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Hanoi Hospital: Vietnam-Krimi
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eBook463 Seiten6 Stunden

Hanoi Hospital: Vietnam-Krimi

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Über dieses E-Book

Inmitten des Lärms der pulsierenden Hauptstadt Vietnams erschüttert plötzlich eine Reihe unerwarteter wie mysteriöser Todesfälle die Krankenhäuser in Hanoi. Auf den ersten Blick haben die Opfer wenig gemeinsam, doch nach und nach verstricken sich durch sie die unterschiedlichsten Schicksale. Die junge Journalistin Linh, Wirtschaftsstudentin Anne und Gelegenheitsarbeiter Tuan finden sich plötzlich in einem Geflecht aus Lügen und Ungereimtheiten wieder, vor dem die Medien die Augen verschließen und das auch vor Staatsinstanzen nicht Halt macht. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Todesfällen? Und was passiert hinter den stummen Wänden und fleckigen Vorhängen des Hanoi Hospitals?

Ein packender Krimi, in dem Welten aufeinanderprallen: Die Idylle vietnamesischer Reisfelder mit der Fortschrittlichkeit lärmender Metropolen. Die Identitätszweifel einer Deutsch-Vietnamesin mit dem Patriotismus der konservativen vietnamesischen Großfamilie. Hanoi Hospital taucht tief ein in das hektische Großstadtreiben Hanois und die Abgründe medizinischer Korruption durch die Kollision von arm und reich.
SpracheDeutsch
HerausgeberConbook Verlag
Erscheinungsdatum19. Jan. 2016
ISBN9783958891302
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    Buchvorschau

    Hanoi Hospital - David Frogier de Ponlevoy

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    Hanoi Hospital

    Als die deutsch-vietnamesische Wirtschafts­studentin Anne in Hanoi ankommt, hat sie nur eines im Sinn: Sie möchte Berufserfahrung in einem internationalen Unternehmen sammeln und dabei den Alltag in ihrem Heimatland erleben, das sie bisher nur aus Urlauben kennt. Doch alles kommt anders, als plötzlich ihre Großmutter vor ihren Augen auf rätselhafte Weise stirbt.

    Was zunächst nach einem Einzelschicksal aussieht, entwickelt sich schnell zu einer ganzen Reihe von ähnlich unerklärlichen Todesfällen. Zusammen mit ihrer Cousine, der Radiojournalistin Linh, macht Anne sich daran, Zusammenhänge zu knüpfen, die von der Öffentlichkeit auffällig ignoriert werden.

    Unverhofft finden sich die beiden jungen Frauen in einem Kriminalfall wieder, in dem jeder seine eigenen Interessen zu verfolgen scheint: Über jede Ethik erhabene Ärzte, unnahbare Behörden und staatskonforme Medien.

    Als sie ihre Recherchen schließlich ins Hanoi Hospital führen, bringen sie sich selbst in höchste Gefahr. Denn die Ärzte hinter den fleckigen Vorhängen des städtischen Krankenhauses sind es gewohnt, Menschen zum Schweigen zu bringen ...

    David Frogier de Ponlevoy

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    David Frogier de Ponlevoy hat von 2006 bis 2014 in Vietnam als Journalistenausbilder, PR-Berater, Moderator, Stadtführer und Publizist gearbeitet. In diesen acht Jahren hat er unter anderem mit 30 anderen Passanten an einer (sehr kleinen) Bushaltestelle vor einem Hagelsturm Zuflucht gesucht, ist gemeinsam mit dem nationalen Opern­ensemble aufgetreten, hat zwei deutschen Außenministern den Literaturtempel gezeigt, auf einem abgelegenen Markt Blutegelschutzstrümpfe gekauft und um 4 Uhr morgens mit Einheimischen am Rande des Urwalds die Fußball-WM im Fernsehen verfolgt, bis der Strom ausfiel.

    Seit seiner Rückkehr arbeitet er in Darmstadt als Redakteur und fragt sich manchmal, wie viel davon er nur geträumt hat.

    Prolog

    Die Leiche war schwer. Die zwei Helfer ächzten, als sie das Bündel vom Kleinlaster hievten und in die feuchte Erde fallen ließen.

    Der Mann zündete sich eine Zigarette an und beobachtete die beiden. Das grelle Licht der Frontscheinwerfer strahlte direkt ins Reisfeld, aus dem sich die Halme wie tausende Finger dem Nieselregen entgegenstreckten. Das steinerne Grab inmitten des Feldes bildete eine dunkle Wand, die das Licht schluckte.

    »Auf, auf, beeilt euch«, bellte der Mann und zog an der Zigarette.

    Die zwei Helfer begannen mit Spaten die klebrigharte, tonfeuchte Graberde auszuheben. In der Dunkelheit ertönte wieder Schnaufen und Ächzen. Der Mann betrachtete das Bündel auf dem Boden, die Zigarette glomm auf, er aschte einmal kurz zur Seite. Er dachte an den Vorfall, als vor ein paar Monaten ein Schönheitschirurg eine Operation versaut hatte. Die Patientin war gestorben, und der Chirurg hatte sie im Fluss versenkt. Nachdem die Sache herausgekommen war und durch die Medien ging, hatte die Polizei den Roten Fluss durchsucht, an der Stelle, die der Chirurg im Verhör angegeben hatte. Zeitungen hatten schließlich beschrieben, wie die Polizisten dort ein Dutzend Leichen gefunden hatten – nur die gesuchte Frau war nicht darunter gewesen.

    Dilettanten, allesamt, dachte der Mann.

    Neben dem Grab wuchs die ausgehobene, klumpige Tonerde im Halbschatten der Scheinwerfer zu einem Erdhügel. Die Hosen der beiden Helfer waren dreckverschmiert, auf ihrer Stirn standen Schweißperlen. Es war bereits drei Uhr morgens, aber die Luft lag klebrig und zäh über dem Land. Immerhin war Frühling. Keine Hitze, nur nassfeuchte, schwere Luft, die alles durchtränkte. Den Boden, die Kleider, die Gedanken.

    Man versteckt keine Leichen im Fluss, dachte der Mann. Der Fluss spülte alles wieder nach oben. Man versteckte Leichen dort, wo niemand danach suchte. In einem Grab zum Beispiel. Da gehörten sie schließlich auch hin.

    Die Helfer hatten das Bündel gepackt und schleiften es über die Böschung, durch das brackige Wasser des Nassreisfelds zum Steingrab. Wieder keuchendes Schnaufen, dann landete das, was einmal eine Frau gewesen war, mitten im frisch ausgehobenen Erdloch des ummauerten Grabs. Der Mann sah schweigend zu und aschte noch einmal zur Seite. »Hopp, hopp, schneller, schneller«, sagte er dann.

    Als alles fertig war, war das Grab wieder mit Erde gefüllt. Die Feuchtigkeit würde dafür sorgen, dass bald alle Spuren im Feld und am Weg verfallen und versunken waren. Nicht, dass es eine Rolle spielen würde. Niemand wusste, wem das Grab gehörte. Es lag in der Mitte zwischen mehreren Feldern, und jeder glaubte, es gehöre irgendjemand anderem. Das Grab war ein Geschenk, eine Chance, die man ergreifen musste. Und er war gut darin, Chancen zu ergreifen. Nur leider war nicht zu erwarten, dass seine Kollegen ähnlich clever waren. Dilettanten. Blieb nur zu hoffen, dass es nicht noch mehr Tote geben würde.

    Die Zigarette landete in einer Pfütze.

    Die Helfer packten ihre Schaufeln auf den Kleinlaster, stiegen ein und warteten auf ihn. Der Mann drehte sich noch einmal zum Grab und betrachtete es stumm.

    »Sè sè nấm đất bên đàng, Dàu dàu ngọn cỏ nửa vàng nửa xanh«, murmelte er dann leise. »Ein Erdhaufen neben der Straße, mit alten Gräsern, halb gelb, halb grün.« Zwei Zeilen aus dem Anfangskapitel der Geschichte von Kiêu, dem vietnamesischen Nationalepos. Er kannte seine Klassiker.

    »Erschaffer, warum bist du so grausam und lässt grüne Tage verwittern und rosige Wangen vergehen?«, rezitierte er weiter. Das Schicksal jeder Frau. Jedes Menschen. Man wurde alt. Man starb.

    Er glaubte nicht an das Schicksal. Das war etwas für Verlierer.

    Kapitel 1 – Hörerpost

    Linh

    Vietnam hat ein ausgezeichnetes Gesundheitssystem. Viele Kliniken in der Hauptstadt Hanoi sind auf internationalem Standard. Im ganzen Land gibt es 13.500 Gesundheitsstationen, die 1.087 Krankenhäuser verfügen über 188.613 Betten ...

    Linh sah vom Blatt hoch, hinüber zu Song Hà, die an ihrem Computerbildschirm angestrengt auf die Zeilen starrte und dann leise murmelnd die Löschen-Taste bediente.

    »Chị Song Hà?«

    »Ja?« Die schlanke Mittdreißigerin wandte ihren Blick nicht vom Bildschirm ab. »Moment noch ...«

    Song Hà ließ sich auffallend Zeit. Sie war die Einzige in der Redaktion, die eine klassische Journalistenausbildung an der Universität hingelegt hatte; außerdem war sie die Älteste. Beides zusammen machte sie zum inoffiziellen Kopf der Gruppe, und das ließ sie die Kollegen immer wieder spüren. Alle anderen fünf hatten Deutsch studiert und waren deswegen in die Redaktion des Auslandsradiosenders VOV5 gekommen. Linh nippte an einem Becher Wasser, und wartete.

    »Also, was ist?«, wandte sich Song Hà schließlich zu ihr um und zog sich auf dem Drehstuhl an ihren Tisch heran. Linh fühlte sich auf einmal beklommen. Vielleicht war es keine so gute Idee, Song Hà Fragen zu stellen, die als Kritik aufgefasst werden konnten.

    »Chị Song Hà, ich weiß, ich bin neu, also verzeih bitte, dass ich dich das frage, also ... hm ...«

    Song Hà sah sie ungeduldig an.

    »Also ... ich habe mir zur Einarbeitung die Briefe und E-Mails der deutschen Hörer durchgelesen, und die Frage, also ... die der Hörer gestellt hatte, lautete ja, wie du natürlich weißt ...«

    Linh zog das Blatt Papier hervor und las dann schnell und hastig vor: »Liebe deutsche Redaktion, ich habe bei uns in Deutschland auf ARTE einen erschreckenden Bericht über überfüllte vietnamesische Krankenhäuser gesehen. Die Zustände konnten einem das Herz brechen. Vielleicht können Sie mal darüber berichten, ob das tatsächlich üblich in Vietnam ist und wie sich die Situation ...«

    »Ich weiß, was in dem Brief steht«, unterbrach Song Hà.

    »Ja. Natürlich.« Linh hatte das Gefühl, dass ihre eigene Stimme plötzlich etwas piepsig klang. »Nur ... nun, der Beitrag ...«, sie vermied es bewusst, dein Beitrag zu sagen, »... da fehlt ja noch die Antwort auf die Frage ...« Sie ließ den Satz auströpfeln.

    »Unsere Aufgabe ist es, Vietnam darzustellen. Positiv. Die deutschen Hörer wollen doch in Wirklichkeit nichts über überfüllte Krankenhäuser und Armut wissen. Und unser Chef will das auch nicht.«

    Linh wusste, dass sie einfach nicken und es auf sich beruhen lassen sollte. Song Hà war älter, Song Hà war erfahrener. Es stand Linh nicht zu, ihre Antworten in Frage zu stellen.

    »Wir müssen es ja nicht unbedingt negativ schreiben«, hörte sie sich auf einmal selbst sagen. »Nur ... vielleicht ... mehr Atmosphäre?« Plötzlich sprudelten die Worte aus ihr heraus, und sie konnte sie nicht mehr auffangen. »Wir sind doch ein Radiosender, soll ich nicht mal ein paar O-Töne aus einem Krankenhaus besorgen? Hintergrundgeräusche? Vielleicht mal etwas beschreiben, wie es da so aussieht? So ... so wie Hạnh das letzte Woche gemacht hat, mit ihrem Bericht über die Bauchtanzgruppe. Onkel Hồ hat immer gesagt: ›Schreibe so, dass es sogar ein Kind versteht.‹«

    An der Universität war es eine schlaue Strategie gewesen, Präsident Hồ Chí Minh zu zitieren; manchmal war es die einzige Möglichkeit, gegenüber Professoren vorsichtig Kritik anzubringen. Praktischerweise war von Onkel Hồ sehr viel überliefert. Linh war sich aber nicht einmal sicher, ob tatsächlich jedes der vielen Zitate von ihm stammte. Und sie war sich auch alles andere als sicher, ob Song Hà bei derselben Strategie anbeißen würde.

    Song Hà schnaubte und blies ihren Pony hoch. Dann nickte sie mit ihrem Kopf in Richtung ihres Computers. »Ich habe da drüben sieben Meldungen, die müssen alle noch übersetzt werden. Nachher kommen noch mal zwei rein, und ich bin sicher, zehn Minuten vor der Studioaufnahme kommt mal wieder ein Anruf, dass eine der Meldungen ersetzt wird durch die Nachricht, dass der Präsident zwei Diplomaten die Ernennungsurkunde überreicht hat. Ich habe keine Zeit, irgendwo Atmosphäre einzufangen. Wenn du das unbedingt machen willst, dann mach es meinetwegen, aber nicht während deiner Arbeitszeit.«

    Sie schaute zu den zwei Uhren an der Wand. Unter der einen klebte ein Schild mit der Aufschrift »HANOI«. Es war halb sechs. Die Uhr daneben hatte ein Schild, das »BERLIN« verkündete. Sie zeigte zehn nach neun. Den ganzen Tag. Die Batterie war leer, und seit Linh angefangen hatte, war noch nie jemand auf die Idee gekommen, sie zu wechseln. »Zweimal am Tag geht sie ja richtig«, hatte Hạnh gesagt.

    »Die Hörerpost-Sendung ist am kommenden Mittwoch. Du hast fünf Tage Zeit. Hiermit hast du offiziell die Verantwortung dafür. Am Montag will ich einen Entwurf sehen. Wir müssen das Ding noch übersetzen und dem Chef vorlegen.«

    Song Hà stieß sich vom Tisch ab und rollte auf dem Stuhl zu ihrem Arbeitsplatz zurück.

    Linh hatte Arbeit.

    Anne

    Hanoi empfing sie mit Hupen.

    Dabei war sie noch gar nicht in Hanoi, jedenfalls nicht richtig. Anne fingerte nach dem Anschnallgurt, als der Taxifahrer zwei Motorroller überholte, dazu auf die Gegenfahrbahn auswich und direkt auf einen Kleinlaster zuraste. Kurz vor dem drohenden Aufprall zog er wieder scharf nach rechts. Der Laster hupte. Das Taxi hupte. Die Motorroller hupten. Es war kein aggressives Hupen, es war nicht das deutsche Hupen, das »Idiot!!« schrie, es war mehr ein beiläufiges, nebensächliches Hupen, und alle vier Verkehrsteilnehmer wollten vermutlich nichts anderes ausdrücken, als »Achtung, hier komme ich!«

    Jeder auf den Straßen gab permanent Warnhinweise, und weil jeder sich ständig irgendwohin bewegte, mussten die Warnhinweise auch kontinuierlich erneuert werden: »Hier bin ich!«, »Und ich bin hier!«, »Und ich bin hier drüben!«, quäkten die Hupen. Anne zog den Gurt über ihre Hüfte, um ihn einzurasten. Ihre Finger fuhren in den Sitzspalt hinein, tasteten, suchten nach dem Gurthalter und fanden nichts. Sie seufzte und ließ den Gurt wieder zurückfahren. Ein kurzer Blick auf den Tachometer überzeugte sie davon, dass sie die genaue Geschwindigkeit gar nicht wissen wollte.

    »Hanoi, mein Hanoi«, sagte Anne leise und musste grinsen. Dann schüttelte sie den Kopf und sah lächelnd aus dem Fenster. Die Landstraße, die vom Flughafen zum Stadtzentrum führte, war breit und noch verhältnismäßig leer. Das bedeutete: verschiedene Autos, dazwischen haufenweise Motorroller und immer wieder ein Lastwagen. Jenseits der Leitplanken lagen Reisfelder unter einem grauen Himmel, alle paar hundert Meter ragten auf gewaltigen Betonsäulen überdimensionale Werbeflächen hervor.

    Anne war seit sechs Jahren nicht mehr hier gewesen. Nicht mehr, seit sie mit ihren Eltern nach dem Abitur die Familie besucht hatte. Früher war sie häufiger hergekommen. Sie erinnerte sich an ganze Sommer, die sie in Hanoi bei ihrer Tante und ihrem Onkel verbracht hatte. Aber das war, in den Neunzigerjahren, ein anderes Hanoi gewesen. Ein Hanoi der Fahrräder, der Strohhüte und der Kindheit. Ihr Onkel hatte sich als einer der ersten in der Nachbarschaft einen Motorroller gekauft und war mächtig stolz auf die kleine weiße Honda gewesen. Anne hatte Erinnerungsfetzen im Kopf, wie sie als kleines Kind hinter ihrem Onkel sitzend jauchzte und schrie, während sie durch die Straßen fuhren und die Fahrradfahrer überholten.

    Auf der anderen Seite der Taxifensterscheibe überholte gerade ein Kleinlaster drei Motorroller, die nebeneinander fuhren, während die Fahrer sich unterhielten.

    Sie fahren immer noch genauso wie sie früher alle Fahrrad gefahren sind, dachte Anne. Mehr PS unter dem Hintern, aber der gleiche Fahrstil.

    Eigentlich hieß sie Vân Anh. Nur war das zu kompliziert für die Deutschen. Es sprach sich »Wann Äng« aus, aber als Kind wurde sie von den Kindergärtnerinnen immer »Fann-Ann« gerufen. Daraus war dann irgendwann »Fanni« geworden. Diesen Namen hatte sie gehasst. Als sie in die Schule gekommen war, hatte sie sich umbenannt – in »Anne«. Das klang wenigstens ein bisschen so wie ihr eigentlicher Vorname, und die Deutschen konnten es aussprechen. (Es änderte wiederum nichts an der Tatsache, dass kaum jemand ihren Nachnamen »Nguyen« aussprechen konnte, ohne sich die Zunge zu verknoten, aber das war ein anderes Problem, und zwar eines, das sie nicht ändern konnte.)

    Die Kindergartenzeit waren ihre ersten Lehrjahre gewesen: Anne war anders. Sie hatte einen seltsamen Namen und sie sah anders aus. In Deutschland war sie klar als »Asiatin« zu erkennen – obwohl ihre Mutter Deutsche war. Aber die Augen, der leicht dunklere Teint und die tiefschwarzen Haare waren aus deutscher Perspektive eindeutig exotische Merkmale. In Vietnam wiederum war es nicht ganz so schlimm, aber auch hier fühlte sie sich leicht fremdartig: ihre Gesichtsform war ungewohnt kantig, ihr Körperbau etwas höher und schwerer und ihre Haut heller. Es waren Nuancen, aber sobald Einheimische sie genauer betrachteten, fühlte sie sich unwohl. Häufig hieß es dann, sie sei »besonders hübsch«, aber Anne war überzeugt, dass sie aus beiden Welten eigentlich eine schlechte Mischung abbekommen hatte: Zu große Nase, zu kleiner Busen, zu breites Becken. In beiden Ländern war sie außerdem schon als Kind aufgefallen, weil sie komische Dinge mochte. Wie Käse zum Beispiel, aus Sicht der Vietnamesen, und Fischsoße aus Sicht der Deutschen. Sie lebte in zwei Welten gleichzeitig und in keiner so richtig.

    Genau dasselbe Gefühl überkam sie auch, als das Taxi an der Hanoier Industriezone vorbeifuhr, auf die Straßenbrücke, über den Roten Fluss. Sie freute sich auf Hanoi und es ging ihr schon wieder ein klein wenig auf die Nerven. Das Hupen, der Verkehr, das graue Wetter.

    Je weiter sie Richtung Innenstadt kamen, desto voller wurden die Straßen, desto häufiger das Hupen. Im regelmäßigen Abstand von etwa zehn Sekunden hupte auch der Taxifahrer, mit zwei schnellen Handbewegungen auf dem Lenkrad.

    Anne legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Die Geräusche rund um sie verschwammen zu einem Klangteppich, einer Sinfonie aus brummendem Verkehrsgrundrauschen gemischt mit Hupklängen, den Rufen von Verkäufern, dem Dröhnen unsichtbarer Presslufthammer, dem Knattern und Pochen und Summen und Knarzen der Stadt und ihrer Menschen. Es war eine aufregende, berauschende Sinfonie. Sie verhieß Abenteuer und Vertrautheit zugleich. Es würde ihr guttun, vor dem Masterstudium eine Pause einzulegen und sich dem Leben außerhalb der Universität zu widmen. Hanoi konnte irritieren, aber es war auf jeden Fall aufregend und es hatte in vielerlei Hinsicht mehr mit dem wahren, echten Leben zu tun, als vieles, was in ihren Studienordnern geschrieben stand.

    Es dauerte noch eine geschlagene halbe Stunde, bis das Taxi das Haus ihrer Tante erreicht hatte. Als sie schließlich vor dem Grundstück standen, zeigte der Taxameter 515.000 Đồng.

    »Wie viel?«, fragte Anne. Sie hatte vergessen, am Flughafen nachzuschauen, was die aktuellen Festpreise für die Fahrt ins Zentrum waren.

    »515.000«, antworte der Mann.

    Anne zog die Stirn in Falten. »Es gibt feste Preise vom Flughafen«, sagte sie bestimmt. Der Fahrer schüttelte den Kopf.

    »Nicht mehr. Schon seit einem halben Jahr nicht mehr. Wir berechnen jetzt nach Taxameter.«

    »Das stimmt nicht.«

    Der Taxifahrer drehte sich zu ihr um. Seine Mundwinkel hatten sich verzogen und sein Atem roch nach Zigarette.

    »Việt kiều – Ihr Auslandsvietnamesen!«, schimpfte er.

    Anne zuckte zusammen. Hatten bereits die wenigen Worte Vietnamesisch gereicht, um sie als Ausländerin zu identifizieren? »Ihr kommt hier an und wisst immer alles besser!«, zeterte der Mann. »Ihr seid stinkreich, aber teilen wollt ihr nichts! Dabei habt ihr alle Geld wie Heu!«

    Anne reichte ihm einen 500.000-Đồng-Schein und stieg aus. Sie war sich sicher, dass sie gerade übers Ohr gehauen worden war. Der Mann blieb sitzen, schimpfte aber noch weiter. Für einen kurzen Moment hatte sie Angst, dass er mit ihren Koffern wegfahren würde. Eigentlich war es auch üblich, dass Taxifahrer ausstiegen und beim Ausladen halfen. Stattdessen wuchtete sie ihren Koffer selbst aus dem Kofferraum. Der Wagen brauste davon. Mit offenem Kofferraum.

    Anne drehte sich zum Haus ihrer Tante um. Es lag in einem der ruhigeren Wohnviertel außerhalb des Stadtzentrums. Fast jedes Haus hier war schmal, streckte sich lang nach hinten und hatte vier Stockwerke. Und jedes zweite Haus, so schien es, hatte im Erdgeschoss ein Café eröffnet, weil sich die Familien gedacht hatten, man könne das Erdgeschoss ja irgendwie zu Geld machen. Sie klingelte am Gitter.

    »Vân Anh!«

    Tante Hươngs Haar hatte einige graue Strähnen bekommen, seit Anne sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie trug eine Blumenschürze und eilte über den Hof, um aufzuschließen.

    »Tante Hương, wie geht es dir?«

    »Lass dich anschauen, Kind!«

    Tante Hương packte Anne an den Schultern und kniff ihr einmal prüfend in die Wange.

    »Au!«, rief Anne.

    »Du siehst mager aus, bekommst du da in Deutschland nichts Gescheites zu essen? Und wann heiratest du endlich?«

    »Ich freu mich auch, dich zu sehen, Tante Hương«, sagte Anne lachend.

    Sie mochte ihre Tante. Tante Hương hatte eine kauzige, direkte Ader, und sie war zweifelsohne diejenige, die in ihrem Haus die Hosen anhatte und regierte. Aber Anne war als Kind immer wunderbar mit ihr zurechtgekommen. Andererseits ließ sich das für sie leicht sagen – wäre sie nicht die Nichte, sondern die Tochter, würde sie Tante Hương vielleicht weniger gelassen ertragen.

    »Na sag schon, wann heiratest du?«

    »Ich bin erst 26 Jahre alt, Tante!«

    »Eben. Wird Zeit, dass du unter die Haube kommst. Komm rein, setz dich, Kind.«

    Anne betrat das Wohnzimmer. In der Decke versteckte Neonröhren erhellten den Raum. Die Fenster zum Hof waren mit Fensterläden geschlossen, Tageslicht kam nur durch die in diesem Moment offenstehende Tür hinein. Die Decke war mindestens doppelt so hoch wie Anne selbst, sodass der Raum trotz seiner Enge luftig wirkte. Schwere Holzsofas standen rund um einen gläsernen Couchtisch, an der Wand hing ein überdimensionaler Flachbildfernseher. Ihre junge Cousine lümmelte auf einem der Sofas, soweit man die harten Holzungetüme überhaupt Sofas nennen konnte. Sie hielt ein Tablet in der Hand, auf dem ein Computerspiel lief, das ziemlich laute Geräusche machte.

    »Giang, begrüß deine Cousine!«, bellte Tante Hương.

    Das Mädchen hob den Arm und winkte, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen.

    Anne rechnete kurz nach, wie alt Giang jetzt sein musste. 15? 16? »Hallo, Cousine!«, rief sie lächelnd.

    Tante Hương schien milder geworden zu sein, oder abgelenkt. Vor ein paar Jahren hätte sie ihrer Tochter ein solches Verhalten nicht durchgehen lassen.

    »Minh hat letztes Jahr seinen Abschluss gemacht, erinnerst du dich noch an Minh?«, sprach ihre Tante schon weiter. »Der arbeitet jetzt für eine Computerfirma.«

    »Tante, ich bin nicht hier, um zu heiraten!«

    »Nicht? Na, wir werden sehen. Du brauchst einen vietnamesischen Mann, Kind.«

    »Ich bin hier, um zu arbeiten. Für das Praktikum, von dem ich erzählt habe.«

    »Praktikum!«, schnaufte Tante Hương, während sie Anne in eine winzige Tasse grünen Tee einschenkte. »Bist du immer noch nicht fertig mit Studieren?«

    »Mit dem Bachelor in Wirtschaftswissenschaft, ja. Ich will aber noch weiter studieren. Und jetzt erst einmal ein paar Monate hier Arbeitserfahrung sammeln.« Es lag nicht gerade auf der Hand, Arbeitserfahrung in Vietnam zu sammeln, aber immerhin sprach Anne Vietnamesisch. Wenn auch in einer Art, mit der sie sich auf Alltagsthemen beschränken musste, weil ihr für den Rest das Vokabular fehlte. Anne hatte die Idee trotzdem gut gefallen. Sie konnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Sich in einem herausfordernden Umfeld auf das Masterstudium vorbereiten und gleichzeitig den Kontakt zu Vietnam halten. Es war immerhin ihr erster Aufenthalt im Land ohne ihren Vater.

    »Geld verdienen solltest du, Kind! Du bist alt genug. 26, ối trời ơi! In deinem Alter haben die Akademiker hier schon drei Jahre Berufserfahrung. Was studiert ihr in Deutschland denn so lange? «

    »Ja, Tante Hương.« Im Zweifelsfall war das gegenüber Tante Hương die beste Antwort. »Mama und Papa grüßen dich ganz herzlich.« Anne nippte an ihrer Tasse. Der Tee war bitter, er hatte viel zu lange gezogen. »Wie geht es Großmutter Bích, Tante Hương?«

    »Schlecht. Sie ist noch immer im Krankenhaus.«

    »Oh.«

    Tante Hương tätschelte ihre Hand. »Du bist gerade rechtzeitig gekommen, Kind. Sie wird sich freuen, dich zu sehen.«

    Linh

    Krankenhäuser erinnerten Linh immer an Markthallen. Sie waren laut, sie waren stickig und sie beherbergten große Menschenpulks, die alle auf der Suche nach dem richtigen Ansprechpartner waren. Als Linh mit ihrem Aufnahmerekorder auf einer Holzbank im Erdgeschoss saß, fiel ihr wie immer zunächst der Lärm auf. An den Schaltern um sie herum drängelten sich die Patienten und deren Angehörige in dichten Trauben, viele redeten, diskutierten, versuchten sich nach vorne zu drängeln, um einen Arzttermin oder eine Untersuchung zu bekommen. Die Plastikstühle und Bänke waren voller Menschen, die sich laut unterhielten. In den Ecken saßen auf Matten müde Wartende mit Wasserflaschen. Wie in einer Markthalle. Nur ohne die Waren.

    Sie packte das Mikrofon aus und überlegte: Wo bekam sie jetzt Geräusche und Töne her, die dem Radiohörer klarmachen würden, dass er sich nicht auf dem Markt, sondern in einem Krankenhaus befand?

    Das Hòa-Bình-Krankenhaus lag an einer Straßenkreuzung und umfasste den gesamten Häuserblock. Bereits auf dem Weg zum Haupteingang hatte Linh sich mit ihrer Honda durch das Gewühl der Wartenden auf dem Bürgersteig schieben müssen. Händler verkauften Wasser, Gebäck und Zigaretten. Menschen drängelten sich vor den Gittertoren. Es gab nicht viel Platz. Gleich dahinter fing die Straße an, auf der sich die Motorroller stauten und ihr endlos monotones Hupkonzert von sich gaben, während sie auf Grün warteten.

    Linh war durch das Tor in einen sehr schmalen Innenhof gefahren, der mit Motorrollern zugestellt war. Der Parkwächter hatten sie mit einer müden Handbewegung weiter in den nächsten Innenhof geschickt, ebenfalls ein zugestellter Parkplatz, und von dort aus weiter in einen größeren Hof, in dem noch mehr Roller standen. Von dort aus hatte sie durch zwei überdachte Hofgänge zurück zum Hauptgebäude laufen müssen. Es war zweifellos ein sehr großer Gebäudekomplex.

    Auf dem Weg zum Gebäude hatte Linh bereits angefangen zu rätseln, was genau man einem ausländischen Radiohörer beschreiben musste, damit er das richtige Bild vor Augen bekam. Die gelben Wände? Waren Krankenhäuser in Deutschland oder England auch gelb? Sie kannte nur die Krankenhäuser aus den amerikanischen TV-Serien. Die waren nicht gelb gewesen. Oder? Eines dieser Details, an die man sich nie erinnerte, weil es so nebensächlich schien.

    Die Frage stellte sich umso mehr im Erdgeschoss. Überall hingen Flachbildschirme, die die Nummern der Wartenden anzeigten. Das war sicherlich erwähnenswert, es war schließlich modern. Vielleicht war es aber auch banal. An den Wänden erklärten große Tafeln mit Bildern, wie man sich zu verhalten habe. Ein kurzer Blick über die Texte machte schnell deutlich, dass der Großteil der Anwesenden sich nicht um den Inhalt kümmerte: Niemand stellte sich an und niemand verhielt sich ruhig.

    Viele der Menschen um sie herum kamen offensichtlich vom Land. Die Menschen vom Land trugen überwiegend ausgewaschene Hemden und schlecht sitzende, dünne Stoffhosen in braunen, grauen oder schwarzen Tönen, seltener auch in anderen Farben. Vor allem aber erkannte man sie daran, dass ihre Füße in Plastiksandalen steckten. Immer weniger Städter trugen solche Sandalen, auch wenn es bei Regen und Unwetter sehr praktisch war. Aber wer zeigen wollte, dass er etwas Geld hatte, trug geschlossene Schuhe. Nhà quê nannten die Hanoier die Menschen vom Land. Eigentlich war es ein neutraler Begriff, aber häufig wurde er als Schimpfwort verwendet. Landeier. Ungebildete Bauern. Was natürlich heuchlerisch war, überlegte Linh, da eigentlich jeder Hanoier Verwandte auf dem Land hatte – wenn er nicht sogar selbst noch im Reisfeld aufgewachsen war. Insofern war jeder Städter auch irgendwie Landei, und die meisten waren auch stolz auf ihre »Heimat«. Es war immer die Heimat der anderen, die ländlich, einfach und primitiv war. Aber auch wenn man stolz auf seine Herkunft war, leben wollte man dort nicht.

    An den Treppenaufgängen und neben den Fahrstühlen saßen Wachen in blauen Hemden und kontrollierten, wer in die oberen Stockwerke wollte. Linh sah auf die Uhr – gerade keine Besuchszeit. Sie schaltete den Rekorder an und machte eine Probeaufnahme, aber was sie durch den Kopfhörer vernahm, war einfach nur unentwegtes, lautes Reden und Rufen. Das war zwar durchaus eine typische Geräuschkulisse für ein Krankenhaus, aber gleichzeitig war sie auch nicht sehr eindeutig.

    Sie ging wieder hinaus und überlegte. Krankenschwestern mit Mundschutz und weißen Kitteln eilten an ihr vorbei. Angehörige schoben einen Patienten in grüner Krankenhauskleidung in einem Bett durch die überdachten Außenflure. Er hatte Kanülen in beiden Händen und Verbände um den Kopf. Ein Arzt begleitete die Gruppe. Direkt neben ihr war ein riesiger Bereich durch einen hohen grünen Bauzaun abgetrennt, dahinter war ein Presslufthammer zu hören, Arbeiter saßen im zweiten Stock auf Baugerüsten und starrten teilnahmslos ins Leere. Auf einem Gerüst hatten sie Wäsche aufgehängt, wie üblich, wenn Bauarbeiter direkt auf der Baustelle wohnten. Linh seufzte leise. Nichts davon war besonders oder erwähnenswert. Eine tolle Journalistin bist du, dachte sie. Du hast keine Ideen, du weißt gar nicht genau, was du machen sollst.

    Sie lief weiter. Nach zwei weiteren gelben Häusern, von denen Putz abbröckelte, öffnete sich der schmale Außenflur zu einem Garten mit Kreuzgang. Palmen und Büsche wuchsen hier, bis hoch in den ersten Stock, die Wände der umliegenden Gebäude waren mit Moos überwuchert, welches das Krankenhausgelb in ein dunkles Grün verwandelte. Riesige Schimmelflecken fanden sich überall an den Wänden. Hier war es deutlich ruhiger. Wartende Besucher lagen auf den Steinbänken und schliefen. Zwei Frauen in blauer Kleidung mit Strohhüten fegten die Wege.

    Dahinter erstreckte sich ein Gebäudekomplex mit Patientenzimmern. Ein Flügel war mit einem Metallgitter abgesperrt, vor dem sich Menschen drängelten und energisch mit den Krankenschwestern hinter dem Gitter redeten, Wasserflaschen für die Patienten hindurchreichten oder darum bettelten, durchgelassen zu werden. Der zweite Flügel war offen. Angehörige standen im kleinen Hof vor einer Reihe von dunklen, fensterlosen Zimmern. Durch die offenen Türen sah Linh die dahinterliegenden Räume. Jeder dieser engen Räume war mit drei oder vier Betten bestückt, und jedes dieser Betten war umringt von Plastiktüten, Wasserflaschen, Wäschehaufen und Decken.

    Jetzt sollte sie ein Interview führen, aber sie traute sich nicht. Das hier waren kranke Menschen, die von Verwandten gepflegt wurden. Wie konnte sie da einfach reinlaufen und jemandem ein Mikrofon unter die Nase halten? Und was genau sollte sie überhaupt fragen? Hallo, wie geht es Ihnen?

    Eine gute Journalistin musste unverfroren sein, und sie war nicht unverfroren genug. Mit einem Mal kam sie sich unglaublich naiv und vorlaut vor, weil sie Song Hà eine bessere, realere Version der Hörerpost-Reportage angeboten hatte. Was hatte sie bis jetzt vorzuweisen? Geräusche wie aus einer Markthalle. Dazu einen Sprechtext, der bislang aus nichts weiter bestand als: »In der Eingangshalle hängen moderne Flachbildschirme und zeigen die Nummern der Wartenden an. Die Wände sind gelb.« Klang nicht nach einer guten Reportage.

    Sie ging wieder zurück Richtung Eingang. Vielleicht sollte sie mit einem Arzt reden. Aber auch da war sie sich unsicher. Die hatten sicherlich viel zu tun.

    »Kann ich dir helfen, Mädchen? Du siehst so verloren aus.« Eine Frau in den Fünfzigern stand vor Linh. Neben ihr saß in einem Rollstuhl eine noch ältere Frau in grüner Krankenhauskleidung, die abwesend ins Weite schaute. Ihr weißes Haar war schütter und brüchig, die Wangen hingen ihr faltig vom Gesicht.

    »Danke, das ist lieb von Ihnen, Tante. Es geht schon.«

    »Bist du von der Presse?«

    »Woher wissen Sie das?«

    Die Frau deutete auf das Aufnahmegerät und das Mikrofon in Linhs Hand. Linh musste lachen.

    »Ich arbeite fürs Radio. Ich suche Leute für ein Interview.«

    »Du kannst dich mit mir unterhalten, Mädchen. Wir haben nichts zu tun, wir gehen gerade nur etwas spazieren.«

    »Ist das Ihre Mutter?«

    »Nein, Kind, ich bin Pflegerin.«

    »Oh«, machte Linh. Vielleicht war das ein Thema? Andererseits hatte man in Europa sicherlich auch professionelle Pfleger, die sich für ein Gehalt um die Kranken kümmerten, wenn die Familienmitglieder selbst keine Zeit hatten.

    »Was machen Sie denn so?« Linh richtete ihr Mikrofon auf die Frau, etwas zögerlich, weil sie ihr nicht mit dem dicken, schwarzen Mikrofonaufsatz vor der Nase rumfuchteln wollte, und drückte auf die Rekordertaste. Die Frau beäugte das Mikrofon erst kritisch, dann antwortete sie bedächtig.

    »Ich kümmere mich darum, dass die Kranken nicht alleine sind. Die Familien bezahlen mich dafür. Wenn die Patienten essen oder trinken wollen oder sich erleichtern müssen, dann bin ich für sie da.«

    Linh nickte. Soweit war das ja alles ganz normal. »Warum kümmern sich die Familien nicht selbst um ihre Verwandten? Oder wenigstens die Haushaltshilfen der Familien?«

    Die Frau schob die Augenbrauen hoch. »Manche Kranke müssen regelmäßig in eine andere Position gelegt werden. Oder die Infusionen und Nahrungsschläuche müssen kontrolliert werden. Das erfordert etwas Fachwissen, damit sind viele Familienmitglieder oder Haushaltshilfen überfordert. So ist das heutzutage. Es wird alles immer hektischer, Kind. Niemand hat mehr Zeit, und das Wissen über Altenpflege in den Familien geht verloren. Stattdessen gibt man Geld aus, damit jemand anders Zeit hat. Jemand wie ich. Reiche Familien leisten sich auch mal zwei oder drei Pflegerinnen gleichzeitig. Das ist ja ein Vollzeitjob, ich muss tagsüber da sein, nachts ... und dann gibt es Familien, die kümmern sich gar nicht mehr. Manchmal bin ich am Ende die Einzige, die den Patienten die Hand hält, wenn sie von uns gehen.«

    Die Frau sprach langsam, aber bestimmt vor sich hin. Linh wollte sie nicht unterbrechen, sie wusste auch gar nicht, was sie sagen sollte.

    »Es ist gute Arbeit«, fuhr die Pflegerin fort. »Gutes Geld. Ich mache das jetzt schon so viele Jahre, da ist vieles zur Routine geworden. Es gibt einige wie mich, wir kennen uns alle. Wir helfen auch denjenigen, die neu dazukommen. Die Neuen wissen häufig gar nicht, wie man einen schweren Menschen richtig hochhebt oder wie man einen Mann auf die Toilette begleitet. Oder wie man sich vor Infektionen schützt. Aber wir erfahrenen Pfleger, wir wissen, was zu tun ist. Man kann ja nicht erwarten, dass die Ärzte oder die Krankenschwestern uns sagen, wie der Patient gepflegt wird. Das ist ja nicht deren Aufgabe ...«

    Die Anzeige auf dem Rekorder blinkte. Die Batterien waren leer. Sie hatte vergessen, sie zu kontrollieren. Linh sah vom Rekorder zurück zur Frau und dann zu der alten Patientin, die im Rollstuhl saß.

    »Tante ... die Großmutter blutet!«

    Die Pflegerin stoppte und beugte sich zur Frau im Rollstuhl hinunter. Aus dem linken Nasenloch ihres faltigen Gesichts rann Blut. Plötzlich auch aus dem anderen. Linh hielt den Atem an. Das Gesicht der alten Frau schien sich zu verfärben.

    »Ein Arzt! Ein Arzt! Schnell, wir brauchen einen Arzt!«

    Tuân

    Der Affe hatte Hunger; als Tuân das Eisentor zum Hinterhof seiner Wohnung aufschloss, streckte das Tier ihm seine Hände entgegen und zerrte an der Kette. Tuân bemerkte, dass der Affe schon wieder den halben Stamm hochklettern konnte. Er würde die Kette etwas enger ziehen müssen. Es war nicht gut, wenn der Affe zu viel Spielraum hatte. Dann brachte er nur alles durcheinander.

    Tuân zog das Tor zu und stellte seinen Motorroller ab. Aus der Wohnung ertönte ein Husten. Yên ging es noch immer nicht besser. Tuân nahm die Plastiktüte mit den Medikamenten, die er bei der alten Apothekerin geholt hatte, und zwängte sich zwischen Lenkrad und Wand vorbei in Richtung Haus. Es war nicht viel Platz. Der Roller füllte eigentlich den gesamten Hof, abgesehen vom Baumstamm, auf dem der Affe kauerte. Tuân hatte immer einen Affen haben wollen, schon als er ein Kind gewesen war. Seit er als kleiner Junge auf der Böschung der Reisfelder saß und in der Ferne, wo der Wald begann, die Affen hatte singen hören. Er war sehr stolz gewesen, als er das Tier schließlich von einem Bekannten erstanden hatte. Aber mittlerweile hatte er kaum noch Geld für Futter. Er hatte ja kaum noch Geld für sich und Yên. Der Affe bekam die Essensreste, aber meistens rührte er

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