Sissi, Stones und Sonnenkönig: Geschichten unserer Jugend
Von Erwin Steinhauer und Fritz Schindlecker
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Über dieses E-Book
Zwischen 1955, als Leopold Figl »Österreich ist frei!« verkündete, und 1978, als der Sonnenkönig Bruno Kreisky die Zwentendorf-Abstimmung verlor, liegt ein Vierteljahrhundert, in dem sich viel tat: Kurioses, Emanzipatorisches, Revolutionäres und Restauratives. Es geht um verrückte Zeiten: Um die Kukuruzwette zwischen Österreich und der Sowjetunion und ein Ferkel als Trophäe. Um die 'Saupitteln', deren 'Yesterday' schon übermorgen keiner mehr kennen, und um Heinz Conrads, der unvergessen bleiben wird. Um linke Revoluzzer und katholische Sektierer.
Mit heiterer Wehmut und bittersüßer Ironie blicken Steinhauer und Schindlecker auf drei turbulente Jahrzehnte zurück.
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Buchvorschau
Sissi, Stones und Sonnenkönig - Erwin Steinhauer
bleiben.
Unsere 1950er
Die Erinnerung ist oft das Schönste im Leben, glaube ich.
ROMY SCHNEIDER
am 26. November 1954,
im Alter von 16 Jahren;
Schauspielerin
(1938–1982)
»Was wollts denn ihr über die Fünfzigerjahre sagen? Die habts ihr doch gar nicht richtig erlebt!«
Die Kollegin meint das ernst. Wir wüssten gar nicht, sagt sie, was damals wirklich los gewesen sei. Sie aber schon. Dabei ist sie sonst gar nicht so rasend darauf erpicht, speziell zu betonen, dass sie ein paar Jahre älter ist als unsereiner. So verkündet sie jetzt lautstark, sie habe noch die Russen gesehen mit der »Puschka«, sie habe als Volksschulviertklässlerin den ersten »Tag der Fahne« im 56er Jahr mitgefeiert, und sie sei schon mit dreizehn ein Elvis-Fan gewesen. Ja, so sind sie, die Zeitzeugen: sie haben nicht nur alles gesehen, sie waren auch bei allem und jedem mitgestaltend tätig. Jedenfalls dann, wenn es sich dabei um etwas Positives, Emanzipatorisches und/oder Demokratisches gehandelt hat. Wie jetzt auch hier, in diesem konkreten Fall.
Sie habe, sagt unsere nur um einen kleinen Hauch ältere, aber sich doch um Dezennien reifer gebende Kollegin, sie habe in mühevoller Kleinarbeit, auch unter strategisch gezieltem Einsatz von Krokodilstränen, einen emanzipatorischen Etappensieg gegen ihre verzopften Eltern errungen: Denn unter dem Weihnachtsbaum im 58er Jahr lagen für sie kein Dirndl und auch kein Sprungseil, sondern eine Jimmy-Hose und ein Hula-Hoop-Reifen.
»Gut«, sagen wir darauf, »ja klar, beachtliche Leistung, liebe Kollegin! Aber unsereiner«, fügen wir hinzu, »unsereiner kennt sich auch aus!«
Denn auch wir wissen aus der Besatzungszeit, dass die »Puschka« ein russisches Synonym für »Schusswaffe« ist, also so gebraucht wird wie »gun« im Englischen oder »Kanone« in unerträglichen bundesdeutschen Filmsynchronisationen. Auch wir haben zahllose »Tage der Fahne« miterleben dürfen und Gedichte aufsagen müssen, wie:
ÖSTERREICH, MEIN VATERLAND, HöR, WAS ICH DIR SAGE:
ICH WILL ÖSTERREICHER SEIN, HEUT UND ALLE TAGE!
Auch wir haben zu unseren ersten Jeans »Jimmy-Hosen« gesagt. Und auch wir haben uns prägende frühkindliche Frustrationen mit dem depperten Hula-Hoop-Reifen zugefügt, weil der Dreck sich nie um unsere Leibesmitte drehen wollte, sondern immer gleich runtergeplumpst ist.
Aber eines ist schon richtig, liebe Kollegin: Im Gegensatz zu dir waren wir damals verdammt jung. Der 1. Jänner 1960 sah Erschi als Volksschuldrittklässler und Fritzi als Erstklässler.
Dazu ein kurzer Einschub: Vornamen quasi zu verkleinern, also statt Erwin »Erschi« und statt Fritz »Fritzi« zu sagen, war damals allgemein üblich. Neben Franzis, Pepis, Poldis und Karlis gab es auch zahllose Dorlis, Liesis, Annis und Mariechens. Spätestens seit den 1980er Jahren nahm diese allgemeine Verkleinerungssucht etwas ab – wer wollte auch schon gern statt Kevin »Kevini« genannt werden, oder statt Pamela »Pämelchen«? In jenen Kapiteln dieses Buches, in denen wir unsere Kinderjahre beschreiben, bezeichnen wir uns selbst mit diesen Verkleinerungsformen, also »Erschi« und »Fritzi«. Sobald wir das vierzehnte Lebensjahr vollendet haben, verwandeln wir uns in »Erwin«und »Fritz«, die verwegen und entschlossen dem Erwachsenenalter entgegenschreiten.
Da Erschi und Fritzi damals aber eben noch sehr klein waren, haben die 1950er Jahre wahrscheinlich unser Unterbewusstsein mehr geprägt als unser Bewusstsein. Ob wir uns deshalb jetzt in tiefe Melancholie stürzen oder in einen Glückstaumel verfallen sollen, darüber haben wir noch nicht entschieden. Zumal wir als engagierte Teilzeit-Freudianer natürlich wissen, dass unbewusste Prägungen deutlich länger und intensiver wirken als bewusste.
Und was wir dem Konglomerat aus Erinnerungsbildern und Nachgelesenem entnehmen, führt uns zu dem Schluss, dass die 1950er hierzulande keine einfache Zeit waren. Und zwar ganz und gar nicht.
Denn da gab es Russen und Amis, Wirtschaftswachstum und Bauernsterben, Vollmotorisierung und Bittgang-Prozessionen, Jazzclubs und Operettenfilme, Marilyn Monroe und Paula Wessely, Heinz Conrads und Helmut Qualtinger.
Selbstverständlich gab es auch eine junge, neue Literatur mit DichterInnen und SchriftstellerInnen wie Ingeborg Bachmann, Elfriede Mayröcker, Ernst Jandl, H. C. Artmann und noch vielen anderen. Aber es gab auch die alten Literaturpreisträger im neuen ideologischen Kleid – »reloaded«, würde man heute sagen. Diese Gertrud Fusseneggers, Franz Karl Ginzkeys oder Karl Heinrich Waggerls schrieben nicht mehr Hymnen auf Führer, Machtergreifung und deutsche Gaue, sondern auf Jesuskind, Weihnachten und Niederösterreich. Jede Zeit hat bekanntlich ihre treuen Chronisten und manche davon überleben sogar unbeschadet tausendjährige Reiche.
In dieser widersprüchlichen Zeit, in die sie ihre Mütter hineingeboren hatten, besahen Erschi und Fritzi mit heiterem Lächeln jene Umgebungswelt, in die sie direkt aus Abrahams Wurstkessel durch unergründlichen Ratschluss gelangt waren. Rundum zufrieden salutierten sie stramm aus ihren weißwandbereiften Kinderwägen heraus vor den unterschiedlich uniformierten Repräsentanten der Besatzungsmächte und genossen ihre Freiheit und Mobilität. Jeder von beiden wusste vielleicht nicht, ahnte aber, dass ihnen selbst ein Frontalcrash mit einem US-amerikanischen Jeep oder einem sowjetrussischen Panzerspähwagen kaum etwas anhaben konnte. Denn die beiden jungen Herren hatten den Prototyp des späteren Airbags um den Leib geschnallt: einen weißen Wickelpolster mit Schmuckbändern, natürlich in Blau, der Farbe der Knaben mit göttlich vorherbestimmter heterosexueller Orientierung.
Zwei, drei Jahre später durchstreiften die beiden in ihren Matrosenanzügen ganz unterschiedliche Regionen jenes kleinen Binnenlandes, das in der Jugendzeit ihrer Großeltern noch eine stolze Seemacht in der Adria gewesen war.
Deshalb vielleicht auch die Matrosenanzüge.
Doch halt – so weit sind wir ja noch gar nicht. Wo genau standen eigentlich die allegorischen Wiegen von Erschi und Fritzi? Da Hausgeburten damals als ewiggestrig und höchst unmodern galten, erblickten beide Knaben in wunderbar steril ausgeleuchteten Kreißsälen das Licht der Welt. Erschi im Frauenhospiz in der Peter-Jordan-Straße im neunzehnten Wiener Gemeindebezirk, Fritzi im Krankenhaus Tulln.
Wiewohl also beide in zwei völlig unterschiedlichen Kulturkreisen, der eine im Roten Wien, der andere im Schwarzen Niederösterreich, zur Welt gekommen waren, hatten sie doch einige Gemeinsamkeiten.
Einer von Erschis Urgroßvätern war Hufschmied in Ernstbrunn im schönen Weinviertel gewesen. Und einer von Fritzis Urgroßvätern hatte in demselben Viertel in Ziersdorf als Sattlermeister gewirkt. Darüber hinaus hatte Erschi einen jüdischen Urgroßvater, Fritzi eine jüdische Urgroßmutter.
Mit den Nazis waren beider Väter als Halbwüchsige in Konflikt geraten: Erschis Vater, der seinem Urgroßvater vergeblich hatte helfen wollen, sich vor den Häschern des Terrorregimes zu verstecken, war aufgegriffen und als Siebzehnjähriger an die Front geschickt worden. Fritzis Vater war wegen »antinationalsozialistischer Umtriebe in der Schule« von der Gestapo verhört und schließlich vom Tullner Gymnasium relegiert worden. Er hatte daraufhin neben seiner Tätigkeit als Luftwaffenhelfer in Wien zwar die Matura machen können, war aber in den letzten Kriegsmonaten dann doch noch an die Front geschickt, verwundet und schließlich in einem Berliner Lazarett von Soldaten der Roten Armee gefangen genommen worden. Nach zweijähriger Kriegsgefangenschaft in der Ukraine war er 1947 nach Hause, nach Langenlebarn, zurückgekehrt.
Langenlebarn war damals bereits zweifach besetzt und sollte das auch bis 1955 bleiben. Insofern zweifach, als der Ort selbst zur sowjetischen Besatzungszone gehörte, der direkt angrenzende Flughafen aber amerikanisch war.
Wie war das möglich? Wir sehen vor unserem geistigen Auge den gespannt-kritischen Gesichtsausdruck, mit dem Du, liebe reflektierende Leserin, diese stumme Frage an uns richtest. Und wir spüren die naive Treuherzigkeit in Deinem Blick, lieber charmanter Leser, der uns besagt, dass Du tatsächlich bereit bist, jeden, aber auch wirklich jeden Schmarren zu glauben, den wir Dir hier auftischen.
Nun – einer Legende zufolge soll die Entscheidung für diese US-sowjetische Doppelbesetzung der Marktgemeinde Langenlebarn bei der Konferenz von Jalta gefallen sein. Einen Tag vor der Ratifizierung der Schlussakte, am Vormittag des 10. Februar 1945. An ebendiesem Samstag soll Sir Winston Churchill, der ein begeisterter und talentierter Hobbymaler war, um eine Unterbrechung der Konferenz für zwei Stunden gebeten haben. Er wolle, sagte er, eine Aquarellskizze der Alexander-Newski-Kirche anfertigen. Und die Kuppel derselben erstrahle ganz außergewöhnlich intensiv nur im mildweißen Vormittagslicht. Josef Stalin grinste freundlich und deutete mit einer weitausholenden Geste an, dass er gegen eine Sitzungsunterbrechung gar nichts einzuwenden habe. Erklärend zeigte er dabei auf einen Riesenkübel voller Beluga-Kaviar, den er sich als Gabelfrühstück hatte bringen lassen und dessen genussvolles Auslöffeln seine volle Konzentration erfordern würde. Kaum hatte sich Sir Winston mit seiner Palette und seiner Staffelei davongemacht, träufelte der Rote Diktator mit einem vor lauter Vorfreude geradezu idiotischen Gesichtsausdruck realsozialistischen Zitronensaft über die stahlgrauen Fischeier. Eben, als sich Stalin stilgerecht mit seinem Perlmuttlöffel über den opulenten Imbiss hermachen wollte, nutzte der amerikanische Präsident Franklin Delano Roosevelt die Gunst der Stunde. Sich weit aus seinem Rollstuhl vorlehnend, sagte er mit fester Stimme:
»Uncle Joe: We want Langenlebarn!«
Stalin verzog keine Miene. Er reagierte überhaupt nicht. Es war ihm sichtlich vollkommen egal, dass Roosevelt ihn durch die Anrede »Uncle Joe« sozusagen »Pepi-Onkel« nannte. Er fand das ganz amüsant. »Onkelchen« war ein allgemein gebräuchlicher Ausdruck für nette Herren in Russland seit alters her. Stalin fand deshalb diese diplomatisch unübliche Anrede, die der amerikanische Präsident gelegentlich für ihn, den Generalissimus, Präsidenten und Parteivorsitzenden, wählte, durchaus amüsant. Die der Anrede folgende Forderung aber: We want Langenlebarn! – diese Forderung war inakzeptabel. Absolut inakzeptabel.
»Langenlebarn? Njet!«
Stalin spürte förmlich, wie die erste Portion des Beluga durch seine Speiseröhre in den Magen glitt, während sich auf seiner Zunge und seinem Gaumen quasi posthum ein fulminantes Geschmacksamalgam aus kalter Zitronenfrische, Kristallwasser und leicht salzigem Edelfisch ausbreitete. Er hob den Blick zu Roosevelt, der ihn durch seine Brille aus blutunterlaufenen Augen ansah. Roosevelt wollte es wissen. Er unterbreitete Stalin nun sein weitreichendes, gesamteuropäisches Angebot:
»I’ll give you everything you want. What you’ll get is: the eastern part of Germany, Bulgaria, Romania. You’ll get: Poland, Hungaria, Czechoslovakia. And you’ll get: the Baltic States and you’ll get Finland!«
»Choroscho, moj Gospodin!«, erwiderte Stalin mit seltsam gütiger Stimme und lächelte. Dann führte er sich den zweiten Kaviarlöffel zu. Der Beluga schien bei ihm eine ähnliche Wirkung zu haben wie eine wohldosierte Menge Kokain auf westliche Entscheidungsträger: Der Kremlfürst wirkte nach außen irgendwie herzlich, ja fast menschlich, während er innerlich eiskalt kalkulierte.
Sosehr er das Angebot des Herrn Roosevelt zu schätzen wisse, könne er diesem Tausch nicht zustimmen, ließ Stalin von seiner platinblonden Dolmetscherin übersetzen. Durch seinen Bildungsreichtum wisse er um die hoch entwickelte Gastfreundschaft der Langenlebarner, egal ob es sich dabei um Unteraigner oder Oberaigner handle. Und seine auf dem dialektischen Materialismus aufbauende Prognosefähigkeit lasse ihn in ferner Zukunft dortselbst mehrere Haubenlokale vermuten. Und diese wolle er als Freund der gehobenen Gastronomie für die ihm nachfolgenden Generationen von Sowjetmenschen bewahren.
»I only want the airport of Langenlebarn!«, erwiderte Roosevelt und fügte hinzu: Wenn er den Flugplatz bekäme, sei er bereit, das Dorf gegen Finnland zu tauschen. Nach einigem Zögern kratzte sich der Rote Diktator die letzten Kaviarreste aus den Zwischenräumen seiner Vorderzähne und stimmte schließlich diesem
»New Deal« zu.
So wurde Finnland also nicht Teil des Ostblocks, der Flughafen der Nazi-Luftwaffe in Langenlebarn wurde zur US-Airbase Tulln und der Ort Langenlebarn war Teil der sowjetischen Besatzungszone.
Das Lichtental aber, wo Erwin die ersten dreißig Jahre seines Lebens verbringen sollte, war US-amerikanisch besetzt – wie auch der ganze übrige neunte Wiener Gemeindebezirk. Diese Einbindung in den Freien Westen soll der Legende nach vielen jüngeren Damen schon zu einem frühen Zeitpunkt Nylonstrümpfe mit Naht und Zigaretten der Marken Chesterfield und Lucky Strike eingebracht haben. Eine Wandlung der Trinkgewohnheiten der Lichtentaler in Richtung etwa auf Cola-Bourbon scheint empirisch aber über einen langen Zeitraum nicht nachweisbar. Einem alten Wienerlied zufolge tranken die Lichtentaler ja gern ein Glaserl Wein, sofern die dafür gekelterten Trauben vorher »g’rebelt« wurden. Was so viel heißt wie sorgsam von ihren Stielen abgebeert. Und das Trinken von »Gerebeltem«, ob pur oder gespritzt, war auch noch Ende der 1950er Jahre durchaus allgemein verbreitet.
Als Jungministrant durfte der kleine Erwin, damals natürlich noch Erschi genannt, anlässlich der Fronleichnamsprozession 1958 eine Sakralfahne schleppen. Da lehnte in den durchaus schon ein wenig wärmenden Strahlen der Spätfrühlingssonne am Eingang des allseits beliebten Gasthauses »Zum Küss den Pfennig« der Onkel »Moni« und beobachtete die vorbeidefilierenden Prozessionsteilnehmer. Elegant gekleidet in einen feiertäglichen Nadelstreif, hielt er in seiner Rechten ein halb gefülltes Glas mit »Gerebeltem« und in der Linken betont lässig mit spitzen Fingern die stets glimmende filterlose Austria 3. Onkel Moni bezeichnete sie gerne als »echten Beuschlreißer«. Für die Smart Export, die damals als schicke Antwort des österreichischen Tabakmonopols auf die Glimmstängel made in USA galt, fand er hingegen nur verächtliche Worte:
»A parfümierter Dunstspender! A Smart rauch i nur, waunn i Hoisweh hob. Stattm Salbeitee! A Smart is ka Tschick, a Smart is a reine Damenzigarettn!«
Onkel Moni war eigentlich Erschis Großonkel, aber immer noch höchst aktiv. Auf viele Chesterfield-Raucherinnen wirkte er geradezu jugendlich-charmant. Allgemein galt er im Viertel als Kavalier der alten Schule, der dabei auch noch einen höchst modernen Beruf ausübte: Onkel Moni war Kraftfahrer und dabei in Personalunion auch noch Brot- und Feingebäcklieferant der legendären Ankerbrot-Fabrik. Dieses Wiener Traditionsunternehmen warb damals mit dem Slogan:
»Worauf freut sich der Wiener, wenn er aus dem Urlaub kommt? Auf Hochquellwasser und Ankerbrot!«
Als Onkel Moni nun seines Großneffen ansichtig ward, der sich keuchend in der Fronleichnamsprozession mit dem Schleppen einer Katholen-Fahne quälte, rief er ihm zu:
»Burli! Lass die Fahne aunglahnt. Komm eina und trink mit mir a Achterl!«
Der kleine Erschi reagierte selbstverständlich nicht auf dieses Angebot. Er war nicht bereit, die eine Fahne durch eine andere zu ersetzen. Und auch Onkel Monis Alternativ-Offerte: »Na, dann trinkst halt a Himbeerwasser!«, schlug er empört aus.
Der Grund war klar: Als so junger, kleiner Ministrant schon so eine uralte, riesige Fahne tragen zu dürfen, das war eine große Ehre. Da musste man es in Kauf nehmen, dass man schwitzte wie ein Sonntagsschweinsbraten und stöhnte wie eine der alten Dampfloks, die zu dieser Zeit immer noch die lokalen ÖBB-Personenzüge zogen.
Doch bald schon wurden all die alten Dampfloks durch Dieselloks ersetzt. Denn der Fortschritt bahnte sich in Erschis und Fritzis Kindertagen seinen Weg. Mehr oder weniger fast geradezu unaufhaltsam.
Bazooka-Joe hat kein Niveau
Der böse Hatschi Bratschi heißt er,
und kleine Kinder fängt und beißt er.
FRANZ KARL GINZKEY
Träger des Österreichischen Staatspreises
für Literatur 1957
NSDAP-Mitgliedsnr. 8.751.771
(1871–1963)
Die US-Amerikaner waren hierzulande als Besatzungsmacht deutlich beliebter als die Russen. Das lag am Marshallplan. Nicht aber an den Kulturgütern, die sie vermittelten: Chewinggum, Coca Cola, Comics, Hawaiihemden und Jazzmusik trafen im Österreich der Fünfzigerjahre auf eine breite Front der Ablehnung. Wenn man in der Lage war, eine vernünftige Blase mit seinem Bazooka-Kaugummi zu produzieren, galt man, sofern man unter vierzehn war, als unerzogen, bis einundzwanzig dann als »Schlurf« oder »Schlurfbraut«. Falls man aber gar im Erwachsenenalter immer noch Kaugummiblasen machte, war man eine vulgäre Person, die den unvermeidlichen Untergang des Abendlandes zügig vorantrieb. Denn schon durch den Namen dieses Kaugummis mussten sich ausgediente, aber immer noch überzeugte Frontsoldaten, die selbstverständlich auch in der jungen demokratischen Republik Schlüsselstellen bekleideten, provoziert fühlen: »Bazooka« war schließlich die Bezeichnung für eine amerikanische Waffe, die von Infanteristen zur Abwehr feindlicher Panzer eingesetzt wurde.
Dazu kam, dass jede Bazooka-Kaugummi-Packung eine weitere amerikanische Kulturgutofferte enthielt, die auf wenig Gegenliebe stieß – einen kleinen Comicstrip, dessen Held der »Bazooka-Joe« war. Selbst wenn er »Panzerfaust-Pepperl« geheißen hätte, wäre der Bazooka-Joe von den Kulturgüter-Hütern der jungen Zweiten Republik abgelehnt worden.
Denn Comics galten durch die Bank als »Schmutz und Schund«. Es ist aus heutiger Sicht von geradezu grotesker Lächerlichkeit, dass rassistische, islamophobe, ja sogar Hexenverbrennungen verherrlichende Kinderbücher wie Hatschi Bratschis Luftballon als wertvolle Kinder- und Jugendliteratur galten, während Micky Maus und Donald Duck vor allem wegen ihrer »Lallsprache« als verderblich für die heranwachsende Generation angesehen wurden. Bis in die Sechzigerjahre wetterte der Österreichische Buchklub der Jugend gegen »Schmutz und Schund«. Im Zuge dieser Kampagnen gab es sogar Comic-Verbrennungen in einigen österreichischen Städten. Dass es diese auch in der BRD und der DDR gab, macht die Sache nicht besser, sondern eher schlimmer: Schließlich hätte doch in allen drei Staaten die Parallele zu den Bücherverbrennungen des Dritten Reiches auffallen müssen.
Heimischer Exponent des abendländischen Kampfes gegen die Bildergeschichten war der Buchklub-Maxi, eine Bauchrednerpuppe, die Erschi und Fritzi schon als Volksschüler in Angst und Schrecken versetzt hatte. Als beide, längst zu gestandenen Männern gereift, Jahrzehnte später den amerikanischen Horrorfilm Chucky, die Mörderpuppe sahen, fühlten sie sich, unabhängig voneinander, an den Buchklub-Maxi erinnert. Und Chucky erschien ihnen, gemessen an diesem Literaturtugendwächter ihrer Kindheit, relativ harmlos.
Nun ist es ja keine sensationelle Neuigkeit, dass Verbote Anreize wecken. Dies gilt nicht nur für Marihuana und pornografisches Bildwerk und Schrifttum, sondern eben auch für Schundheftln. Und so umfassten die Kinderzimmerbibliotheken von Erschi und Fritzi nicht nur weltliterarische Werke wie Karl Mays Der Schatz im Silbersee oder James Fenimore Coopers Lederstrumpf. Nein. Hier lagen, anfänglich versteckt, später durchaus sichtbar, neben Micky- und Donald-Heftln auch Elaborate italienischen und bundesdeutschen Comicschaffens, wie zum Beispiel Akim, Sohn