahreszeit war das ein idealer Aufenthaltsort.

    Das ganze Jahr über, besonders aber im Winter, kamen über einen langen Ast einer Rotbuche, der bis an den Balkon heranreichte, Eichhörnchen und holten sich das ausgelegte Futter. Nicht einmal das an dem Balkondach aufgehängte Vogelhaus war sicher vor den kleinen putzigen Kletterkünstlern.

    Wenn die Wetterlage es zuließ, korrigierte er auf diesem Balkon die Arbeiten seiner Schüler und bereitete sich auch dort auf den Unterricht vor. Er war immer noch fassungslos über den Fund der Briefe. Welch ein sonderbarer Zufall. In der Scheune eines Bauern, zwischen ausgemusterten und kaputten alten Möbelstücken, hatte er vor Wochen den Sekretär entdeckt und dem Bauern abgekauft. Genau so ein Möbelstück hatte er schon seit Jahren auf seinen Lumpensammlertouren zu finden gehofft. Zwar fehlte an der hinteren rechten Seite des Holzrahmens ein herausgebrochenes Stück, das als Schrankfuß endete, was er aber nicht als problematisch angesehen hatte. Er hatte seine Hobbywerkstatt, in der er schon so manches alte Möbel restauriert und für die eigene Wohnung aufgearbeitet hatte. Das Alles kam ihm höchst seltsam, fast schon schicksalhaft vor. Hätte er, um den Rahmen zu ersetzen, die Seitenwand nicht komplett entfernen müssen, wären die Briefe wohl für immer verborgen geblieben. Er setzte sich in einen der bequemen Balkonsessel und las den Brief, den er schon gelesen hatte, noch einmal. Bei dem Namen Frankfurther stutzte er. Esther war eine geborene Frankfurther. Gab es zu dieser Rebekka Hartog, geborene Frankfurther, womöglich irgendwelche familiären Verbindungen? Er nahm das Bild, auf dem eine schwarzhaarige Frau zu sehen war, die ein Baby im Arm hatte. Auf der Rückseite stand zu lesen: Rebekka und Josef, 16. Juli 1928. Lange und intensiv betrachtete er das Foto, das im Laufe der Jahre etwas in Mitleidenschaft geraten war, unter einer stark vergrößernden Lupe. Erstaunlich, dachte er. Die gleichen dunklen Haare, die gleichen großen, dunklen Augen. Sogar das Lachen dieser Rebekka und die Wangengrübchen zeigten große Ähnlichkeit mit Esther. Einbildung? Das konnte nur Einbildung sein. Unter diesen Umständen würde ich doch bei jeder schwarzhaarigen Frau mit dunklen Augen Ähnlichkeiten mit Esther entdecken. Er lächelte über seine Einfalt. Esthers Mutter hatte früher auch schwarze Haare und ganz dunkle Augen. Er lehnte sich zurück, rieb sich die Augen und schaute in die Sträucher und Bäume des Lousberges; ließ sich für kurze Zeit von den Spaziergängern in diesem Naherholungsgebiet ablenken. Er nahm das andere Bild, auf dem ebenfalls eine junge schwarzhaarige Frau abgelichtet war. Ruth, Mai 1928, las er auf der Rückseite. Beide Frauen, Rebekka und Ruth, schienen gleichaltrig gewesen zu sein. Vorsichtig faltete er den Brief und steckte ihn mit den Bildern in den Umschlag zurück. Ihm war seltsam zu Mute. Er ahnte, nein, er war sich sicher, dass sich in den Briefen das Schicksal einer jüdischen Familie während der Zeit des Nationalsozialismus offenbaren würde. Einer Familie, die einen kräftigen Steinwurf weit von ihm und Esther entfernt gelebt hatte, Kinder zur Welt gebracht und aufgezogen hatte.

    Ob von diesen Menschen, die so plötzlich in sein Leben hineingefallen waren, einer diese mörderische Zeit überlebt hatte? Er schaute nachdenklich in die Schattenspiele, die die Sonne in dem unterschiedlichen Grün der Bäume und Sträucher hervorrief. Wenn er die anderen Briefe auch lesen würde, da war er ganz sicher, würden ihm alle diese Menschen sehr, sehr nahe kommen. Würde er damit umgehen können?

    Bisher war alles, was er über diese Zeit gehört, gelesen, in Filmen und Gedenkstätten gesehen hatte, eine grauenhaft unmenschliche Vergangenheit gewesen. Vergangenheit, die er in keiner Weise begreifen konnte. Er hatte grauenhafte Bilder von entrechteten, gefolterten, unterernährten Menschen gesehen. Waren darunter auch die Hartog, Frankfurther, Falkenstein, die er in dem Brief und auf den Fotos kennen gelernt hatte? Waren diese Menschen vielleicht unter den Leichen bergen, die er auf Bildern gesehen hatte?

    Sollte er die Briefe wirklich lesen oder sollte er sie ungelesen verbrennen?

    Während er nach einer Lösung suchte, beobachtete er die Menschen, die auf den Wegen des Lousberges diesen sonnigen Maiennachmittag genossen. Vorwiegend ältere und alte Menschen, die einzeln oder paarweise, in langsamen, manche mit mühsamen Schritten vorübergingen. Menschen, die, wenn seine Augen ihn nicht trogen, alt genug waren, jene schreckliche Zeit miterlebt zu haben. Vielleicht besuchte der eine oder andere der männlichen Spaziergänger in diesem Naherholungsgebiet jene Stelle, an dem das Fliegerabwehrgeschütz gestanden hatte, mit dem er damals auf feindliche Bomber geschossen hatte. Alte Menschen vergessen nicht. Sie hängen an ihren Erinnerungen.

    Markus Gedanken kehrten wieder zu den Briefen zurück. Warum hatte Emil Hartog sich so viel Mühe gemacht, die Briefe zu verstecken?

    Emil Hartog, Gustav Hartog. Die Namen waren ihm schon vertraut. Für wen hatte Emil die Briefe wohl aufbewahren wollen? Ob die Antwort darauf in den anderen Briefen zu finden sein würde? Für seinen Geschichtsunterricht würden die Briefe eine enorme Bereicherung sein, zumal sie in der früher üblichen Sütterlinschrift geschrieben worden sind. Durfte er diese Briefe überhaupt im Unterricht verwenden? Fragen, auf die er noch keine Antworten hatte. Er schaute auf die Uhr an seinem Arm. Nicht mehr lange, und Esther würde nach Hause kommen. Er räumte den Tisch ab und deckte ihn für die Abendmahlzeit. Die Briefe schob er einstweilen in die Tasche, in der er die Klassenarbeiten seiner Schüler transportierte.

    Markus hatte sich während des Abendessens sehr einsilbig und nachdenklich verhalten. Sicher wieder irgend ein Problem in der Schule, dachte Esther, als sie den Tisch abräumte. Sie wusste, er würde schon von selber mit ihr darüber reden wollen, wenn es nötig sein würde. Um es ihm etwas leichter zu machen und um den wundervollen Abend zu genießen, öffnete sie eine Flasche ‚Blauer Spätburgunder‘, deren kraftvollen, vollmundigen Inhalt sie beide besonders liebten.

    Die laue Abendluft wechselte mit jedem leisen Windhauch den Duft, der vom Lousberg herunter wehte. Würzig und vielfältig waren die Duftwogen der Bäume und erblühenden Sträucher in der Zeit des nahenden Abends. Vogelstimmen wurden noch einmal laut, bevor sie für diesen Tag verstummten.

    Für die Weile, in der sie das erste Glas Wein leerten, hatte Esther sich im Liegestuhl ganz dem Genuss des Weines und der Abendstimmung hingegeben. Als Markus ihr Glas nachfüllte, sah sie ihn an. „Was bedrückt dich, Markus? Willst du darüber reden?"

    Er nickte. „Ich muss sogar mit dir darüber reden, Liebste." Er stellte die Weinflasche auf den Tisch zurück, nahm die Tasche, in der die Briefe waren, setzte sich neben Esther auf den Boden und sah sie ernst an.

    Er muss wirklich ein Problem haben, dachte sie und brachte ihren Liegestuhl in aufrechte Sitzposition. „Was haben deine Klassenmonster angestellt?", scherzte sie.

    Markus nahm den Brief, den er gelesen hatte, aus der Tasche und hielt ihn ihr hin. „Lies ihn und lass uns darüber reden. Dieser Brief ist spannender als alles, was meinen Klassenmonstern je eingefallen ist."

    Esther mühte sich ab, die Anschrift, den Absender und den recht unleserlichen Poststempel zu entziffern. „Wo hast du den her? Hast du ihn etwa geöffnet?" Erstaunen lag in ihrer Stimme.

    Markus schüttelte den Kopf. „Er war in dem Sekretär verborgen, den ich für uns restauriere, der mit Sicherheit jenem Emil Hartog einmal gehört hat. Er erzählte ihr, wie er in den Besitz der Briefe gekommen war. Er nahm den Brief und die Bilder aus dem Umschlag und hielt ihr beides hin. „Lies ihn. Bitte. Er erhob sich, schaltete die Balkonbeleuchtung ein und ließ sich wieder neben Esther nieder.

    Sie schaute sich zuerst die Fotografien an. Legte sie auf ihren Schoß und entfaltete den Brief. „August 1928. Ihre Stimme klang nachdenklich. „Da war ich noch gar nicht auf der Welt. Ich bin erst fünfzehn Jahre später geboren. Eine sehr schöne und gleichmäßige Schrift. Sie betrachtete die Blätter eine Weile und hielt sie dann Markus hin. „Tut mir leid, Markus, du musst ihn mir vorlesen. Ich habe kaum Übung darin, diese Schrift zu lesen."

    Während Markus vorlas, hatte sie sich die Bilder noch einmal angesehen. Das dritte Foto zeigte eine Frau über fünfzig, die lachend mit drei Kindern in einem Sandkasten spielte. Einem Mädchen und einem Jungen, die schätzungsweise drei Jahre alt sein mochten, und einem Kleinkind, circa ein Jahr alt. Esther drehte das Foto um und las: Oma Sally mit ihren Enkelkindern Sibille, Jakob und Klein-Julie. 16. Juli 1928.

    Als Markus zu Ende gelesen hatte, fand Esther: „Wir leben so nahe an dieser Vergangenheit. Kennst du das Haus, in dem die Menschen gelebt hatten?"

    „Ja. Du kennst es auch. Oft genug hast du die Statue des Jagdhorn blasenden Jägers mit seinem Hund bestaunt, die über dem Hauseingang steht."

    Esther sah ihn erstaunt an. „Lache mich bitte nicht aus, aber immer wenn ich die lebensechte Figur gesehen habe, war mir, als hätte sie mir etwas zu sagen gehabt. Jetzt, wo wir die Menschen, die dort gelebt haben, durch Briefe kennenlernen, bin ich tief beeindruckt."

    „Ist dir deine Namensverwandtschaft mit dieser Rebekka Hartog aufgefallen? Vielleicht solltest du deine Mutter danach fragen."

    „Ach, Markus. Der Name Frankfurther ist bei uns in Mainz keine Seltenheit."

    „Ja. Genau deshalb."

    „Scheint mir äußerst unwahrscheinlich. Ich kenne zwar nicht die Religionszugehörigkeit aller Menschen dieses Namens, aber Mama ist jedenfalls stockkatholisch."

    „Und dein Vater? Und seine Verwandtschaft? Schließlich kommt der Name ja von ihm."

    „Vater ist 1944 gestorben. Ich habe ihn nicht einmal gekannt. Wie er ausgesehen hat, weiß ich nur von den Bildern auf Mutters Anrichte im Wohnzimmer. Ob er katholisch war, kann ich dir nicht sagen."

    „Und wenn du deine Mutter einmal ganz gezielt nach deinem Vater fragst?"

    „Ach, Markus. Was soll das? Er ist vierunddreißig Jahre tot. Du hast den Brief einer jüdischen Familie gefunden, in der zufällig jemand den gleichen Familiennamen hatte wie mein Vater, und schon spielst du den Ahnenforscher."

    „Ich finde es nur seltsam, dass deine Mutter nie über ihren Mann, deinen Vater, gesprochen hat. Ich an deiner Stelle hätte unbedingt wissen wollen, wer und wie mein Vater gewesen ist."

    „Markus. Liebster. Ich werde Mama niemals unter Druck setzen. Sie hat mich nie belogen, Markus. Sie hat mir nur sehr wenig erzählt. Aber damit kann ich prima leben. Ihr Leben mit meinem Vater mag wunderbar oder schrecklich gewesen sein. Es war ihr Leben. Wenn sie darüber nicht sprechen will, habe ich das zu respektieren, und ich werde es immer respektieren. Sie hat mich unter schwierigsten Bedingungen erzogen. Hat in einer Munitionsfabrik gearbeitet, bis der Krieg zu Ende war. Ich war über Tag alleine zu Hause oder bei unserer Nachbarin. Von den Verwandten kümmerte sich niemand um uns. Später, als es uns besser ging, wollte Mama auch keinen Kontakt zu ihnen."

    „Leben eigentlich noch Verwandte? Von deiner Mutter oder von deinem Vater? Du hast in all den Jahren, seit wir uns kennen, nie Verwandte erwähnt."

    „Ich weiß nicht, ob noch jemand lebt. Möglich ist es schon, aber es hat und es wird mich auch nicht interessieren, erwiderte Esther mit Härte, um ihm anzuzeigen, dass sie nicht gewillt war, mit ihrer Verwandtschaft in Kontakt zu treten. Etwas versöhnlicher fragte sie: „Wollen wir nicht reingehen? Es wird kühl hier draußen.

    Während Markus vom Boden hochkam und die Tasche an sich nahm, bekannte er: „Esther, es gibt noch mehr Briefe von Gustav Hartog. Auf der Türschwelle zum Wohnzimmer drehte sie sich abrupt zu ihm um. „Noch mehr Briefe? Hast du sie etwa alle schon gelesen?

    „Nein. Aber ich will es tun." Er schloss die Balkontüre hinter sich, nahm die Briefe aus der Tasche und legte sie auf den Wohnzimmertisch, bevor er sich auf dem Sofa niederließ.

    Esther hatte den Rest aus der Flasche in die Gläser verteilt und setzte sich neben ihn. „Ich verstehe ja, dass dich das alles ungeheuer neugierig macht. Trotzdem rate ich dir, heute keinen Brief mehr zu lesen. Du weißt nicht, was dich in den einzelnen Briefen erwartet. Allein schon die Nähe zu dem früheren Lebensraum der Menschen wird uns beide sehr stark beeindrucken. Wir brauchen nichts zu überstürzen. Wir haben alle Zeit, die wir brauchen."

    „Du hast völlig recht, fand Markus. „Lass uns noch den Rest des Weines genießen. Morgen sehen wir weiter.

    Markus war schon früh aufgewacht. Um Esther, die samstags gerne etwas länger schlief, nicht zu wecken, stahl er sich vorsichtig und leise aus dem Bett. Er hatte die Türe des Schlafzimmers noch nicht erreicht, als er Esthers recht munter klingende Stimme vernahm: „Du brauchst nicht zu schleichen, ich kann doch nicht mehr schlafen. Ich habe so wirres Zeug geträumt."

    „Etwa von den Briefen?"

    „Ja. Nein. Nicht direkt. Ach, ich weiß nicht mehr so genau. Wirres Zeug eben. Aber mit dem Haus, den Hartogs und den Briefen hatte es auch zu tun. Ich kriege es nicht mehr zusammen. Sie stieg aus dem Bett, ging zu ihm und schmiegte sich an ihn. „Machst du das Frühstück, dann gehe ich schon ins Bad, raunte sie ihm zu und löste sich aus seiner Umarmung. Aus dem Badezimmer rief sie ihm noch zu: „Lass uns auf dem vorderen Balkon frühstücken, Schatz, das Wetter ist so schön."

    Sie genossen die angenehme Wärme der frühen Sonnenstrahlen während des Frühstücks. Esther schaute immer wieder zu dem Haus in der Försterstraße hinüber. „Ich finde, wir sollten das Wochenende ganz den Briefen aus dem Haus da drüben widmen." Und als sie sich erneut eine Tasse Kaffee eingefüllt und einen Schluck getrunken hatte, meinte sie: „Es ist doch wirklich sehr eigenartig, dass diese Briefe nach fünfzig Jahren nahezu an den Ort

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