Der lange Weg zu mir selbst: Lebenserinnerungen von Milo Schaer
By Milo Schaer
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Milo Schaer
Milo Schaer, Jahrgang 1927, aufgewachsen in St.Gallen, Schweiz, wo er die Grundschule besuchte und das Gymnasium mit der Matura abschloss. Theologiestudium in Fribourg und Rom. Wirkte als Weltpriester in Kaltbrunn, Flawil und St.Otmar - St.Gallen (Schweiz). Eintritt in den Dominikanerorden mit weiteren Studien in Belgien. Als Ordensmann wurde er in Zürich in große soziale Projekte eingebunden. Nach dem Austritt aus dem Orden und der Ausreise nach Kolumbien im Jahre 1972 gründete er eine Familie, wirkte als Dozent an der Universität in Bogotá und setzte seine Kräfte, sowie sein Wissen ein für den Auf-und Ausbau von kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Projekten. Auch im fortgeschrittenen Alter widmet er sich nach Möglichkeit seinen früheren Tätigkeiten und erweitert sein persönliches Spektrum mit malen und schreiben.
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Book preview
Der lange Weg zu mir selbst - Milo Schaer
Inhaltsverzeichnis
Lebens-Symphonie
Praeludium
Im Schatten der Klostertürme
Dominikaner
Mehr Sein als Schein
50 Jahre Bürgerkrieg
Rückblick
Schlussgedicht
Nachwort
Postludium
Sinnvolle Lebensdaten
Lebens-Symphonie
Zwischen Praeludium und Postludium wird die Lebenssymphonie von Milo Schaer erklingen und sich entfalten in verschiedenen Sätzen mit immer wieder wechselnden Instrumentalisten, die ihm Leitstimme, Begleiter oder gar treuer, durch all die Jahre konstanter Kontrapunkt geblieben sind als klingende, ihn erfüllende Melodie. Eine Fülle von Noten - harmonische, liebliche, wohlüberlegte, nie nur dahinplätschernde, streng taktierte oder auch etwa traurig stimmende, wenn nicht gar besorgt tönende Akkorde vervollständigen die musikalische Lebensschau eines stetig nach Wissenserweiterung und neuen Ideen strebenden Geistes.
B. Zw.
Praeludium
«Wollen wir uns über die Zeiten beklagen?
Nicht die Zeiten sind gut oder schlecht.
Wie wir sind, so sind auch die Zeiten.
Jeder schafft sich selber seine Zeit!
Lebt er gut, so ist auch die Zeit gut, die ihn umgibt!
Ringen wir mit der Zeit, gestalten wir sie!
Und aus allen Zeiten werden heilige Zeiten.»
Augustinus Aurelius
(354 - 430), Bischof von Hippo, Kirchenvater und Philosoph
Emilio Schaer hat in seinem Leben viele Reisen unternommen, innere und äussere. Die geographisch längste Reise führte ihn aus Europa nach Lateinamerika, die zeitlich längste war und ist seine Reise zu sich selbst. Emilio, getauft als Emil – im ersten Lebensabschnitt und bis heute im familiären Umfeld «Milo» genannt, im zweiten als Priester und Ordensmann vorwiegend «Aemilian» gerufen, und nun, in Lateinamerika, bestens bekannt als «Emilio», präziser: als «Don Emilio», – ist im Herzen ein Reisender und Suchender geblieben. Darauf komme ich zurück.
Ein gutes Buch endet so, dass man gerne zur Fortsetzung greifen möchte. Nach der Lektüre dieser eindrücklichen Autobiographie möchte man mehr über diesen Menschen erfahren; möchte man ihn – falls man nicht bereits in den Genuss seiner Freundschaft gelangt ist – persönlich kennenlernen, ihn spüren, seine Nähe atmen, ihm zuhören, mit ihm denken und nachdenken, sich mit ihm austauschen. Ich wähle mit Bedacht den Begriff «Autobiographie» für dieses wunderbare und wunderbar ehrliche Lebenszeugnis, denn es stecken darin drei Begriffe, die für Emilio Schaer und für dieses Werk von prägender Bedeutung sind.
Im Wort «Auto» steckt das eigene Selbst, präziser: das Reflektieren, das Nachdenken, das Studium über die eigene Wenigkeit. Emilio tat und tut dies mit der natürlichen Neugierde eines intelligenten Menschen, der viel weiss und noch mehr wissen und verstehen möchte.
Die mittlere Brücke des Wortes Autobiographie bildet das Wort «bio», Leben. Ja, das Leben in all seinen Formen läuft diesem blitzgescheiten, intellektuell integren, neugierigen und disziplinierten Mann, der in der Zeit der «Weimarer Republik» in einer der damals reichsten Städte Europas, St. Gallen, geboren ist, immer wieder über den Weg. Er hat sich diesem Leben gestellt, hat die je neuen Herausforderungen aufgenommen, umgesetzt und ist so zu immer wieder neuen Ufern, inneren und äusseren, aufgebrochen.
Den Abschluss dieses triologischen Begriffs bildet die «Graphie»; in diesem Kontext zu deuten im Sinne von Schreiben, präziser: schreibend gestalten und formen. Ob wir eine simple Nachricht überbringen, eine Anekdote zum Besten geben oder – exempli gratia – eine Auto-bio-graphie schreiben, wir geben dem Geschehenen eine Form, eine Struktur und damit eine Gestalt, die uns erlaubt, die erwünschte Botschaft präziser und verständlicher zu machen.
Wer nur diese Zeilen liest – ohne den hier Porträtierten persönlich zu kennen – könnte zur irrigen Meinung gelangen, hier sei von einem narzisstisch Selbstverliebten die Rede. Nichts weniger denn dies. Emilio Schaer interessiert sich mit derselben Neugierde für die Anderen, für die Mitmenschen. Darüber hinaus hat er die keineswegs selbstverständliche Gabe, im Mitmenschen auch schlummernde Qualitäten und Kompetenzen zu erkennen. Wie oft habe ich von ihm gehört: «Ich muss Dich diesem oder jenem vorstellen» oder «Ich finde, Du solltest diesen oder jenen kennenlernen».
Er ist ein geborener Netzwerker, ein «Spinner» im besten Sinne des Wortes. Er bringt Menschen zusammen, die gemeinsam mehr und Grösseres leisten können denn je alleine. Ja, Grösseres leisten, weil er ihnen diese oder jene Aufgabe mit der natürlichen Autorität des lebensklugen Menschenkenners zutraut. Nicht zufällig steckt im Wort Zutrauen auch das Wort ‚trauen‘ im Sinne von ‚wagen‘, was ursprünglich so viel bedeutete wie «in die Waagschale legen». Er hat viele Menschen gewogen und sie für ‚schwer genug‘ befunden, mehr zu wagen.
Es ist deshalb kein Zufall, dass er in seinen confessiones immer wieder auf die Menschen zu sprechen kommt, die für ihn von besonderer Bedeutung waren und sind. Emilio Schaer ist Freund und Mitmensch durch und durch. Für ihn gilt in besonderem Mass das Wort, dass der Mensch nur durch andere Menschen Mensch ist.
Die autobiographischen Skizzen beginnen in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und reichen bis in das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Emilio Schaer ist damit ein spannender und glaubwürdiger Zeitzeuge grosser, ja grösstmöglicher Bruchzonen in kirchlicher, gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher und technologischer Hinsicht. Darüber hinaus, und dies zeichnen sein Leben und damit seine Autobiographie besonders aus, blieb er nicht einer bestimmten Schicht oder gesellschaftlichen Zugehörigkeit verhaftet, sondern durchlebte persönliche Bruchzonen und suchte Mutationen.
Dazu gehört, dass er, als früh zum Priestertum bestimmter Bub aus ‚gutem‘ Elternhaus, als Seelsorger auf dem Land und in Schweizer Städten sozialpolitische und ökumenische Anliegen aufnimmt und umsetzt.
Dazu gehört, dass er den auch dornigen und schmerzhaften Weg vom weltlichen Land- und Stadtseelsorger zu einem der intellektuell führenden Orden zurücklegte.
Dazu gehört, dass er sich in und mit dieser Kirche und dem Orden in der Zeitenwende vor, während und nach dem «Zweiten Vatikanischen Konzil» reibt.
Dazu gehört, dass er mit fast 50 Jahren – dem biblischen Alter der conversio – nach Lateinamerika aufbricht und dort als Hochschuldozent und als Unternehmer seine Kräfte in den Dienst eines so ganz anders strukturierten Landes stellt.
Und dazu gehört, dass er in Kolumbien das priesterliche Amt aufgibt und ein ebenso erfüllendes wie herausforderndes neues Leben als Partner, als Vater und Grossvater lebt und erlebt.
Der besondere Wert dieser an Leben vollen, reichen Autobiographie liegt nun darin, dass er dieses Werk mit der ihm eigenen Neugierde und Unruhe des stets Suchenden verfasst hat. In jedem Kapitel wird deutlich und in faszinierender Spurensuche erkennbar, wie sich ihm als eminent und permanent selbstreflektierendes Wesen aus dem bisher Gelebten Neues erschliesst.
Unvergesslich ist mir ein anregendes Mittagessen mit Emilio im Chalet Suizo im Herzen von Santafé de Bogotá (Kolumbien). Am Tisch sassen auch meine beiden Buben, damals 10 und 7 Jahre alt. Gebannt hörten sie zu, gepackt von der tiefen Menschlichkeit dieses leidenschaftlichen Suchers, seiner intellektuellen Schärfe und Redlichkeit, seinem Interesse am Nächsten, seinem Interesse an ihrem jungen Leben. «Das war jetzt interessant», war ihr erster Kommentar, als wir wieder alleine waren. «Das ist interessant» ist auch mein Kommentar zu diesem ausserordentlichen biographischen Werk, dem ich viele interessierte Leserinnen und Leser wünsche.
El Hostal Suizo, (Sasaima, Kolumbien), 25. Juli 2015
Roland Gröbli
Im Schatten der Klostertürme
Ich bin am 17.2.1927 an der Bahnhofstrasse in St. Gallen geboren, da wo die Eisenbahn zum Bodensee im schwarzen Tunnel verschwindet, zehn Gehminuten entfernt von der Kathedrale mit ihren einprägsamen hochaufragenden Türmen. Diese Stadt hat einen grossen Teil meines Lebens beeinflusst und sie stellt eine jahrtausendalte Tradition dar von alemannischem Heidentum, irischem Mönchtum und benediktinischer Klosterkultur.
Mein Geburtshaus war das Café Thoma, Geschäft meines Grossvaters mütterlicherseits, dem ich doch einige Zeilen widmen will. The- odor Thoma war ein Lebenskünstler. Als Bauernbub von Mörschwil machte er in St. Gallen eine Konditorlehre und führte erfolgreich die Kaffeehalle an der Schützengasse. Bald hatte er so viel Geld erwirtschaftet, dass er sich mit 40 Jahren zurückziehen und am Bodensee eine Villa kaufen konnte. Da verbrachte er mit seiner Familie die Jahre des Ersten Weltkrieges, in deren Verlauf er spürte, dass das gesparte Geld nicht reichen dürfte. So machte er an der Bahnhofstrasse in St. Gallen eine neue Kaffeehalle auf, die nach einigen Jahren so viel Geld eingebracht hatte, dass er sie wieder verkaufen konnte.
Zum Erfolg hatte die Grossmutter wesentlich beigetragen, eine geborene Geschäftsfrau, die zu den währschaften Zwanzgerstückli (Crèmeschnitten und Mohrenköpfen) den Rekruten erst noch Rabatt gab. Neben dem Geschäft pflegte Grossvater mit seinem Freund Becker ein seltenes Hobby: Sie gehörten zu den ersten Autokäufern der Schweiz, die die staubigen Strassen unsicher machten. Sie wussten aber ihre Automobile nicht nur zu chauffieren, sondern auch zu unterhalten. Jedes Jahr nahmen sie diese Monstren Stück für Stück auseinander und setzten sie wieder kunstgerecht zusammen.
Nach dem Verkauf des Café Thoma begann für meinen Grossvater endgültig das Privatier sein,