Anschließen, angleichen, abwickeln: Die westdeutschen Planungen zur Übernahme der DDR 1952-1990
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Anhand des verfügbaren Aktenbestandes dieser Einrichtungen zeigt der Autor, dass die Vereinigung 1990 nach Vorgaben vollzogen ist, die bereits in den 1950er Jahren vor allem von Wissenschaftlern ausgearbeitet worden waren, die zuvor ihre planerischen Fähigkeiten in den Dienst des Nationalsozialismus gestellt hatten. Hochspannend und absolut empfehlenswert - uns ist kein vergleichbares Buch bekannt!
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Anschließen, angleichen, abwickeln - Karl Heinz Roth
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Einleitung
Der Anschluss der Deutschen Demokratischen Republik an das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland liegt nun fast zehn Jahre zurück. Aber dieses Ereignis ist noch keineswegs Geschichte geworden, sondern mehr denn je Objekt eines erbittert geführten Meinungskampfs über seine Vorbedingungen, Legitimationsgrundlagen, Abläufe und Auswirkungen. Dabei verfügen die bundesdeutschen Akteure und Vollstrecker des Geschehens zusammen mit ihren damals innerhalb weniger Monate rekrutierten ostdeutschen Koalitionspartnern auch heute noch über eine fast uneingeschränkte Führerschaft in Medien, Politik und Wissenschaft. Sie nutzen sie zu immer neu ansetzenden Delegitimationskampagnen gegen die abgewickelten Führungsschichten, Hoheitsträger und Anhänger des unter bundesdeutsche Herrschaft gebrachten realsozialistischen Nachbarlands. Längst ist auf die juristische Abrechnung eine Denunziationsphase gefolgt, die nicht mehr wie in vergangenen Zeiten behördliche Aktenschränke mit anonymen Schreiben füllt, sondern öffentlich-medial zelebriert wird. Die Stimmen der Besiegten sind inzwischen fast vollkommen verstummt.
Derartige Konstellationen sind ungünstig für den Historiker. Wo soll er seinen Standpunkt beziehen? Sicherlich nicht bei den Siegern: Ihre Verdikte verdecken nicht nur die eigenen Fehlhandlungen mitsamt ihren katastrophalen Auswirkungen, sondern sind auch der Geschichtsforschung, die nur zu verstehen und zu erklären hat, grundsätzlich fremd. Aber auch zum Anwalt der Unterworfenen vermag sie sich nicht aufzuschwingen, so naheliegend dies angesichts der ihnen zugefügten Demütigungen auch sein mag. Die Historiographie hat generell keine Solidaritätsadressen zu produzieren, sondern die Problemfelder des Vergangenen kritisch zu bearbeiten, um zu einem besseren Verständnis der Gegenwart beizutragen. Im vorliegenden Fall geht es um eine nüchterne Analyse jener Voraussetzungen und Entwicklungstendenzen, die vom politischen Machtzentrum der BRD 1989/90 genutzt werden konnten, um sich die DDR nach jahrzehntelangem Vorplanen und Warten auf ein günstiges »strategisches Fenster« einzuverleiben.
Aus diesen Prämissen erschließen sich die Rahmenbedingungen der folgenden Untersuchung. Der vernichterische Selbstlauf der Nazi-Diktatur war 1945 durch die militärischen Anstrengungen der vier alliierten Mächte beendet worden und hatte zur Okkupation des Reichs und seiner Hauptstadt, aufgeteilt in vier Besatzungszonen beziehungsweise Sektoren, geführt. Das in jeder Hinsicht ungleiche Viermächtebündnis hatte nicht lange Bestand gehabt und sich eineinhalb Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation seines Hauptgegners aufzulösen begonnen. Knapp drei Jahre später waren die Relikte des »Deutschen Reichs« unter aktiver Beteiligung ihrer territorial getrennt agierenden Resteliten – aus der Arbeiterbewegung im Osten, dem Bürgertum im Westen – in zwei Staaten gespalten, die sich strukturell und gesellschaftlich – nicht aber mental – an die Normensysteme der jeweiligen Hauptprotagonisten des Kalten Kriegs anpassten. Die deutsch-deutsche Grenze verlor die letzten Austauschfunktionen und Kommunikationsbrücken, wie sie einer Demarkationslinie zwischen benachbarten Okkupationsmächten durchaus noch zu eigen sind, und wurde zur Frontlinie. Es begann eine vierzigjährige separate Entwicklung, die unterschiedliche Gesellschaftsformen und Lebensweisen hervorbrachte und die Gegensätze zwischen den beiden deutschen Staaten vertiefte. Dabei avancierten die BRD, die DDR und das gespaltene Berlin zunehmend zu Musterknaben des jeweiligen Bündnissystems. Vor allem im Gefolge der mehrfach an den Rand eines Dritten Weltkriegs geratenen Konfrontationen zwischen den beiden Supermächten erlangten sie eine herausragende strategisch-politische Bedeutung.
Hinsichtlich ihrer Stellung innerhalb der feindlichen Machtblöcke entwickelten sich die beiden deutschen Staaten jedoch extrem ungleich. Die Bundesrepublik avancierte zum sozioökonomischen Gravitationsfeld des westeuropäischen Integrationsprozesses. Vergleichbare Erfolge hatte die durch umfangreiche Reparationsleistungen zurückgeworfene und kleinere DDR nicht aufzuweisen. Hinzu kam, dass der osteuropäische Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) die sich in den staatlichen Planungssystemen manifestierenden Nationalismen Ostmitteleuropas nur sehr begrenzt zu mäßigen verstand. Diese strukturelle Unterlegenheit wirkte sich auf die ohnehin in die Rolle eines hässlichen kleinen Bruders gezwängte DDR langfristig fatal aus. Die ungleichen Entwicklungschancen der beiden deutschen Staaten fanden ihre Entsprechung in ihrer jeweiligen machtpolitischen Verortung. Die Bundesrepublik konnte es sich aufgrund ihrer Bedeutung im westlichen Bündnissystem leisten, die Option einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten unter von ihr zu diktierenden Bedingungen zu formulieren und daran vierzig Jahre lang festzuhalten. Wie wir heute wissen, modifizierte die »neue Ostpolitik« der 70er Jahre diese grundsätzliche Festlegung nur auf der taktischen Ebene. Genauso wenig änderte die schon von Konrad Adenauer in politisches Handeln übersetzte Erkenntnis, dass die »Wiedervereinigung« einen langen Atem brauchte, am Grundsatz einer »Wiedervereinigung« zu ausschließlich westdeutschen Konditionen: Nur ein im Rahmen der Westintegration erstarktes Westdeutschland würde eines Tags in der Lage sein, der im Niedergang begriffenen Sowjetunion die Kontrolle über die DDR zu entreißen.
Solche strategischen Möglichkeiten hatten die DDR-Eliten niemals. Die DDR war wirtschaftspolitisch schwach sowie gesellschaftspolitisch häufig instabil. Ihre Regierung konnte sich deshalb eine offensive Langzeitstrategie gegen die Bundesrepublik zu keinem Zeitpunkt ihrer vierzigjährigen Geschichte leisten. Auch eine wie immer geartete Umweg-Konzeption à la Adenauer war nicht konstruierbar, denn eine der BRD-Entwicklung entsprechende Führungsposition innerhalb des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe kam trotz erheblicher Produktivitätsvorsprünge niemals zustande. Als die DDR-Führung beispielsweise zu Beginn der 70er Jahre versuchte, durch eine Außenhandelsoffensive eine Art Katalysatorfunktion innerhalb des RGW zu erlangen, scheiterte sie nicht nur an den unkalkulierbar gewordenen weltwirtschaftlichen Bedingungen. Sie war auch durch die Stagnation und Wankelmütigkeit ihrer Führungsmacht beeinträchtigt, die nach ihrer militärisch-strategischen Niederlage im internationalen Raketen-Wettrüsten Mitte der 80er Jahre der Europäischen Gemeinschaft für den Fall der Konstruktion eines von der USA-Präsenz gereinigten »gemeinsamen europäischen Hauses« einen deutsch-deutschen Konföderationsprozess anbot. Auch in dieser Hinsicht hatte David nie eine Chance gegen Goliath. Ein zur permanenten Defensive gezwungener David verliert die aus seiner Schwächeposition gewonnenen Vorteile größerer Wendigkeit und wird über kurz oder lang von Goliath erdrückt.
Alles in allem befand sich die DDR gegenüber der BRD immer in der Defensive. Sie hatte nie eine Chance, Einfluss auf die entscheidenden Machtzentren in Wirtschaft, Gesellschaft und Wissenschaft zwischen Rhein und Elbe zu gewinnen, und deshalb werden die Fanatiker der Gauck-Behörde und ihres Umfelds auch niemals ein Planungspapier zur staatssozialistischen Anpassung der BRD-Ökonomie und der sie tragenden Infrastrukturen an die durch die DDR vorgegebenen Bedingungen vorweisen können. An diesem Befund ändern auch die inzwischen mit lautem Getöse vorgetragenen Enthüllungen über die Westpolitik der SED und die Aktivitäten der Hauptverwaltung Aufklärung im Ministerium für Staatssicherheit nicht das Geringste. Die DDR konnte lediglich versuchen, durch Einflussnahme auf die öffentliche Meinung, auf einzelne politische Entscheidungsträger und dissidente politische Bewegungen sowie durch eine einigermaßen effiziente Durchleuchtung der Sicherheitspolitik das vom westdeutschen Goliath ausgehende Bedrohungspotential zu mäßigen.
Derartige unnütze wie ressourcenverschleißende Aktivitäten hatten die bundesrepublikanischen Gegenspieler nur in den frühen Konfrontationsjahren nötig. Die Versuche zur Subversion der DDR-Gesellschaft mit Hilfe militanter antikommunistischer Vereinigungen wurden Ende der 50er Jahre eingestellt und durch die professionelle Beobachtung der wirtschaftlichen, sozialen und machtpolitischen Entwicklungstendenzen jenseits der Elbe ersetzt. Darauf aufbauend kam es zu langdauernden Bemühungen um die Vorplanung eines mehrstufigen Transformationsprozesses von Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Politik im Sinne der Anpassung an das westdeutsche Gesellschaftsmodell. Hier scheute man keine Anstrengung, um für den »Tag X«, aus dem später eine Art »Jahr X« wurde, gewappnet und im Augenblick der Öffnung des »strategischen Fensters« zur Stelle zu sein. Die Planungen zum Anschließen, Angleichen und Abwickeln des Nachbarstaates entwickelten sich zeitweilig zu einem weit verbreiteten Gesellschaftsspiel, dem Privatunternehmen, Spitzen- und Regionalbehörden, Ärzteverbände, Anwaltsvereine und selbstverständlich auch die mächtigen Organisationen der gewerblichen Wirtschaft frönten. Manches davon mutet heute anachronistisch an, anderes dagegen wirkt hochaktuell, denn es wurde in den Transformationsprozessen von 1989/90 plötzlich virulent. Wichtiger als die dabei getroffenen konzeptionellen Festlegungen war jedoch das mit diesen Vorübungen und Exerzitien verbundene mentale Syndrom: auf jede sich bietende Gelegenheit gefasst und im richtigen Augenblick auf dem Sprung zu sein. Eine Mentalitätsgeschichte des Anschlusses von Staaten in der modernen Geschichte ist möglicherweise erkenntnisträchtiger als die inzwischen allmählich in Gang kommende vergleichende Analyse ihres Pendants in den Sphären der Gesellschafts-, Wirtschafts- und Machtpolitik.¹
Den entscheidenden Kristallisationspunkt für diese Planungen bildete der 1952 beim Gesamtdeutschen Ministerium gegründete Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands. Er lieferte einem Interministeriellen Ausschuss des Bundeskabinetts für Fragen der Wiedervereinigung nicht nur die Blaupausen, sondern diente auch als Koordinationszentrum für alle einschlägigen öffentlichen und privaten Anschluss-Vorhaben. Der Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands war außergewöhnlich langlebig und brachte durch sein kompromissloses Festhalten an der Anschluss-Option Kontinuität in die wechselhaften Konjunkturen bundesdeutscher DDR-Politik. Während der 70er Jahre wurde er zeitweilig in den Hintergrund geschoben, erlebte dann aber in der Ära Kohl ein bemerkenswertes Comeback – gerade noch rechtzeitig, um die Erfahrungen eines mehr als dreißigjährigen strategischen Denkens in die sich abzeichnenden Handlungsoptionen der späten 80er Jahre einzubringen.
Die wesentlichen Entwicklungsetappen, analytischen Leistungen und Handlungsentwürfe des Forschungsbeirats, der seit 1975 Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen hieß, werden im folgenden dargestellt und dokumentiert. Dabei ist ein ziemlich umfassender Überblick über diese Planungsagentur möglich, denn die einschlägigen Quellenüberlieferungen sind dicht. Im Bundesarchiv Koblenz wird als Anhang zu den ihrerseits recht ergiebigen Überlieferungen des Ministeriums für gesamtdeutsche Fragen ein eigener Bestand »Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands« verwahrt,² hinzu kommen wichtige Ergänzungen aus anderen Bundesministerien und Bundesbehörden.
Die hier vorgelegte Studie steht in einem größeren Forschungskontext. In den vergangenen zehn Jahren habe ich mich mehrfach mit der Besatzungspolitik der NS-Diktatur seit der Annexion Österreichs beschäftigt. Dabei fand vor allem die Annexionspolitik zwischen März 1938 (Annexion Österreichs) und September/Oktober 1939 (Zerstückelung Polens durch die Annexion der Westprovinzen und die Gründung eines sogenannten Generalgouvernements) mein besonderes Interesse.³ Hier wurden Instrumente geschmiedet und personelle Kontinuitäten begründet, die direkt zum Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung und zu den mit ihm kommunizierenden Bundesbehörden hinführen. Als wichtigstes Annexionsinstrument erwies sich dabei die Währungspolitik, insbesondere eine spezifische Taktik der »Währungsunion«, bei der die Währung des annektierten Gebiets kurz vor ihrer Liquidierung noch einmal künstlich aufgewertet wurde, um das annektierte Territorium schlagartig von seinen ökonomischen Außenbeziehungen abzutrennen und seine Kapital- und Warenmärkte für einen radikalen Durchdringungsprozess seitens der Unternehmen der Annexionsmacht zu öffnen. Hinzu kam die Einrichtung gesamtwirtschaftlicher Agenturen zur möglichst raschen Aneignung, Privatisierung und Übertragung von Sachvermögen, die im Herbst 1939 in Gestalt der in den annektierten westpolnischen Provinzen tätigen Haupttreuhandstelle Ost einen ersten Höhepunkt fand⁴ und mit ihren »Lernprozessen« nicht nur die Treuhand-Pläne des Forschungsbeirats inspirierte, sondern bis in die 1990 geschichtsmächtig gewordene Treuhandanstalt zur Abwicklung des DDR-Volkseigentums fortwirkte. Aber auch die personellen Kontinuitäten sind bemerkenswert: Friedrich Ernst, der erste Präsident des Forschungsbeirats, hatte in der ersten Blitzkriegsphase das Reichskommissariat für die Behandlung feindlichen Vermögens geleitet; Ludwig Erhard, Bundeswirtschaftsminister und taktischer Gegenspieler Ernsts, hatte sich seinerseits in den Jahren 1938 bis 1941 als wirtschaftspolitischer Annexionsexperte hervorgetan.⁵ Um das Wechselspiel von Kontinuität und Diskontinuität in den Planungen zum DDR-Anschluss auszuloten, halte ich die ergänzende Auseinandersetzung mit den Forschungsergebnissen über die Annexionspraktiken der NS-Eliten während des Zweiten Weltkriegs für unabdingbar.
Einzufordern wäre darüber hinaus der systematische Vergleich zwischen den wechselseitigen Durchdringungs- und Beeinflussungsmechanismen der beiden deutschen Staaten an der wohl wichtigsten Konfrontationslinie des Kalten Kriegs. Angesichts der derzeit obwaltenden politischen Verhältnisse und ihrer Auswirkungen auf die Archivpolitik ist dies jedoch auf absehbare Zeit nicht möglich. Inzwischen liegen die Überlieferungen der einschlägigen DDR-Behörden bis hin zu ihren innersten Arkanbereichen offen und werden überwiegend dazu genutzt, die Schlachten des vergangenen Kalten Kriegs risikolos noch einmal zu schlagen. Dagegen sind die Akten der westdeutschen Gegenspieler auch jenseits der gesetzlichen Dreißigjahressperre – die für die DDR-Archivalien aller Provenienzen einseitig aufgehoben worden ist – weitgehend verschlossen, und insoweit bleiben die Überlieferungen des Forschungsbeirats für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands ein isoliertes Fragment der Vordenker-Ebene. Wir können deshalb weder das Wechselspiel zwischen offensiven (BRD) und defensiven (DDR) Schlagabtauschen rekonstruieren, noch die Frage beantworten, aus welchen Quellen der Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands die ihm überreichlich zur Verfügung gestellten Daten und Informationen gewann und ab wann und auf welche Weise die daraus erarbeiteten Szenarien des Anschließens, Angleichens und Abwickelns dadurch »aktiviert« wurden, dass parallel geschaltete Schattenbehörden den strukturellen Krisenprozess der DDR durch verdeckte Operationen des Wirtschaftskriegs verschärften.
Alle diese weiterführenden Fragen verweisen auf den fragmentarischen Charakter der hier vorgestellten Analyse, die weitgehend auf die Planungsebene beschränkt bleibt. Beantworten wird sie wohl erst – wenn überhaupt – die übernächste Historikergeneration, wenn sich die derzeitige Praxis des einseitigen Archivzugangs gelockert hat und die Sieger der historisch-kritischen Forschung den Blick auf ihr eigenes archiviertes Herrschaftswissen über die Vernetzung von Planung, Entscheidungsfindung und Handeln bei der Einverleibung der DDR freigeben.
Vorgeschichte
Nach der Proklamation der Deutschen Demokratischen Republik im Oktober 1949 wurden große Teile der bundesrepublikanischen Führungsschichten und Funktionseliten von einem hartnäckigen Anschluss-Fieber befallen, das über ein Jahrzehnt lang anhielt und erst zu Beginn der 60er Jahre abebbte.⁶ Sie wollten und konnten nicht wahrhaben, dass die von ihnen knapp eineinhalb Jahre zuvor durch eine einseitige Währungsreform wesentlich mitverantwortete ökonomische und im August/September 1949 auch politisch festgeschriebene Spaltung Deutschlands nun endgültig zur staatlichen Zweiteilung geworden war. Denn wenn sich dieser Prozess stabilisierte, dann waren die politischen, ökonomischen und sozialen Folgen ihrer bisherigen, unter dem Patronat der Westmächte extrem konfrontativen Deutschlandpolitik unabsehbar.
Um dies zu verhindern, wurde seit der Jahreswende 1949/50 zum großen Aufbruch geblasen.⁷ Die schon 1948 gegründete Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit⁸ und der ein Jahr später entstandene Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen⁹ intensivierten von Westberlin aus ihre gegen die DDR gerichtete Untergrundtätigkeit. Wirtschaftliche Interessengruppen schlossen sich zusammen, um für ihre jetzt von der endgültigen Enteignung bedrohten Anlagen, Ländereien und Beteiligungen jenseits der Elbe zu trommeln, so der Gemeinschaftsausschuss der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft, der Bundesverband der Heimatvertriebenen Wirtschaft e.V. und die Interessengemeinschaft der in der Zone enteigneten Betriebe. Die politischen Parteien stockten die Investitionen in ihre innerhalb der DDR noch vorhandenen Ableger auf, wobei die Sozialdemokratie mit ihrem Ostbüro und dem von ihr weitgehend kontrollierten Königsteiner Kreis¹⁰ eine herausragende Position erlangte.
Hinter diesen Initiativen wollte die sich gerade etablierende Bonner Ministerialbürokratie nicht zurückstehen.¹¹ Vor allem die frisch gebackenen Abteilungsleiter und Referenten des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen bemühten sich unter der Regie ihres Staatssekretärs Franz Thedieck, eines fanatischen Antikommunisten, um materielle Hilfestellungen und koordinierende Handreichungen. So gründeten sie einen Verein für die Wiedervereinigung Deutschlands, um unter diesem Dach verschiedene Initiativen mit der Einrichtung eines Zentrums zur Sammlung und Erschließung der gesamten Publizistik der DDR zu betrauen (Archiv Friesdorf), ihnen das Geschäft der Flüchtlingsbefragungen zu übertragen und ein Büro zur laufenden Berichterstattung aus »Mittel- und Ostdeutschland« in ihrem administrativen Vorfeld einzurichten. Zusätzlich unterstützten sie verschiedene Wirtschafts- und Agrarwissenschaftler, die sich dafür stark machten, die »SBZ-Forschung« als den mit dem dringlichsten politischen Handlungsbedarf ausgewiesenen Schwerpunkt in die allseits wieder zum Leben erwachte Ostforschung einzubauen. Das Engagement und die Vernetzungen waren bald außerordentlich groß, das Anschluss-Fieber wurde endemisch. Die Breite der gegen die DDR gerichteten Frontstellung von Politik, Wirtschaft, Publizistik und Wissenschaft bestärkte die Akteure in dem Glauben, dass die Tage des für sie ungeheuerlichen und obszönen staatssozialistischen Experiments in »Mitteldeutschland« gezählt wären.
In der Tat bescherte der gegen die DDR gewendete Antikommunismus dem zu Beginn der 50er Jahre durchaus noch prekären gewerblichen Mittelstand, den im Rahmen ihrer Nachkriegsplanungen mit Sack und Pack in die Westzonen geflüchteten Führungsschichten sowie vielen arbeitslosen Jung- und Altakademikern eine Sonderkonjunktur, die in dreierlei Hinsicht ungewöhnlich war. Sie verwischte erstens die Reminiszenzen an ihre Mittäterschaft im »Dritten Reich«, durch die sie die deutsche Misere so ungeheuer potenziert hatten. Sie hatte zweitens eine ideologische Brückenfunktion, weil sie bei den Akteuren einen Kernbestand ihrer gerade durch die Entnazifizierung geschleusten faschistischen Identität rehabilitierte. Zusätzlich zu diesen mentalen Entlastungen versprach sie drittens ein rasches soziales und wirtschaftliches Fortkommen, wenn die nun vollends akut gewordene »deutsche Frage« in ihrem Sinn gelöst wurde. Infolgedessen wurden hinter dem Schirm dieses wahrhaft »gesamtdeutschen« Herzensanliegens auch erhebliche Konkurrenzkämpfe ausgetragen. Es ging um den Neubeginn individueller Karrieren, um langfristig alimentierte publizistische Pfründe und Verbandsstrukturen, um die Neueinrichtung von Lehrstühlen, Sonderstudiengängen und außeruniversitären Instituten, aber auch um möglichst günstige Startpositionen bei der Rückerstattung des in »Mitteldeutschland« weggenommenen oder aufgegebenen Eigentums. Mit diesen Konkurrenzmechanismen gingen aber auch Marktverzerrungen einher. Es entstand erheblicher Wildwuchs, und der musste im Interesse der Sache über kurz oder lang beschnitten werden. Aber auch die überraschend starke Position, die sich die sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Arbeitskreise gleich zu Beginn des Wettrennens erkämpft hatten, galt es behutsam zurückzudämmen und ins große gesamtdeutsche Ganze einzubauen. Denn es standen bedeutende privatwirtschaftliche Interessen auf dem Spiel.
Zu derartigen Lenkungs-, Begradigungs- und Integrationsmaßnahmen fühlte sich vor allem eine in Westberlin assoziierte Gruppe von Bankiers, Journalisten, Wirtschaftsverbandsfunktionären und Ökonomieprofessoren berufen, die trotz ihrer Verankerung in der Frontstadt des Kalten Kriegs auch in Bonn über großen Einfluss verfügte.¹² Im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) konsolidierte sich unter der Regie des 1948 in den Westsektor übergewechselten Statistikers Bruno Gleitze eine neue Abteilung für »SBZ-Forschung«, die über enge Kontakte zum Königsteiner Kreis verfügte. An der Freien Universität richtete der aus Leipzig geflohene Naziökonom Karl C. Thalheim in dem von ihm mitbegründeten Osteuropa-Institut ein Zentrum für wirtschaftswissenschaftliche Ost- und Mitteldeutschlandforschung ein. Auch die Agrarwissenschaftler hofften unbeschadet ihrer tiefen Verstrickungen in die Generalplanungen des SS-Reichskommissariats für die Festigung deutschen Volkstums auf eine Fortsetzung ihrer Karrieren und stärkten ihren Mentoren Immanuel Fauser und Matthias Kramer den Rücken beim Kampf um eine angemessene Beteiligung der bevölkerungsökonomisch fundierten Landbauwissenschaften am neuen Aufbruch. Diesen wissenschaftlichen Bestrebungen gesellte sich eine um Bernhard Skrodzki gescharte Gruppe von Wirtschaftsfunktionären hinzu, die bei den Überlebensplanungen der Reichsgruppe Industrie 1944/45 eine bedeutende Rolle gespielt hatte, im April/Mai 1945 als Horchposten zurückgeblieben war und nun die Berliner Industrie- und Handelskammer neu aufbaute. Mit von der Partie war auch