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Die Reise nach Samosch (eBook)
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Die Reise nach Samosch (eBook)

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About this ebook

1941 lernt die 16-jährige Erika ihre große Liebe kennen: Der Krieg hat den sanften und feinsinnigen Literaturliebhaber Hellmut Anschütz nach Fürstenwalde verschlagen. Doch bald wird der verheiratete Hellmut nach Zamosc in Polen versetzt, wo er innerlich zerbricht. Ihre Liebe bleibt unerfüllt und eröffnet einen Reigen der verpassten Chancen in einer aus den Fugen geratenen Welt.
Hellmut verlässt Frau und Sohn, heiratet wenig später erneut und sorgt liebevoll für seinen Adoptivsohn Hans, an dem er seine Taten wieder gutmachen will. Hans wird ein begnadeter Zeichner, der leibliche Sohn Hellmuts sein Galerist. Keiner der Beteiligten ahnt etwas vom Zusammenhang ihrer Lebensgeschichten. Erst der dritten Generation gelingt es, die eigenen Sehnsüchte zu erfüllen, aus dem Reigen auszuscheren und den Teufelskreis der Schuld zu durchbrechen: Der junge Schriftsteller Sebastian Anschütz reist nach Polen und kommt an - zwar nicht in Zamosc, aber bei seiner großen Liebe.
Aus fünf Lebensläufen entwirft Michael Zeller eine epische Welt, die Schicksalswege seiner Figuren folgen dem roten Faden der jüngeren Geschichte.
LanguageDeutsch
Release dateOct 1, 2004
ISBN9783869136011
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    Die Reise nach Samosch (eBook) - Michael Zeller

    ars vivendi

    Michael Zeller

    Die Reise nach Samosch

    Roman · ars vivendi

    Der Autor dankt dem Land Nordrhein-Westfalen, das

    ihn bei der Arbeit an diesem Buch unterstützt hat.

    Originalausgabe

    Erste Auflage 2003

    © 2003 by ars vivendi verlag GmbH &Co. KG,

    Cadolzburg

    Alle Rechte vorbehalten

    www.arsvivendi.com

    Umschlaggestaltung: Berit Hüttinger

    ISBN 3-89716-374-8

    eISBN 978-3-8691-3601-1

    Die Reise nach Samosch

    Inhalt

    IErikas Tagebuch

    II Hühnergötter

    III Köbi Landolf und die anderen

    IV Hell. Dunkel. Hell

    VBasti und Bascha

    I ERIKAS TAGEBUCH

    Rauen, den 27. Mai 1940

    Heute will ich nun mein Tagebuch beginnen, das ich zu meiner großen Freude an meinem 16. Geburtstag als Geschenk bekam. Am 26.3. habe ich mein Abschlußzeugnis der Mittelschule erhalten.

    28. Mai 40

    Heute hatten wir großen Waschtag. Ich habe aber mit Irmgard den Laden und die Küche gescheuert. Dann mußten wir Mittag kochen. Unsere tapferen Soldaten haben gestern Calais eingenommen, wie eine Sondermeldung bekanntgab, und heute hat die belgische Armee auf Befehl des Königs die Waffen niedergelegt. Wir haben bei dieser Nachricht alle aufgeatmet, denn das ist für unsere Soldaten bestimmt wieder eine Erleichterung, obgleich wir auch mit weiterem Bestehen der Belgier siegen werden.

    19.6.40

    Ich gehe jetzt oft ins Kino, schon der Wochenschau wegen. Sie ist aber auch fabelhaft.

    22.6.40

    Mit den Soldaten kann man schon etwas erleben. Aber warum soll man nicht alles von der lustigen Seite betrachten, der Ernst des Lebens beginnt noch früh genug.

    Rauen, 24. Januar 1944

    Drei Jahre sind vergangen, mein Tagebuch habe ich lange ruhen lassen. Heute will ich anfangen, diese Zeit, in der ich viel erlebt habe und die mich zu einem anderen Menschen gemacht hat, meinen Blättern anzuvertrauen. Es wird für mich nicht immer ganz leicht sein, noch einmal das alles vor mir erstehen zu lassen, doch es hat sich so tief in meinem Gedächtnis eingeprägt, daß ich es versuchen möchte. –

    Es ist totenstill um mich her. Wie tut die Ruhe wohl! Wie andächtig stimmt das tiefe Schweigen. Ich will diese Blätter ganz mit der Vergangenheit füllen, mir alles Leid völlig von der Seele herunterschreiben, dann einen Strich darunter setzen, neue Blätter und ein neues Leben anfangen.

    Im Sommer 1940 habe ich aufgehört zu schreiben, vielleicht weil das, was ich bis dahin erlebte, mir nicht großartig genug erschien, es in meinem Buch festzuhalten. Heute weiß ich, wie töricht das war, gerade Eindrükke, Begebenheiten, die einem so gering erscheinen, sind oftmals bedeutend und ausschlaggebend für das ganze weitere Leben. –

    Mit der Musik möchte ich beginnen, ich liebe sie über alles, sie ist das Leben selbst für mich mit allen Schönheiten, allem Glück und auch allen Schmerzen. Sie ist für mich Andacht, Sehnsucht, ja Gott selbst. Es ist seltsam, wie weit Töne in mich hineinreichen und mich seelisch bestimmen, es mag unwirklich erscheinen und ist es doch nicht, ich habe es erfahren.

    Und warum liebe ich Musik?

    Ich kann es nicht sagen, zuerst vielleicht, weil ich nach Meinung anderer eine schöne warme Altstimme habe und mir schon früh viele Lieder und Weisen vertraut waren? Vielleicht weil ich selbst gern Instrumente spielte? Klarheit über diese Dinge bekam ich durch Hellmut …

    25.1.44

    Von Hellmut und Conny will ich schreiben, den beiden Soldaten hier: Dr. Hellmut Anschütz, dunkel, schlank, energische Gesichtszüge und sehr schöne Augen, die ich wohl nie vergessen werde. Sein ganzes Wesen bestimmt und aufrichtig.

    Dann Conrad Arnke, es stiehlt sich schon ein Lächeln in meine Züge nur bei seinem Namen: lustig, heiter und frech, aber von einer entwaffnenden Frechheit, man kann ihm nie böse sein. Trotz ausgesprochener Klugheit – ein großer, lieber Junge. Er ist lang und schlank, sein Haar dunkel, beinahe rotblond, voller Sommersprossen, die einfach dasein müssen, sein Gesicht schmal und weich geschnitten – ein schöner Mensch. Seinen eigentlichen Beruf habe ich nie erfahren, wahrscheinlich Kaufmann, er könnte ebensogut Direktor der größten Bank Deutschlands sein, er würde es spielend bewältigen.

    Zwei so verschiedene Menschen hat der Krieg hier in Fürstenwalde zusammengeführt. Sie sind nicht nur Kameraden geworden – meine Freunde.

    Bei Tante Martha lernte ich sie kennen, nach Dienstschluß kamen sie fast jeden Abend zu uns nach Rauen. Sie waren lustig, und wir plauderten über vielerlei, sangen, musizierten, besonders Hellmut sprach oft mit mir über Musik, erklärte, was mir bisher unverständlich war, bestätigte, was ich dabei empfand, und schürte diese Sehnsucht, einmal etwas darin zu leisten immer mehr; vielleicht unbewußt. Ich fühlte mich täglich mehr zu ihnen hingezogen, ich war ein Kind, das begeistert Lehre annahm, zumal ich fühlte, daß sie beide sich gern mit mir beschäftigten. Eines muß ich hier sagen: Heute weiß ich, daß sie mich erzogen haben, mehr als es meine Eltern jemals konnten. Ein wildes Mädel war ich, hatte schon früh meinen eigenen trotzigen Willen, kein Baum zu hoch, kein Graben zu weit, kein Junge zu wild, um mein Kamerad zu sein und gelegentlich Prügel von mir zu bekommen.

    Meine Mutter hatte es nicht leicht, mich zu bändigen; aber auch später gingen meine Wünsche und Interessen so weit von den ihrigen entfernt, daß wir beide niemals zueinandergefunden haben und jemals finden werden. Sie mußte wissen, daß ich sie auf meine eigene verschlossene Art liebte, sie verstand mich nicht, so sprach ich nie mit ihr über tiefe Erlebnisse, teilte ihr nie mit, was mich besonders bewegte und von dem noch jedes Kind zu seiner Mutter spricht.

    So zogen mich Conny und Hellmut immer mehr zu sich heran, wir sprachen nicht nur über Kunst, Bücher usw., es gab Tage, wo wir im Garten, am See, in den Bergen (besser gesagt im Wald) herumtollten – glücklich, ganz der Natur hingegeben. Es war Krieg und ein heiliger Ernst in Deutschland, und doch sagten sie mir später, daß sie durch mich, durch meine unbekümmerte gesunde Jugend andere Menschen geworden waren, denen ihr Dasein auf einmal anders erschien: leichter – freudiger. Ich bin stolz darauf. Es waren wohl mit die schönsten Tage, die ich in Rauen verlebte.

    26.1.44

    Dann kam der Tag, an dem ich fühlte, daß mir Hellmut viel, viel mehr wurde als nur ein lustiger Kamerad unserer sonnigen Tage. Ängstlich war ich darauf bedacht, es niemand merken zu lassen, ich versuchte mich so unbekümmert wie bisher zu geben, ich schalt mich töricht und dumm, ich wollte mich selbst auslachen, es wurden vielmehr Tränen daraus. Ich hatte ihn lieb, es machte mich selig und traurig zugleich. Es ist seltsam und wohl eines der tiefsten Geheimnisse des Lebens, daß Glück so dicht neben Leid liegt. Er durfte es nie wissen, er war verheiratet, hatte eine sehr nette Frau, ich kannte sie persönlich, er hatte ein süßes Söhnchen, das ich so gern mochte. Nein – es durfte nicht sein, redete ich mir immer wieder ein, ich war erst 17 Jahre alt. Doch ich dachte nur an mich und vergaß darüber, daß auch Hellmut ein Herz hatte, das er ängstlich behütete, eben weil ich ein Kind war.

    Ich danke ihm heute dafür, daß unsere Liebe so zart und so innig blieb, wie sie nur zwischen zwei Menschen sein kann, die frei von jeglichem Begehrenwollen und Besitzenwollen sein mußten.

    Nur wenige Stunden waren uns vergönnt, die wir in unserem Sinne gestalten durften. Unvergessen wird der Tag für mich sein, an dem ich mit Hellmut den »Faust« sah. Diese Tragödie hat mich zutiefst erschüttert, und doch war ich unendlich glücklich, daß er mich gerade dorthin geführt hat. Wie sehr verstand er mich.

    Doch Neugierde und Klatschsucht, bei Tante Martha ein williges Ohr findend, zogen das tief herab, was für uns so klar, rein und heilig war, daß mir gerade da erst die Augen geöffnet wurden.

    Es kamen furchtbare Tage und Nächte für mich, ich schlief nicht, ich grübelte; ich tat jegliche Arbeit mechanisch, mir wurde aber auch klar, daß mein Verhalten ein Unrecht an seiner Frau war, obgleich Hellmut immer wieder beteuerte, daß ich in keiner Weise schuldig wäre, seine Frau wäre ihm schon lange fremd geworden, nur wäre er jetzt erst zu dieser Erkenntnis gekommen. Er schrieb mir, da wir ja keine Gelegenheit hatten, uns auszusprechen, und versuchte mit guten, zarten Worten meine Lage zu erleichtern und zu klären.

    Ich ging ihm aus dem Wege, nicht wissend, wie weh ich ihm damit tat; aber es mußte etwas geschehen, es war für uns beide so nicht mehr zu ertragen. Ich erfuhr, daß Hellmut sich von seiner Frau trennen wollte. Ich hätte schreien mögen vor Glück und wäre jubelnd mit ihm gegangen. Da drang dann endlich die Erkenntnis durch, daß ich – nur ich allein – alles zum Guten wenden konnte. Wie gern wäre ich immer bei ihm geblieben, doch wußte ich gleichzeitig, daß er die Trennung von seinem Kinde nie hätte verwinden können. Ich entschloß mich, nachdem mich Tante Martha mit Vorwürfen überschüttet hatte, die nicht berechtigt waren, mit Hellmut zu sprechen. Wie schwer es mir wurde, weiß niemand. Es ist gut so.

    Mein verändertes Wesen war ihm nicht entgangen, aber als ich ihn dann bat, niemals mehr zu kommen, und ihm alle Gründe dafür so gut ich konnte klarlegte, sah er mich nur an – es war furchtbar, ich hätte mich am liebsten in seine Arme geworfen, die mich schützen konnten, um ihn nie wieder loszulassen. – Ich durfte ja nicht, so blieb ich starr und steif stehen, bis er mich bei den Schultern packte und mich rüttelte: Ich solle doch aufwachen, das könne ja nicht sein, er sprach nicht, er schrie. Ich dachte an meine Eltern, an Tante Martha, an sein Kläuschen und sagte ihm, daß ich keine ruhige Minute mehr hätte, ich log, nur damit er mir glauben sollte. Und es gelang, er achtete meinen Wunsch und kam nie wieder nach Rauen.

    Wie schön wäre es gewesen, wenn ich mich zu jemand hätte flüchten können, ein bißchen Verstehen findend.

    So habe ich allein mein erstes großes Erleben und auch den ersten großen Schmerz ertragen müssen. Durch Conny erfuhr ich, daß Hellmut sich aus Fürstenwalde fortgemeldet hatte. Ich sah ihn noch einmal, doch davon will ich später berichten.

    Den 27.2.44

    Ich muß weiterschreiben, es drängt mich, alles meinen geliebten Blättern anzuvertrauen. Von Heinz Holm sollen sie erfahren. Ich muß zurückgreifen und meine erste Begegnung mit ihm schildern.

    Es war an einem Kameradschaftsabend, wie sie oft bei Tante Martha stattfanden, im Februar 1941. Der Kompanieführer, ein mir bekannter Herr, bat mich, auf dem Akkordeon den Soldaten etwas vorzuspielen. Ich konnte die Bitte nicht abschlagen und spielte. Dann begleitete ich einen Soldaten, der ein Lied vom Rhein, seiner Heimat, sang. Es war Heinz. Ich war erstaunt über seine wunderbare tiefe Stimme und sah ihn mir genauer an: Er war groß und schlank, blond und hatte blaue Augen in einem schmalen Gesicht. Eines fiel mir besonders später auf, er war trotz seiner Jugend sehr ernst – ich möchte sagen, den anderen überlegen, was er sprach war klar und hatte Sinn. –

    Ostern brachte ihn Hellmut mit zu uns, bei mir war er in der Zeit in Vergessenheit geraten. Er blieb über Ostern bei uns, da der Weg nach Hause für die wenigen Tage zu weit war. Wir machten weite Spaziergänge, unterhielten uns über vielerlei, er erzählte von seiner Heimatstadt Heidelberg, von Essen und Düsseldorf, wo er einen großen Teil seines Lebens bei Verwandten zubrachte. Von seinem Beruf, er hatte ein schönes Gut, so daß ich immer wieder von seiner klaren und ernsten Auffassung von allen Dingen überrascht wurde. Ich mochte ihn gut leiden, aber es war eine andere Zuneigung als die, die mich zu Hellmut zog. Ich war ihm schwesterlich zugetan; er muß es gespürt haben, denn er war sehr zurückhaltend, und doch fühlte ich von Tag zu Tag mehr, daß er mich liebte und nur meinetwegen nach Rauen kam. Es machte mich froh und traurig zugleich, denn ich hätte ihm nie das sein können, was er vielleicht von mir erwartete. Und doch war er es, der mir über meinen großen Schmerz hinweghalf mit seiner Kameradschaft, mit seinem stillen Wesen und unaufdringlichen Werben um mich. Er kam noch öfter als bisher, es wurden schöne Tage und Abende, still und ohne Aufregungen, bis er mir sagte, wie es um ihn stand. Es kam nicht überraschend für mich, ich hatte es vielmehr schon lange befürchtet. Ich bat ihn, Geduld mit mir zu haben – ich konnte ja Hellmut nicht vergessen.

    Nach meinem 17. Geburtstag, den wir noch zusammen verlebten, kam dann plötzlich seine Versetzung nach Allenstein. Seine Worte, die er mir zum Abschied sagte, haben sich mir tief eingeprägt: »Ich werde immer an dich denken und hoffen, daß du doch noch zu mir finden mögest. Dann werde ich noch einmal eine Frage wiederholen, die vielleicht dein weiteres Leben verändert, aber die dich nie mehr erschrecken soll.«

    Aus Allenstein schrieb er mir von seinem neuen Betätigungsfeld, von seinen neuen Kameraden und Vorgesetzten, er erwähnte Persönliches mit keiner Silbe. Er ließ mir Zeit.

    29.2.44

    Im Juni brach der Krieg mit Rußland aus, in seinem furchtbaren Grauen noch nicht zu übersehen. Viele Soldaten mußten nach dem Osten, unter ihnen Heinz. Er war glücklich, sich endlich bewähren zu können, er wurde der 4. Panzerarmee Höpfner zugeteilt als Kraftfahrer beim Stab. Die Kämpfe vor Leningrad erlebte er, später war er im Mittelabschnitt Wjasma und in Orel. Und er ließ mich immer sein Erleben wissen, er sprach zu mir in seinen Briefen, als wäre er bei mir und nicht im fernen Osten. Ich kannte seine Kameraden und seine Vorgesetzten, ich erfuhr von schweren und auch von den wenigen glücklichen Stunden – er überhäufte mich mit seinen Briefen, die ich liebgewann und die mir wertvoll wurden. Ich schrieb nur wenig, obgleich ich wußte, daß er sehnsüchtig auf meine Zeilen wartete. Er bat Tante Martha, ihm mein Verhalten zu erklären. Seine Angst, mich verlieren zu können, war so groß, daß es mich tief erschütterte, ich tat ihm bewußt unrecht; es sollte anders werden, ich war überzeugt davon.

    Doch zuerst mußte ich fort von Rauen, keine Woche länger wollte ich mehr bleiben, das vorwurfsvolle, verständnislose Verhalten von Tante Martha, die Arbeit, die mich in keiner Weise befriedigte, das ganze Leben selbst in Rauen wurde mir unerträglich. In der Musik wollte ich mich weiterbilden, doch hätten meine Eltern mir nie die Erlaubnis gegeben. Aber der Wunsch war so stark, daß ich mich entschloß, es ohne ihr Wissen zu tun.

    Eine ehemalige Schulfreundin half mir dabei, sie hatte nahe Neudamm in der Neumark Bekannte, die ein Gut besaßen. Dorthin wollte ich, angeblich, um mein Pflichtjahr zu machen. Ich schrieb an Frau Fraedrich, in wenigen Tagen rief sie mich an und wünschte, daß ich mich vorstellen sollte. Beglückt über die schnelle Einigung und entschlossen, gleich mit dem nächsten Zug zu fahren, ging ich zu meiner Mutter, die von meinen Plänen noch nichts wußte. Sie war sofort einverstanden, zumal ihr mein plötzlich erwachtes Interesse für Haus- und Landwirtschaft wie ein Wunder erschien. Tante Martha war nicht sehr erfreut über meine geheimnisvollen Vorbereitungen und die plötzliche Abreise, doch es kümmerte mich wenig.

    1.3.44

    Auf dem Bahnhof von Fürstenwalde sollte ich noch eine Überraschung erleben: Ich traf Hellmut, der mit zwei Kameraden eine Dienstfahrt nach Lebus machen mußte. Zuerst war ich so bestürzt über dieses unerwartete Wiedersehen, daß ich nur den einen Gedanken hatte: fort – nur fort; aber ich blieb doch wie angewurzelt stehen, Hellmut sah mich, kam auf mich zu und sagte mir, daß er von meiner Abreise an diesem Tage wußte. Wir fuhren dann zusammen, sprachen kaum, oder nur von belanglosen Dingen, jeder verbarg seine Gedanken vor dem anderen. Und doch war ich glücklich, daß gerade er es war, den ich als letzten Bekannten aus Fürstenwalde sehen durfte, so als wäre erst jetzt der Abschied aus Rauen endgültig. Es war im Oktober 1941. Hellmut verließ unsere Gegend ebenfalls. Er hatte seine Gestellung schon in der Tasche, nach Samosch oder so ähnlich. Weit genug weg, ganz hinten in Polen, sagte er.

    Kurz vor Frankfurt, auf einem kleinen Bahnhof, reichten wir uns noch einmal die Hände, sahen uns noch einmal an, jeder beschwor mit seinem Blick unvergeßliche Stunden herauf, aber wir wußten auch um den zukünftigen Weg. Seitdem habe ich Hellmut nie wieder gesehen, und doch werde ich nie aufhören es zu wünschen. Ich weiß, daß es auch sein Wunsch ist, daß wir uns einmal wiedersehen. Nur habe ich ein wenig Angst davor, vielleicht bricht aber auch alles längst Vergessene wieder auf. Weiß man um sein Herz so genau?

    2.3.44

    Heute will ich von der Zeit auf Gut Nabern schreiben.

    Nach langer, ermüdender Fahrt kam ich in Neudamm an, telefonierte sofort nach Nabern und wurde von Herrn Fraedrich, dem Besitzer des Gutes, mit dem Auto abgeholt. Es war schon spät und sehr dunkel, die Fahrt kam mir unendlich lang vor, zumal es immer nur durch Wald und Felder ging.

    Ich bekam Herzklopfen. Wie werden sie dich aufnehmen, wie wirst du dort leben, welche Menschen wirst du nun um dich haben?

    Von Frau Fraedrich wurde ich begrüßt, ich war erstaunt, eine noch so junge Frau vorzufinden. Es ging so viel Frische und Freundlichkeit von ihr aus, daß ich sofort wußte, sie wird dich verstehen. Ihr Äußeres entsprach ganz ihrem Wesen, soweit ich es schon beurteilen konnte. Mittelgroß, eine frauliche Figur, dunkelbraunes Haar, sehr glatt und im Nacken zu einem schönen Knoten gewunden. Ihre Hautfarbe war auffallend dunkel. Regelmäßige, schöne Gesichtszüge – ich war angenehm überrascht.

    Herr Fraedrich, zehn Jahre älter als seine Frau, war groß und stattlich. Er hatte breite Schultern, etwas ergrautes Haar, das ihm aber doch nichts von seinem jugendlichen Aussehen nahm. Er war von verschlossenem Charakter.

    4.3.44

    Die ersten Tage in dem fremden Haus waren schlimm für mich. Ich mußte fest zupacken und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, daß ich dem Umsinken nahe war. Kaum ein freundliches Wort hörte ich von Frau Fraedrich, ich dürstete danach, ich bemühte mich doch so, alles nach ihrem Wunsch zu tun. Und nun?

    Ein trockenes Schluchzen schüttelte mich. Da kam Frau Fraedrich zu mir ins Zimmer, legte ganz sacht den Arm um mich und sprach so liebe Worte zu mir, daß ich den Tränen nicht mehr Einhalt gebieten konnte.

    Sie ließ mich ausweinen, und dann erklärte sie mir, wie froh sie wäre, ein Mädchen wie mich gefunden zu haben, wie zufrieden sie mit meiner Arbeit wäre und wie die ersten schweren Tage Prüfung für mich sein sollten und wie sie darum so unnachgiebig streng gewesen sei. Daß es von nun an schön werden würde, daß ich mit allem, was mich bedrückte, zu ihr kommen sollte. Ich mußte es ihr versprechen, und ich tat es so gern, war doch jetzt aller Druck von mir gewichen. Alles schien leicht, und am nächsten Morgen fühlte ich mich so kräftig und mir war so froh zumute, wie es mir lange nicht war. Es wurde nun wirklich anders.

    Frau Fraedrich setzte sich noch am gleichen Tag mit einem Musikpädagogen in Verbindung, der mir mehrere Stunden in der Woche Gesangsunterricht geben sollte.

    An Schlaf war abends nicht zu denken. Erst jetzt wurde mir richtig klar, daß ich erreicht hatte, was ich vorerst wollte, und doch mußte ich immer an zu Hause denken.

    Und dann Hellmut, du hieltest meinen Weg für richtig, du fandest die richtigen Worte für mein Handeln. Hab Dank – immer nur Dank!

    Am nächsten Morgen wurde ich auf eigenen Wunsch in die Geheimnisse der Kochkunst eingeweiht. Nach dem Mittagessen, das immer ein kleines Fest für sich war, durfte ich mit den Kindern im Wald, im Park, auf den Wiesen und Feldern herumtollen, mit dem Dogcart spazierenfahren. Ich lernte reiten, Herr Fraedrich selbst war mein Lehrmeister, und das war mit das Schönste auf Nabern. Dann wieder saß ich mit Frau Fraedrich in ihrem so gemütlichen Zimmer, wir nähten oder ich las etwas vor, worüber sie immer besonders erfreut war. Wir konnten uns stundenlang über ein Buch unterhalten, mit dem Herrn des Hauses debattierte ich über Politik, Weltanschauungen und dergleichen. Wir fuhren mit seinem Auto in die Stadt, besorgten Einkäufe.

    Am schönsten waren die Abende, an denen wir musizierten. Sie begleitete ihren Gatten auf dem Klavier, er spielte sehr gut Geige. Ich mußte singen und verlor dabei meine anfängliche Scheu. Nun war ich in meinem Reich der Töne, das mir niemand nehmen konnte. Nach solchen Abenden lebte ich wieder auf, alles Geschehen in Rauen wurde gering und unwirklich. Nur Hellmut blieb.

    Und hier in der Einsamkeit, fern von allem Stadt- und Gastwirtschaftstrubel, bei diesen Menschen, die mir so viel gaben und mich wie eine Tochter aufgenommen hatten, hier spürte ich, daß Hellmut immer noch in meinem Herzen war, daß ihn mir doch niemand nehmen konnte, wenn er auch fern und vielleicht für immer unerreichbar für mich blieb. Nie werde ich ihn vergessen, das wußte ich mit stetig wachsender Klarheit. Er schrieb mir Briefe, mit denen er mir helfen wollte. Sein Verständnis, seine Anteilnahme und seine noch immer mir gehörende Liebe machten mich glücklich. Aber ich hüllte mich in Schweigen, ich antwortete nie.

    Er stand in schwersten Kämpfen. Durch ein Wunder entkam er dem Tod, verwundet an Leib und Seele. Das erfuhr ich alles nicht von ihm. Tante Martha teilte es mir mit. Fleckfieber überfiel ihn und seine Kameraden, sie kämpften immer noch mit dem Tode. Dies alles riß mich wieder aus meiner mühsam erschaffenen Ruhe, ich hätte zu ihm eilen mögen. Aber das war unmöglich. Noch durfte er nicht in die Heimat, sein Zustand war zu gefährlich. Aber ich schrieb auch jetzt nicht, obgleich ich wußte, wie er täglich darauf wartete.

    Warum blieb ich so hart? Zu ihm und auch zu mir? Wollte ich nicht noch einmal in Konflikte geraten, war ich so um meine seelische Verfassung besorgt? Warum tat ich es nicht trotzdem, so frage ich mich heute. Warum ließ ich ihn nicht wenigstens wissen, daß ich Tag und Nacht um sein Leben betete – ja betete –, heiß und inbrünstig. Er wurde gesund, kam nach Deutschland, um sich in der Heimat wieder ganz zu erholen zu neuem Einsatz. Ich hüllte mich weiterhin in Schweigen, es gab nun nichts anderes mehr für mich, und so blieben auch seine Briefe aus.

    6.3.44

    Das Leben auf Nabern ging weiter.

    Wir schlossen immer enger einander an. Frau Fraedrich vertraute mir ihre geheimsten Sorgen an (auch in ihrer Ehe war nicht alles so sorglos, wie es nach außen hin aussah). Ich mußte immer wieder ihre Geduld und ihren gleichmäßigen Charakter bewundern. Wie paßte sie sich ihrem Gatten an, wie gab sie bei Streitfragen mit wissendem Lächeln immer wieder nach, und nur ich wußte, wieviel es sie kostete. Zu mir war sie ganz offen, sie weinte oft, doch niemand erfuhr davon.

    In solchen Stunden glaubte ich, die Männer hassen zu müssen, ich gelobte mir, nie so nachgiebig zu sein. Aber was wußte ich unbändiges Mädchen, dem Frau Fraedrich den Namen »Diana« gegeben hatte, von der Ehe und den immerwährenden Kämpfen darin. Vieles wurde mir klar und verständlich, und

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