Die Opferfalle: Wie die Vergangenheit die Zukunft fesselt
Von Daniele Giglioli
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Buchvorschau
Die Opferfalle - Daniele Giglioli
wollen.
I
Skizzieren wir zunächst eine Symptomatologie des Phänomens. Wenn schon nicht seinen Ursprung, so sollten wir dann doch zumindest versuchen, seine Anfänge aufzuspüren und eine These über seine wahrscheinlichen Ursachen zu entwickeln, um dann schließlich eine Kritik des Opfers als solchem zu formulieren: Was verspricht es und vor allem, was nimmt, verhindert, verunmöglicht es? Und warum? Und was wäre, wenn die Kritik durchgeführt ist, vielleicht wieder möglich? Die Erscheinungsformen des Phänomens sind endlos, ganz gleich, wo man sie sucht – in Politik und Zeitgeschehen, Sittenwelt und Literatur, Geschichte und Philosophie, Recht und Psychologie –, und es hat keinen Sinn, irgendeinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen: »Toren«, hat Marcel Proust einmal geschrieben,
»bilden sich ein, die großen Dimensionen sozialer Erscheinungen seien eine ausgezeichnete Gelegenheit, tiefer in die menschliche Seele einzudringen; sie sollten einsehen, daß sie vielmehr durch Eindringen in eine Individualität die Möglichkeit bekommen, solche Erscheinungen zu verstehen.«
Wir werden kurz eine kleine Zahl von Beispielen kommentieren und dabei darauf setzen, dass sie sich in ihrer ungeplanten, aber hoffentlich nicht willkürlichen Zusammenstellung gegenseitig erhellen. Die Analogie, und nicht so sehr die erschöpfende Analyse, wird uns als Kompass dienen.
Remember me!
Beginnen wir mit dem Gedenken, der Manie des Gedenkens, der richtiggehenden Pflicht zu Gedenken: ein Begriff, der sich, wie Enzo Traverso bemerkt hat, anschickt, in unserer öffentlichen Diskussion seinen Zwilling und Gegenspieler, die Geschichte, zu entmachten. Gegenüber der Geschichte ist das Gedenken subjektiv, intim, erlebt, nicht verhandelbar, authentisch, wenn nicht sogar vorbehaltlos wahr: absolut, gerade weil es relativ ist. Es schafft ein Verhältnis zur Vergangenheit, das unweigerlich ein Besitzverhältnis ist: meine, unsere Vergangenheit. Das Gedenken schreibt sich nie ohne Possessivpronomen. Im Mittelpunkt steht der Zeuge, und Zeuge par excellence ist heute, wem die Last der Vorgänge, die sich auf ihn ausgewirkt haben, eingeschrieben ist, körperlich mehr noch als geistig: das Opfer also. Die wahre Protagonistin der Vergangenheit ist die leidende Subjektivität. Gern verleihen ihr die Institutionen die Salbung staatlicher Sittlichkeit, indem sie sie zum Gegenstand öffentlicher Handlungen mit Gesetzeskraft machen. In Italien finden wir: »Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust« (27. Januar), »Giorno del Ricordo« (»Tag der Erinnerung«, 10. Februar, Gedenktag für die Opfer der Foibe-Massaker ab 1943), »Giornata della Memoria e dell’Impegno in ricordo delle vittime innocenti delle mafie« (»Tag des Gedenkens an und des Engagements zugunsten der Mafia-Opfer«, 21. März), »Giorno della Memoria dedicato alle vittime del terrorismo interno e internazionale, e delle stragi di tale matrice« (»Tag des Gedenkens an die Opfer des inländischen und internationalen Terrorismus sowie der auf ihn zurückgehenden Massaker«, 9. Mai, Jahrestag der Ermordung Aldo Moros).
Unheilvoller Kurzschluss, der die Ereignisse aus der Kette des Geschehens herauslöst, sie zu Werten hypostasiert, anstatt sie als Tatsachen zu erklären. Dadurch wird sogar das Vorhaben entwertet, sie zur Mahnung zu erheben, das Geschehene nicht noch einmal geschehen zu lassen: Zur Wiederholung der Vergangenheit verurteilt ist nicht, wer ihrer nicht gedenkt, sondern wer sie nicht versteht. Ein unzulässiges Zeugenprogramm, das denjenigen, der nicht mehr sprechen kann, ehrt, indem es dessen Schweigen mit dem lauten Trommelschlag der Gedenkrhetorik ausfüllt. Das Gedenken dient stets den Lebenden, seine wahre Zeit ist die Gegenwart. Doch was soll man von einer Gegenwart halten, die Werte nur durch Trauer anzeigt? Und ihnen dabei noch eine rettende Bedeutung zuspricht: Wenn wir heute hier sind, dann dank euch.
In der Prosopopöie, der Personifikation des Opfers ist ein heimlicher Austausch am Werk, eine Überlagerung verschiedener Zeiten, Perspektiven, Aussage und -Äußerungsakt: Das »Wir«, das mit dem Schmerz gefestigt und zementiert wird, ist und ist zugleich nicht – wie in den rhetorischen Figuren – dasselbe, das eine bestimmte Zeit durchlitten hat. Wer als Opfer spricht, oder für das Opfer, spricht immer als Stellvertreter eines anderen. Wenn jemand im Namen von Opfern, die selbst nicht sprechen können, das Wort ergreift, liegt das auf der Hand. Paradoxerweise gilt es aber auch für den Fall eines Opfers, das für sich selbst spricht, insofern als es in erster Linie dadurch Opfer wird, dass es gezwungen ist zu schweigen und ungehört zu bleiben, dass ihm das Sprachvermögen genommen wird. Sprechen ist die erste Form der agency. Das Opfer ist das Kleinkind, der infans. Die Nazis wussten das: Wenn ihr das erzählt, wird euch niemand glauben. Wird nun jedoch der Imperativ zuzuhören gesetzlich festgeschrieben und darüber hinaus die Logik der Justiz ins Zentrum des öffentlichen Lebens gestellt (der Gerichtsprozess ist an und für sich der einzige Bereich, in dem das Recht auf den Opferdiskurs legitimerweise als zwingend angesehen wird; der Opferdiskurs bleibt freilich ein parteiischer), dann zeigt das an, dass man sich auf eine andere Ebene begeben hat. Einmal auf die Tribüne gestiegen, werden auch die wahrsten Opfer Darsteller ihrer selbst: Wir stehen für das Wir, für das Ihr, das wir gewesen sind, Eigentümer des Lebens eines anderen.
Das ungerechte Mitleid
»Wir stehen hier an eurer statt« ist aber auch der grundlegende Ausspruch jener gewaltigen ideologischen Galaxie, die Philippe Mesnard im Begriff des »Humanitären« substantiviert hat. Unter dem Gewand einer universellen – problemlosen, daher wohlfeilen und fabelhaft einsetzbaren – Moral erweist sich das humanitäre Credo als Technik, als Gesamtheit von Dispositiven zur Disziplinierung des Umgangs mit Worten, mit geschickt in Ikonen und Bildunterschriften zusammengefügten Bildern, mit von den Zuschauern geforderten emotionalen Reaktionen: kitschige Ästhetisierung, oberflächliche Sensationsgier, Opferstempelung ganzer Bevölkerungen. Es ist offenkundig, dass diese Technik fast allen jüngeren Kriegen als vorrangige Legitimationsquelle gedient hat, von Somalia bis zum ehemaligen Jugoslawien und von Afghanistan bis zum Irak, indem sie dem schillernden Bild des Kriegers die beruhigendere Erscheinung des Polizisten, Arztes, Helfers hinzugefügt hat.
Nicht darin liegt aber ihr Skandal, so wie auch jene reaktive Empörung allzu wohlfeil ist, die gleichwohl spontan ausbricht, wenn sich, sobald irgendwo auf der Welt gelitten wird, Figuren wie BHL vordrängen, bürgerlich Bernard-Henri Lévy, der exponierteste und willfährigste jener nouveaux philosophes, die – Ende der Siebzigerjahre! – die Schrecken des Totalitarismus entdeckten und verdammten (die Orwell-Taschenbuchausgabe hatte offenbar auf sich warten lassen, wie Umberto Eco damals bemerkte); viele taten es ihm gleich. Jedoch eine bloße Manipulation zu verurteilen, führt nie besonders weit: Die ideologische Rahmung mag ja falsch sein, die gerahmte Materie ist in der Regel aber leider wahr. Auf Erden ist das Leid nicht gespielt, und man kann nicht genau genug hingucken.
Doch es gibt Mitleid und Mitleid. Bedeutender ist tatsächlich, was diese Rahmung den Opfern selbst antut. Sie stigmatisiert sie, verleiht ihnen eine Identität, die sie, wie der bereits zitierte Mesnard schreibt, »gänzlich oder zum Teil ihrer Biografie und ihrer kulturellen Bezüge beraubt, oder aber diese eingrenzt«. Sie nimmt ihnen also ihre Subjektivität, ebenso wie jedes andere Recht als das auf Hilfe (wobei noch zu prüfen wäre, welche praktischen Folgen sich daraus ergeben). Auf das heruntergeschrumpft, was ihnen angetan worden ist, haben sie zwar Tränen, aber keine Argumente. Ihre Stimme dient, wie die von Tieren, einzig dazu, Vergnügen, vor allem aber Schmerz auszudrücken, und nicht etwa dazu, sich über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu verständigen – Aristoteles zufolge das Vorrecht der menschlichen Gattung, die über einen Logos und eine Gesellschaft verfügt. Ihre Wahrheit liegt im Blick des Anderen: des Gnädigen, des Mitleidigen. Ärzte und Reporter ohne Grenzen, Nichtregierungsorganisationen, Rockstars (ob gerade angesagt oder im Ruhestand) sind, oft in zweifelhafter, bestenfalls unwissender Zusammenarbeit mit Lokalpotentaten oder einfallenden Heeren, die Einzigen, die wirklich befugt sind zu sprechen, oder, wie Didier Fassin schreibt, die einzigen »legitimen Zeugen, die im Namen derer sprechen, die traumatische Ereignisse erlebt haben«: »Die Weitschweifigkeit der humanitären Erzählung steigert sich in dem Maß, in dem die Überlebenden schweigen.«
Scheinbar brüderlich, handelt es sich beim humanitären Credo tatsächlich um ein souveränes Empfinden, das sich alles unterwirft, was es berührt: Ein Flüchtlingslager benötigt, wie der Manager einer humanitären Organisation offen erklärt, »keine Demokratie, um zu überleben«. Eine Souveränität ohne Politik, die ja erst dort begänne, wo man sich, anstatt mit den Opfern, beispielsweise mit den Ausgebeuteten, den Unterdrückten, den Ausgeschlossenen solidarisierte, mit denen uns gemeinsame Interessen (ein Logos, eine Praxis) verbinden könnten: Diese sind alles Begriffe, die – ganz gleich ob richtig oder falsch – ein Urteil implizieren und nicht bloß eine emotionale Abfuhr. Als Erregung auf Kommando, undialektische Überlagerung von Empfindung und Interesse hält das humanitäre Credo die Entwaffneten in der Wehrlosigkeit fest (was hat sich in Srebrenica anderes abgespielt?) und lässt die Arsenale der Starken in einer perfekten Entsprechung von Ergebnissen und – tieferliegenden, wenn nicht sogar wahren – Absichten intakt. »Menschlich bist du, nicht gerecht«,