Wo noch niemand war: Erinnerungen an Ernst Bloch
Von Gert Ueding
()
Über dieses E-Book
Ein gutes Stück deutsch-deutscher Wissenschafts- und Zeitgeschichte der sechziger und siebziger Jahre. Erinnert und geschrieben von seinem Assistenten und Schüler: Eine Hommage an den eindringlichen Erzähler, Redner, Vor- und Weiterdenker.
Ähnlich wie Wo noch niemand war
Ähnliche E-Books
Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenPhilosophie und Aktualität: Ein Streitgespräch Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer Sophist: Zweisprachige Ausgabe Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenPerspektivismus: Neue Beiträge aus der Erkenntnistheorie, Hermeneutik und Ethik Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenGesammelte Werke: Essays + Aufsätze + Satiren + Kritiken + Autobiografische Schriften: Über 600 Titel in einem Buch: Goethes Wahlverwandtschaften + Ein Drama von Poe entdeckt + Baudelaire unterm Stahlhelm + Brechts Dreigroschenroman + Berliner Kindheit um Neunzehnhundert… Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenHoffnung für eine unfertige Welt: Jürgen Moltmann mit Eckart Löhr Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Tiefenpsychologie nach C.G.Jung: Eine praktische Orientierungshilfe Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAngst und Macht: Herrschaftstechniken der Angsterzeugung in kapitalistischen Demokratien Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenGöttliche Komödie Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Westöstliche Weisheit: Visionen einer integralen Spiritualität Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMetaphysik. Erster Halbband: Bücher I (A) - VI (E). Zweisprachige Ausgabe Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke: Neue überarbeitete Auflage Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Rezensionen für Wo noch niemand war
0 Bewertungen0 Rezensionen
Buchvorschau
Wo noch niemand war - Gert Ueding
vergessen.
Eins
»Ein höchst heiteres Kreisen ging fühlbar zwischen Drinnen und Draußen … So nahe und fast aus dem gelebten Augenblick heraus, so selber darin zuhause genossen wir das ›Land‹ und brauchten nicht einmal eine Strecke wegzugehen, um es in voller Figur zu sehen.« ( Spuren)
Ernst Bloch hat mich gerne überrascht. Das erste Mal schon wenige Tage, nachdem ich in das Haus eingezogen war, in dem er selber mit seiner Frau das Erdgeschoss bewohnte. Mein Zimmer, eine klassische Studentenbude mit dem Waschtisch an einer Wand, dem Bett gegenüber, dem Schreibtisch inmitten, lag im Souterrain, direkt unter seinem Arbeitszimmer. Es war tief in der Nacht, gewiss nach 24 Uhr. Nur mit halbem Ohr hatte ich das Zuschnappen der Flurtür über mir wahrgenommen, dann aber hörte ich die vorsichtigen, etwas schlurfenden Schritte, die die kleine Treppe herunter, den langen Kellergang entlang geradewegs auf meine Zimmertür ganz am Ende zukamen. Dass es nur Bloch sein konnte, war mir klar, seine Frau Karola hatte einen ganz anderen, energischeren, durch die Absätze ihrer Schuhe hell betonten Tritt. Bloch schlurfte in seinen Filzpantoffeln, die er zuhause trug, seine Wirkung hat das nicht beeinträchtigt. An meiner Tür angekommen, verhält er einen Moment, dann klopft er. Den Laut, später so oft wiederholt, werde ich nicht vergessen. Dunkel pochend, doch behutsam, vorsichtig, obwohl er sicherlich weiß, dass ich noch nicht schlafe. Er wird den Lichtschein meiner Lampe beim Blick aus seinem Fenster gesehen haben; aber ich könnte ja lesend im Bett liegen. Vielleicht hat sich aber schon im Hause herumgesprochen, dass ich lange arbeite, dann spät am Morgen aufstehe, in Zweifamilienhäusern dieses Zuschnitts bleiben Lebensgewohnheiten nicht lange verborgen. Außer Blochs wohnten hier noch im ersten Stock ein Mathematikdozent mit seiner energischen Mutter, ganz oben im Dachappartement eine Reutlinger Germanistin. Jedenfalls pocht Bloch leise an, es klingt wie eine Anfrage, entschuldigend fast. Der scheue Duktus änderte sich auch später nicht, obwohl es ihm bald nicht entgangen sein wird, dass ich seinen späten Besuch, wenn ich daheim war, immer erwartete, und erst ins Bett ging, wenn der helle, auf die Wiese vor meinem Fenster fallende Schein seiner Schreibtischlampe erloschen war, ohne dass ich die vertrauten Schritte vor meiner Tür gehört hätte.
Aber jetzt sitzt er mir gegenüber, im einzigen Sessel meiner Stube ‒ selbst den sehe ich vor mir: mit seinen hölzernen Lehnen, dem roten Polsterbezug, bequem und einfach. Ich habe mich ihm gegenüber auf die Kante meines Bettes gesetzt. Zwischen uns, auf dem niedrigen Tisch, der Anlass seiner Visite, die bei diesem ersten Mal einen handfesten Grund hat: meine Tabakdose. Ihm war der unentbehrliche Rauchstoff ausgegangen, nun erhofft er sich Entsatz vom zweiten Pfeifenraucher im schlafenden Hause, der zudem auch in später Stunde noch ansprechbar ist. Er stopft sich seine »Peterson«, er raucht diesen Typ am liebsten, weil die Öffnung des Mundstücks nach oben liegt, so dass der Rauch gegen den Gaumen gezogen wird und die Zunge schont. Worüber haben wir gesprochen, befangen wie ich war? Er fragte nach meiner Arbeit, die ausgebreitet auf dem Schreibtisch lag. Ich antwortete zögernd, mir kam es so banal, oder besser: schulmäßig vor, ihm über meine Suche nach Schillers Gedanken über den »Wallenstein« im Briefwechsel mit Goethe zu berichten ‒ so meine Aufgabe in einem Seminar von Gerhard Storz. Interessierte ihn das wirklich? Ich wusste damals noch nicht, dass seine ziemlich umfängliche Wissbegierde sich auf wirklich alles richtete, worin er Neues vermutete und dass er akademischen Rang durchaus nicht als ergiebigste Quelle ansah. Deshalb war es mir ja auch gelungen, in seinem Hauptseminar aufgenommen zu werden, als ich ein Jahr zuvor, gerade mal Drittsemester und von Köln kommend, in der ersten Sitzung bei ihm aufgetaucht war. Erst vor wenigen Wochen war ich nach einer Zwischenlösung in dieses Studentenzimmer umgezogen, Karola Bloch hatte geholfen, dass mir der Vermieter den Zuschlag gab, und so wollte er wissen, wie ich mich eingelebt habe. Viel mehr weiß ich von jenem Gespräch nicht mehr. Nur noch, dass aus einer Pfeife zwei, gar drei wurden, und ich das Fenster öffnen musste, weil die Rauchschwaden dicke Schlieren durch den Raum zogen.
Mit diesem Tabakskollegium begann eine glückliche Geschichte, deren Kapitel meist zu später Stunde aufgeschlagen wurden. Ich habe es anfangs nur gefühlt, noch nicht begriffen, dass die nächtliche Szenerie mitspielte, dass es ihr Mischlicht war, das die Gedanken im Gespräch oszillieren ließ. Denn natürlich saßen wir bei Licht, doch kam das bloß von meiner Schreibtischlampe, die den Raum im Halbdunkel ließ. Draußen, jenseits der niedrigen unverhüllten Fenster, herrschte tiefes, undurchdringliches Schwarz: sie öffneten sich ja zum Neckar hin, keine Straßenlaterne verwässerte es. »Ihr Zimmer ist ein guter Zwischenraum bei Nacht«, bemerkte Bloch einmal beim Niedersetzen. Das war am Anfang unserer nächtlichen Begegnungen, die mal länger, mal kürzer ausfielen, aber nie weniger als ein, zwei Stunden dauerten. Ich traute mich noch nicht zu fragen, was er damit meinte und warum er so empfand. Es dauerte nicht lange, da konnte ich es mir selber zusammenreimen. Nach getaner Schreibarbeit, abgespannt, ja ausgelaugt, aber noch keineswegs müde, vibrierte der Tag noch nach. Er hatte oft zehn, gar zwölf Stunden am Schreibtisch verbracht, das Haus, die Wohnung waren längst in dunkle Stille abgedriftet, Karola zu Bett gegangen. Wohin jetzt? Der Weg zu mir lag nahe, mein Zimmer, meine Gesellschaft entwickelten sich dann zu einer Schleuse, zu einem Raum des Übergangs, der Auflockerung, vielleicht sogar der Muße. Die Spannung des Arbeitstages ließ nach, hier ging sie in andere Erwartung über, meine Neugier, mein Staunen, meine Freude lenkte sie ab, es war wie ein langes Ausatmen. Schon beim ersten Besuch schien er hier mit sich und der Atmosphäre in dem engen Souterrain-Zimmer ganz einig. Die Stille, das gedämpfte Licht, die Dunkelheit draußen, Bloch im roten Sessel zurückgelehnt, an seiner Pfeife ziehend, der ihm so zugetane Hörer gegenüber ‒ das schien mir schon damals wie ein Bild, nicht außerhalb von uns, in dessen Mitte wir uns aufhielten wie die Figuren in jenen Bildern, von denen Bloch in den »Spuren« erzählt und von denen ich bald lesen sollte.
Doch enthielt der nächtliche Raum auch Zweideutiges, als könne man der Stille, der Harmlosigkeit doch nicht immer trauen. Man kennt die Stimmung aus Kriminalgeschichten oder poetischen Bedenklichkeiten wie in E.T.A. Hoffmanns Geschichten. Lange vor der Neuausgabe der »Spuren« (1969), die ich dann erst vollständig kennen lernte, erzählte Bloch mir, wohl angeregt durch die Zeit- und Ortsumstände, ein Erlebnis aus seinem ersten Münchner Studiensemester, das ein wenig verfremdet unter dem Titel »Die Wasserscheide« Eingang in sein Erzählbuch gefunden hat. Spät nachts war er nach Hause gekommen, wollte schnell in sein Zimmer, musste dafür vorbei am Schlafraum der Wirtin, dessen Tür diesmal weit offen stand und durch Kerzenlicht spärlich beleuchtet wurde. Im Bett aber lag ein Toter, der kränkliche Hausgenosse, den er kaum beachtet hatte. Mit der Leiche offenbar allein im nachtdunklen Haus überfiel ihn Panik, er stürzte zur Tür hinaus, in die nächste Bar, die er bislang noch nie betreten, begegnete am Tresen einem Fremden, man kam ins Gespräch.
Der Vorfall, schloss Bloch, hatte für ihn ungeahnte Folgen. Aus dem zufälligen Zusammentreffen in der Münchner Bar ergaben sich direkt oder indirekt die wichtigsten Begegnungen seines Lebens. Darunter diejenige mit dem Jugendfreund Djoury (Georg Lukács) und mit Else von Stritzky, die er 1913 heiratete und auch nach ihrem frühen Tod 1921 nie aufgehört hat zu lieben. »Einer sagte, auf dich und mich kam es überhaupt nicht an«, lautet der erste Satz der »Spuren«- Geschichte, die aus diesem Erlebnis entstanden ist. Ob es bei mir auch so etwas gebe, fragte er mich an jenem Abend. Doch, ja: aber nicht so spektakulär sei es gewesen, auch wenn es mir so vorgekommen wäre. Denn wenn ich nicht eines Tages im Düsseldorfer Kulturforum eine öffentliche Diskussion mit Walter Jens über die Gruppe 47 erlebt hätte, wäre ich vielleicht nicht von der Universität Köln, wo ich zu studieren begonnen hatte, nach Tübingen gewechselt, und wir beide säßen jetzt hier nicht zusammen ‒ von anderen Folgen, die ich aufzählen könnte, abgesehen.
Was für eine Diskussion das gewesen sei, wollte er wissen, und was mich so beeindruckt habe an ihr, an Jens, ob ich ihm schon vorher begegnet sei. Also berichtete ich, dass ich ihn als Literaturkritiker der »ZEIT« kannte, sein Pamphlet »Deutsche Literatur der Gegenwart« verschlungen hatte und auch seine Rolle in der Gruppe 47 mir vertraut war. Um eben diesen Schriftsteller-Klub ging die Diskussion, um seine politische Orientierung, um die Opposition von Geist und Macht und um die linke, wenn nicht gar sozialistische Tendenz der tonangebenden deutschen Gegenwartsliteratur. Wer mit Jens auf dem Podium saß, wusste ich nicht mehr, erinnerte mich aber sehr gut, dass er die ganze Runde dominierte, und wie er mühelos die Bögen schlug vom spanischen Schelmenroman bis zu Günter Grass, von Sophokles bis Hofmannsthal. Dann der Höhepunkt der Veranstaltung, als das Publikum sich zu Wort melden konnte. Ein etwas verspätet eingetroffener Franziskanermönch, der mit seiner braunen Kutte an der dem Podium gegenüberliegenden Seite lehnte und mit demonstrativ über der Brust gekreuzten Armen der Diskussion zugehört hatte, griff mit lauter, selbstbewusster Stimme, der man die Übung in Kirchenräumen anhörte, die Autoren der Gruppe 47 an, verdächtigte auch Jens kommunistischer Gesinnung, und bezichtigte die ganze Gegenwartsliteratur eines dekadenten, ja nihilistischen Geistes. Jens antwortete sofort, und das in einer unerhörten, von mir noch niemals erlebten Weise: scharfzüngig und ironisch, mit polemischer Schärfe und schlagenden Beispielen beleuchtete er die Rolle der Kirche in der Renaissance, erinnerte an Giordano Bruno und Galilei, zitierte Dostojewski und Brecht und natürlich die Bibel, den kämpferischen Jesus, der die Händler aus dem Tempel jagt und mit der Priesterkaste abrechnet. Der Angriff des Mönchs hatte ein Feuerwerk entzündet, dem er zuletzt nicht mehr standhielt, wortlos drehte er sich um und verließ den Saal. Von dem Augenblick an stand fest, dass ich nach Tübingen ging.
Ich spürte, dass Bloch die Geschichte nicht ganz befriedigte, dass ihm etwas an ihr fehlte. Zuviel war in diesem Erlebnis eben doch ›auf mich angekommen‹, zu wenig jenem uns mitreißenden, aber rätselhaft bleibenden Eigenleben verpflichtet, das sich unserem Willen, dem bewussten Zugriff versagt. »Geschick« hat Bloch es in der »Spuren«-Sprache genannt, das Unheimliche, Erschreckende, das erst in Glück umschlägt, gehört wesentlich dazu.
Mir wurde erst später klar, dass ich mit einem anderen Wendepunkt sehr viel genauer das getroffen hätte, was er meinte: nämlich den Augenblick, als er das erste Mal an meine Zimmertür klopfte. Die Begebenheit war überraschend und auch etwas unheimlich. Das stille Haus, die leise und langsam sich nähernden Schritte: sie konnten von niemand anderem sein als von Ernst Bloch, aber gerade das ängstigte mich, weil es mir unerklärlich war. Das bange Gefühl schwand beinahe sofort, als er zögerlich in der geöffneten Tür stand und fragte, ob er einen Moment eintreten dürfe. Gewiss, das Herausgehobene, Regelwidrige ist in der Aura dieser Abende die Jahre hindurch geblieben, auch wenn Blochs Eintritt die Situation sofort verwandelte. Er besaß diese Gabe, die der oberflächliche Beobachter vielleicht mit szenischem Gespür verwechseln konnte, nämlich auch noch die alltäglichste Situation durch seine Gegenwart vollständig zu verändern. Nicht etwa aufzudonnern. Sein Eintreten war nie ein Auftreten, er betrat keine Bühne, um sie zu beherrschen, er machte sie sichtbar. Man sah die vertrauten Gegenstände mit neuen Augen. Er stand auf gutem Fuß mit seinen Lebensräumen, ging vertraut mit den Gegenständen um. Dies sogar noch in den letzten Lebensjahren, als er nur noch Hell-Dunkel-Reize wahrnehmen konnte. Er brauchte sich nichts mehr zu beweisen und auch den Menschen nicht, mit denen er umging. Er war angelangt. Die Zeit der grellen Effekte, von denen seine Biographen und so manches Zeugnis früher Weggefährten berichten, war lange vorbei, das Entdeckerpathos ruhiger Vermessung gewichen.
Wenn ich mit ihm zusammen war, ob hier im nächtlichen Zimmer, später als sein Assistent in Hörsaal oder Seminar, gelegentlich auch in einer öffentlichen Veranstaltung, hatte ich immer den Eindruck, dass die Umgebung freundlich wurde. Selten stolperte er einmal, selten verfehlte er das Glas auf dem gedeckten Tisch und den Aschenbecher fand er fast immer auf Anhieb.
Ich möchte ihn aber nicht etwa als verbindlichen, abgeklärten und weisen alten Mann hinstellen. Das war er nicht. Er stand auf sicherem Grund, den er sich selber verdankte und den auch der Widerstand braucht, wenn er fest bleiben soll, erst recht der Denker, der den Kampf liebt. Selbst wenn wir zu später Stunde zusammensaßen, entspannt zurückgelehnt, konnte eine Nachricht, eine Erinnerung oder Assoziation ihn zu zorniger Rede anstacheln. Die Augen funkelten dann hinter den starken Gläsern, die Unterlippe schob sich vor, die Gesten wurden angriffslustig. Fernsehaufzeichnungen von seinen öffentlichen Auftritten und viele Pressefotos zeigen diese Seite Blochs. In unseren nächtlichen Gesprächen kam sie natur- und tageszeitgemäß selten zum Vorschein.
In ihnen dominierte der Erzähler und ich vermutete schon damals, dass mein Zimmer auch wie eine Drehbrücke wirkte vor dem etwas unheimlichen Wegtauchen in den Schlaf. Zum Schlafen, meinte er, drehen sich die meisten nicht ohne Grund der Wand zu, die dann zum Theatervorhang werden kann, der sich für den Davondämmernden in eine andere, nicht ganz geheure Welt öffnet, während man der vertrauten den Rücken kehrt.
Dieser Moment sollte noch etwas hinausgeschoben werden. Während wir redeten, trank er nichts, ein Pils, ein Glas Wein hätte ich anbieten können. Er war auch sonst genügsam, nur wenn abends Gäste zu bewirten waren, also keine Arbeit mehr wartete, trank er etwas Riesling oder Bier. Dagegen durfte die Pfeife nicht fehlen, sie war sein Attribut, das sich kaum ein Zeichner oder Fotograf entgehen ließ. An der Büste, die Gustav Seitz von ihm machte, fehlt sie natürlich und so plausibel die Entscheidung des Künstlers war, mir kam der Kopf immer unvollständig vor. Dem Erzähler diente die Pfeife zur gestischen Begleitung, mit ihr gab er den Takt, markierte Höhepunkte, ließ die Pausen hören. Der dazugehörige Tabak war öfter Gegenstand scherzhafter Wortwechsel zwischen uns. Er bevorzugte einen wahren Knaster, der »Translanta« hieß, ein billiger Feinschnitt in einer blau bedruckten Plastikfalttasche, die er meist völlig zerknittert aus der Hosentasche zog. Er stopfte einen kräftigen Knäuel Tabakfäden in den noch warmen, eben erst flüchtig geleerten Pfeifenkopf, drückte die überstehenden Enden mit dem rechten Zeigefinger fest, zündete mit einem Streichholz an und sog mit kräftigen Zügen, um gleichmäßigen Brand zu bekommen. Der Tabak war scharf und biss mir in die Zunge, als ich ihn einmal probierte. Was schmeckte ihm daran, dass er ihm und anderen Sorten dieser Art ein Leben lang die Treue gehalten hat? Ob es ihn wirklich, wie er behauptete,