Illusion und Wirklichkeit: Die Genossenschaftsidee. Fortwährender Begleiter der menschlichen Geschichte.
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Seit den Anfängen der Neuzeit nahm dann die literarische und theoretische Beschäftigung mit der Genossenschaftsidee in Europa immer stärker zu. Auch die genossenschaftliche Praxis zeigte die vielfältigsten Formen. Unübersehbarer Höhepunkt dieser Entwicklung war die Gründung einer Konsumgenossenschaft im englischen Rochdale 1844 durch die „Rochdale Society of Equitable Pioneers“. Die damals formulierten Grundsätze finden sich auch heute noch in den Prinzipien des Internationalen Genossenschaftsbundes wieder.
Schulze-Delitzsch und Raiffeisen bildeten wenig später aus den Elementen der genossenschaftlichen Diskussion und Praxis ihrer Zeit jeweils ihr eigenes genossenschaftliches Konzept. Beide verfolgten aber darüber hinaus weitaus umfassendere gesellschaftspolitische Zielsetzungen, bei denen das kooperative Zusammenspiel nur einen Bestandteil darstellte.
Auf deutschen Antrag hin soll nun die UNESCO in Paris die Genossenschaftsidee zum immateriellen Kulturerbe erklären. Dagegen ist nichts zu sagen, wenn denn die Begründung nicht vortäuschen würde, die Genossenschaftsidee sei ein deutscher Einfall gewesen und von Schulze-Delitzsch und Raiffeisen zum ersten Mal umgesetzt. Tatsächlich ist die Genossenschaftsidee eine Menschheitsidee – und deshalb gehört sie auch unabhängig von allen Erklärungen der UNESCO so oder so zum immateriellen Weltkulturerbe.
Wilhelm Kaltenborn
Wilhelm Kaltenborn, geboren 1937 in Berlin; seit 1991 beim Verband der Konsumgenossenschaften (heute: Zentralkonsum eG) in Berlin; dort seit 2002 Aufsichtsratsvorsitzender; Funktionen in verschiedenen auch internationalen genossenschaftlichen Gremien, diverse Veröffentlichungen zur Idee und Geschichte von Genossenschaften.
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Illusion und Wirklichkeit - Wilhelm Kaltenborn
Illusion und Wirklichkeit
Die Genossenschaftsidee: Fortwährender Begleiter der menschlichen Geschichte.
Das hierzulande etablierte Genossenschaftswesen hält Deutschland für den Nabel der weltweiten Genossenschaftsbewegung. Es glaubt sogar daran, dass die Orte Delitzsch, Flammersfeld und Weyerbusch, weil sie zu den Wirkungsstätten von Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen zählen, die Geburtsstätten der Genossenschaftsidee überhaupt sind. Dass diese Einschätzung grundfalsch ist, weist Kaltenborn anhand vielfältiger Belege nach. Die Genossenschaftsidee und ihre praktische Umsetzung begleiten die Entwicklung und die Geschichte des Menschen von Anbeginn an. Kooperatives, also genossenschaftliches Wirken haben schon die Neandertaler bei der Großwildjagd bewiesen. Das europäische Altertum und das Mittelalter kannten Genossenschaften in allen möglichen Formen, die auch Schulze-Delitzsch bekannt waren.
Seit den Anfängen der Neuzeit nahm dann die literarische und theoretische Beschäftigung mit der Genossenschaftsidee in Europa immer stärker zu. Auch die genossenschaftliche Praxis zeigte die vielfältigsten Formen. Unübersehbarer Höhepunkt dieser Entwicklung war die Gründung einer Konsumgenossenschaft im englischen Rochdale 1844 durch die „Rochdale Society of Equitable Pioneers". Die damals formulierten Grundsätze finden sich auch heute noch in den Prinzipien des Internationalen Genossenschaftsbundes wieder.
Schulze-Delitzsch und Raiffeisen bildeten wenig später aus den Elementen der genossenschaftlichen Diskussion und Praxis ihrer Zeit jeweils ihr eigenes genossenschaftliches Konzept. Beide verfolgten aber darüber hinaus weitaus umfassendere gesellschaftspolitische Zielsetzungen, bei denen das kooperative Zusammenspiel nur einen Bestandteil darstellte.
Auf deutschen Antrag hin soll nun die UNESCO in Paris die Genossenschaftsidee zum immateriellen Kulturerbe erklären. Dagegen ist nichts zu sagen, wenn denn die Begründung nicht vortäuschen würde, die Genossenschaftsidee sei ein deutscher Einfall gewesen und von Schulze-Delitzsch und Raiffeisen zum ersten Mal umgesetzt. Tatsächlich ist die Genossenschaftsidee eine Menschheitsidee – und deshalb gehört sie auch unabhängig von allen Erklärungen der UNESCO so oder so zum immateriellen Weltkulturerbe.
Martin Bergner
Dieses Buch sei allen gewidmet,
ob bekannt oder unbekannt,
die seit Jahrtausenden überall auf der Welt
das kooperative, genossenschaftliche Zusammenwirken der
Menschen entwickelt und gelebt haben.
Inhalt
Worum es geht
Genossenschaftsidee als Menschheitsidee
Anthropologische Befunde zur Kooperation
Kooperation in der Vorgeschichte
Genossenschaften in der geschriebenen Geschichte
Genossenschaften im Altertum
Genossenschaften im Mittelalter
Historische Genossenschaftsformen in Deutschland – früher und heute
Drei Jahrhunderte Genossenschaftsgeschichte in der Neuzeit: Der Beginn
Chronologie der weiteren Genossenschaftsgeschichte
Hermann Schulze-Delitzsch
Friedrich Wilhelm Raiffeisen
Schulze-Delitzsch und Raiffeisen in den Urteilen der frühen Genossenschaftsgeschichte
Die Weite des Genossenschaftsbegriffs vor 1933
Die gesellschaftspolitische Dimension von Genossenschaften
Die tiefgehenden Mängel der Bewerbung
Resümee
Literaturverzeichnis
Worum es geht
Im Frühjahr 2015 hat die Deutsche UNESCO-Kommission bei der UNESCO in Paris den Antrag gestellt, die „Genossenschaftsidee in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes aufzunehmen (vgl. Deutsche UNESCO 2015a). Im deutschen Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes steht sie schon seit 2014, neben dem rheinischen Karneval, dem Rattenfänger von Hameln, der deutschen Brotkultur und anderen, meist regionalen Sitten und Bräuchen. Warum also nicht auch die Genossenschaftsidee? Und warum sie nicht auch zum Kulturerbe der Menschheit erklären? Man müsste nur darüber nachdenken, warum das geschehen sollte. Was besagt eigentlich die Genossenschaftsidee und woher stammt sie überhaupt? Nun gibt es durchaus eine Begründung der Deutschen UNESCO-Kommission für ihren Antrag. Darin steht u. a. allen Ernstes, von Delitzsch, Weyerbusch und Flammersfeld (als den frühen Wirkungsorten der deutschen Genossenschafter Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen) hätten sich Idee und Praxis der Genossenschaften über andere Teile Deutschlands und darüber hinaus ausgebreitet. Heute würden sie fast weltweit praktiziert:
The idea and practice spread to other parts of Germany and beyond. Today it is practiced nearly world-wide." (Deutsche UNESCO 2015a).
Das ist schlicht falsch und unseriös und so bietet schon diese Behauptung Anlass genug, fundierter der Frage nachzugehen, wie haben sich Idee und Praxis der Genossenschaften eigentlich entwickelt? Das soll im Folgenden geschehen, aber notgedrungen unvollkommen und ziemlich knapp. Im Resümee sind dann die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst.
Die englische Übersetzung des deutschen Wortes „Genossenschaftsidee im Antrag der Deutschen UNESCO-Kommission lautet „the idea and practice of organizing shared interests in cooperatives
, was wiederum ins Deutsche so rückübersetzt wurde: „Idee und Praxis der Organisation von gemeinsamen Interessen in Genossenschaften (vgl. Deutsche UNESCO 2015b). Bleiben wir erst einmal bei der bloßen Idee. Kein geringerer als Hermann Schulze-Delitzsch kennzeichnete die Idee der Genossenschaft, der „Cooperation
als die „Vereinigung atomistisch vereinzelter kleiner Kräfte zur Erreichung gemeinschaftlicher Zwecke" (Schulze-Delitzsch 1858: 68). In der Tat: Diese Definition deckt alle Formen menschlichen Zusammenwirkens ab, die von der Bezeichnung als Genossenschaft erfasst werden könnten. In dieser Allgemeinheit geht es nicht nur um wirtschaftliche Ziele. Schulze-Delitzsch jedenfalls bezeichnete konsequenterweise auch die von ihm initiierten und geförderten Arbeitervereine mit