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Alleensterben
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Alleensterben

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About this ebook

Der erfolgreiche Unternehmer Steininger kommt bei einem Autounfall ums Leben, ein paar Tage später wird eine junge Frau in einem Schwimmbad umgebracht. Die Kommissare Franz Obermüller und Stephanie Wiesmaier von der Polizei Seefeld beschäftigen sich zunächst mit dem Schwimmbadmord, bis sich eine Manipulation am Fahrzeug des Unternehmers herausstellt. Der Mörder der jungen Frau entdeckt Geschäfte in seiner Firma, die nur mit Korruption und Bestechung zustandekommen konnten. Er versucht, dies für sich und seine Flucht aus Deutschland zu nutzen. Obermüller und Wiesmaier sowie ihr autistischer Kollege Birol Özdemir finden heraus, dass im Familienunternehmen Steiningers Misstrauen, Gier und Neid an der Tagesordnung stehen.
LanguageDeutsch
Release dateMar 9, 2016
ISBN9783741246227
Alleensterben
Author

Carsten Lohmann

Carsten Lohmann, Jahrgang 1964, hat nach einer Ausbildung zum Bankkaufmann in Kassel Wirtschaftspädagogik an der LMU München studiert. Nach mehreren Jahren beruflicher Tätigkeit in München, wechselt er 1999 zur BASF SE nach Ludwigshafen/Rhein. Er hat seinen Hauptwohnsitz in Seefeld, ist allerdings unter der Woche viel in Europa und der Welt unterwegs. Zunächst war er als Projektmanager für Führungskräfteentwicklung und interner Berater in der BASF tätig. Später wurde er Leiter Marketing und Vertrieb Europa einer Produktgruppe aus dem Bereich Petrochemikalien. Seit zwei Jahren ist er im globalen Einkauf des Unternehmens. Dort führt er ein Team, das Lackrohstoffe einkauft. Durch vielerlei Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen sowie Lieferanten und Kunden im In- und Ausland konnte er Anregungen und Geschichten sammeln, die sich in den Charakteren und Gegebenheiten widerspiegeln. Lohmann ist verheiratet und hat keine Kinder. In seiner Freizeit macht er Sport, fährt gerne Rennrad und Mountainbike, liebt die Berge im Sommer und Winter und reist gerne durch die ganze Welt, wenn es geht. Haufenweise Krimis lesen, ist fester Alltagsbestandteil und führte irgendwann zu dem Ziel, es mal selbst zu versuchen.

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    Book preview

    Alleensterben - Carsten Lohmann

    glühte.

    Abschnitt 1: Neues Jahr – alte Lasten

    Donnerstag, 7. Januar 2010, am Morgen

    „Obermüller!", rief der Polizeihauptkommissar von der Polizei Seefeld am Pilsensee im Landkreis Starnberg mit erwartungsfroher Stimme, als er das Telefon in seinem wohlig warmen Büro abnahm.

    „Franz, ein gutes neues Jahr! Ich hoffe, du hattest schöne Weihnachtsferien", schnaufte sein Kollege Polizeiobermeister Benedikt Handtke am anderen Ende ins Telefon.

    „Ja, hatte ich, sagte Obermüller und machte eine kurze Pause, die ihn sofort zum Nachdenken brachte. „Aber jetzt sind sie endgültig vorbei, wie es scheint.

    „Ich glaube, da könntest du recht haben. Leider musst du sofort mitkommen, wir müssen bei einer Unfallaufnahme dabei sein", antwortete Handtke. Im Telefon knackte etwas.

    „Moment mal, wieso das? Ich bin gerade mal eine Stunde wieder im Büro. Warum machen das nicht die Kollegen vom Bereitschaftsdienst? Oder nimm einen der Anwärter mit."

    „Es gibt einen Verkehrstoten, da sollte jemand von uns dabei sein."

    „Oh, okay. Ich komme. Wir treffen uns gleich vor der Tür", antwortete Obermüller und legte auf. Er schüttelte den Kopf und dachte: Das geht ja schon wieder gut los. Ohne weiteres Zögern nahm er seine Jacke. Ein kurzer Blick aus dem Fenster in Richtung Marienplatz, ein Griff zu Handschuhen und Mütze, schon war er aus dem Büro. Er überlegte kurz, nach was es im Flur roch, und vermutete, dass die Reinigungsfirma den Bodenreiniger gewechselt hatte. Vor der Tür der Polizei Seefeld traf er seinen jungen Kollegen Handtke, der mit dicken Stiefeln und Mütze auf ihn wartete. Er wirkte, als stünde er schon länger dort.

    Nach Neujahr war der Winter ins Fünf-Seenland nach Oberbayern gekommen. Es waren in wenigen Tagen dreißig Zentimeter Schnee gefallen und es war bitterkalt geworden. Die Straßen waren teilweise schneebedeckt, nachts war es bis minus 16 Grad kalt, tagsüber strahlte alles wunderschön in der Sonne. Die Landschaft war ein einziges Wintermärchen in klirrender Kälte. Leider kommt bei diesen Gedanken jetzt der Unfall dazwischen, dachte Obermüller. „Weißt du schon, was passiert ist?", fragte er seinen Kollegen, als sie die Mühlbachstraße in Seefeld herunterfuhren.

    „Nur, dass ein Auto auf der Fahrt von Weßling in Richtung Seefeld beim Gut Delling gegen einen Baum geprallt ist und der Fahrer wohl seinen Verletzungen erlag."

    Hm, dachte Obermüller, was für ein Mist gleich nach den schönen Weihnachtsferien. Überhaupt hätten die auch noch ein paar Wochen weitergehen dürfen. Sie schwiegen für den restlichen Teil der Fahrt. Beide fühlten sich nicht besonders wohl bei dem Gedanken, gleich einen Toten in einem Auto zu sehen. Kein Mensch mag so etwas, auch Polizisten gewöhnen sich nur schwer an solche Anblicke, zumal die Polizei alles so sieht, wie es sich zugetragen haben könnte. Ein frischer Tatort hat immer eine Botschaft, die man als geschulter Polizist aufnehmen muss.

    Der Unfallort bot ein Bild des Grauens. Ein Mercedes-Benz der R-Klasse hatte sich regelrecht um eine der dicken Eichen gewickelt und war völlig zerstört. Nur noch die Heckscheibe war heil, alles andere kaputt, Scherben und Trümmer überall. Der Fahrer hing noch im Sicherheitsgurt. Er trug einen dunklen Anzug. Die Airbags des Autos hatten sich alle geöffnet und hingen nun schlaff herunter. Sein Kopf war mit etwas Blut verschmiert und anormal zur Seite geknickt. Wahrscheinlich Genickbruch. Sein Gesicht wirkte auf eine seltsame Weise entspannt. Er lächelte sogar leicht. Trotz der eisigen Kälte spürte Obermüller Schweiß in seinem Nacken. Wie er solche Anblicke hasste! Der letzte Tote war noch nicht allzu lange her. Ein Fall, der ihm noch in den Knochen steckte, noch nicht vollständig verarbeitet war. Den Termin mit dem Polizeipsychologen sollte er bald mal ausmachen, fiel es ihm nun ein.

    Die Verkehrspolizisten hatten die Unfallstelle großräumig abgesperrt, sodass sich die Anzahl der Schaulustigen in Grenzen hielt. Handtke sprach mit einem der Kollegen und ließ sich erklären, was die Unfallaufnahme ergeben hatte. Wahrscheinlich war der Fahrer ins Schleudern geraten und dann mit einer Wagenseite in den Schnee, der ihm jede Chance nahm, das Auto wieder zu stabilisieren. Fast ungebremst schien er den Baum getroffen zu haben. Handke schaute sich um, während er zuhörte. Obermüller war plötzlich nicht mehr zu sehen. Handtke fand ihn etwa hundert Meter von der Unfallstelle entfernt. Er schien konzentriert, strich mit seinen Armen durch die Luft, um einen Verlauf zu beschreiben. Dann schaute er sich die Schneespuren an. Genau ausmachen, welche vom Mercedes stammten, konnte er nicht. Handtke beobachtete seinen Kollegen und saugte alles auf – es gab noch viel zu lernen. Er wusste, dass Obermüller ein guter Beobachter war und die Bilder regelrecht abspeicherte. Sein langjähriger Ausbilder und Mentor hatte ihm über Jahre erklärt, wie man einen Tatort liest. Erst einen Gesamteindruck verschaffen und sich dann nach der Zwiebelmethode die Details erschließen, Schicht für Schicht, bis man zum Kern der Sache vordringt. Auch auf den ersten Blick unwichtige Details können im Laufe der Ermittlungen bedeutsam werden. Und alles gehörte zusammen. Jeder Tatort war ein mehr oder weniger großes Puzzle, nur die Anzahl der Teile variierte.

    Schließlich gingen sie zurück zum Unfallfahrzeug. Handtke hatte mit der Hand ein Zeichen gegeben. Die Feuerwehr zerlegte daraufhin Teile des Autos mit einem Schneidbrenner, bis der verunglückte Mann herausgehoben werden konnte. Ein Anblick des Schreckens. Kraftlos hingen der Kopf sowie die Arme und Beine herunter. Überall floss Blut, das langsam gefror. Obermüller wurde schlecht. Dann erkannte er den Mann plötzlich: Es musste bei einem Maibaumfest in Seefeld gewesen sein, sie hatten nebeneinander an einem Tisch gesessen und sich flüchtig unterhalten. Er musste etwa dreißig Jahre alt sein. Seiner Brieftasche konnten der Ausweis und ein paar weitere Papiere entnommen werden. Ein Bild mit zwei kleinen Kindern und einer hübschen Frau ließ vermuten, dass er eine Familie hatte. Der Ausweis gab die notwendigen Informationen, die sie zur Identifikation des Mannes benötigten. Es war Helmut Steininger aus Seefeld-Hechendorf. Die Techniker hatten Nummern an den herumliegenden Fahrzeugteilen aufgestellt und nahmen den Unfallort präzise auf. Den Verlauf der Spuren fotografierten sie mit einer 3D-Kamera und filmten den Straßenverlauf. Obwohl scheinbar kein weiteres Fahrzeug beteiligt war, wurde alles akribisch festgehalten, vermessen und notiert. Alles wirkte wie ein Unfall, der durch einen Fahrfehler entstanden war. Die Polizei Seefeld hatte nach der mangelhaften Aufnahme des Tatorts bei den Morden am Ehepaar Peschl im Jahr 2009 eine dicke Rüge von der Staatsanwaltschaft München und der Presse erhalten, weil man der Ansicht war, dass dort schlampig – eine Münchner Gazette hatte geschrieben: „...voreingenommen und zwar in der Weise, dass man von einem Selbstmord ausgegangen war" – gearbeitet worden war. Das stimmte und stimmte nicht. Glücklicherweise hatte dies keine Auswirkungen auf die Ergreifung der Täter und deren noch ausstehende Verurteilung gehabt.

    Obermüller ging auf Handtke zu. „Benedikt, ich denke, wir haben alles gesehen, was wir sehen mussten. Er musterte seinen Kollegen. „Hast du schon das Aufnahmeprotokoll unterschrieben? Ich würde dann gern mal langsam zurück ins Büro fahren. Dort liegt noch einiges an Arbeit aus den letzten Wochen.

    „Ja, ja, Franz, aber lass mich jetzt nicht hängen. Wir sollten noch zu den Steiningers fahren und die Witwe informieren. Ich weiß, dass das sehr unangenehm ist, ich möchte es ungern allein tun, und warten können wir damit auch nicht", antwortete Handtke mit einem Stirnrunzeln. Sein Atem dampfte aufgrund der Kälte.

    „Magst du nicht Stephanie mitnehmen? Die ist einfühlsamer als ich", entgegnete Obermüller und hoffte, dass Handtke zustimmen würde. Rein vom Dienstgrad war Obermüller höher als Handtke, so dass er sich eigentlich nicht bitten lassen musste, aber dank der Teambuilding-Maßnahmen des Chefs der Polizei Seefeld, Ralf Deininger, hatte man sich auf neue Regeln der Zusammenarbeit geeinigt. Dazu gehörte unter anderem, dass der, der die Einsatzleitung hatte, auch die Führung übernahm.

    „Du, ich habe sie noch gar nicht auf dem Dienstplan gesehen. Kann sein, dass sie noch nicht wieder da ist."

    „Hm, ich habe auch schon seit Tagen nichts mehr von ihr gehört", log Obermüller und grinste in sich hinein.

    „Also, dann fahren wir zur Witwe, die Adresse haben wir ja", nickte Handtke.

    „Dann los", stimmte Obermüller seufzend zu.

    Die beiden Polizisten verabschiedeten sich von ihren Kollegen und stiegen wieder in ihr Auto ein. Handtke telefonierte noch kurz mit einem der Kollegen in der Polizeidienststelle, ob eine Nachricht für ihn vorlag. Obermüller fand das etwas wichtigtuerisch, aber sein Magen teilte ihm etwas anderes mit. Er war auf Zusammenziehen eingestellt und fühlte sich schwer an. Nach fünf Minuten erreichten sie das Haus der Familie Steininger, das am Ende der Seestraße in Hechendorf lag. Eine schöne große Villa mit tollem Garten und Seezugang zum Pilsensee stand eingeschneit vor ihnen. So möchte man wohnen, dachte Obermüller, leider zerstören wir in wenigen Minuten das Familienglück. Obermüller griff in Richtung seiner Dienstwaffe, bevor sie am Tor klingelten und warteten. Ein Ritual seit Jahren. Es änderte sich nicht. Die Polizisten warteten und spürten die Kälte. Nichts geschah in den folgenden Sekunden. Gefühlt wurden sie – bedingt durch die Kälte – schnell zu einer halben Ewigkeit. Doch dann öffnete sich die Tür, eine junge Frau in einem edlen Kittel stand im Türrahmen. „Guten Tag, die Herren, Sie wünschen?", rief sie ihnen über den Hof zu.

    „Polizei Seefeld, das ist mein Kollege Handtke, mein Name ist Obermüller. Wir möchten mit Frau Steininger sprechen", rief Obermüller zurück.

    Die Bedienstete kam zum Tor, prüfte die Dienstausweise genau und schaute den beiden Polizisten in die Augen. Sie nickte kurz und sagte mit plötzlich dünner Stimme: „Kommen Sie bitte herein." Damit öffnete sie das Tor.

    Sie folgten ihr über den Platz vor dem Haus, auf dem ein schwarzer Audi Q5 mit abgetönten Scheiben stand, bis in die Eingangshalle. Es handelte sich offensichtlich um ein gepflegtes, modernes Haus mit ein paar klassischen Elementen. Obermüller schaute sich um. Es fiel ihm sofort auf,

    dass das Haus sehr gut gesichert war. Mehrere kleine Kameras und Bewegungsmelder waren für das geschulte Auge erkennbar, zudem waren die Fenster, die Obermüller sehen konnte, vergittert. In der Eingangshalle war es angenehm warm. Irgendwo musste ein Kachelofen brennen, denn es knackte gelegentlich.

    „Folgen Sie mir bitte in die Bibliothek und nehmen Sie Platz. Frau Steininger kommt in wenigen Minuten. Sie ist noch am Telefon. Vielleicht kann ich Ihnen in der Zwischenzeit Ihre Jacken abnehmen oder müssen Sie sie anbehalten?"

    „Nein, das ist sehr freundlich. Danke schön", antwortete Handtke und überreichte ihr beide Jacken.

    „Ich bringe Ihnen gerne einen Tee, wenn Sie mögen."

    „Oh, so etwas bekommen wir selten und nehmen das Angebot bei der Kälte gerne an." Handke lächelte dankbar.

    Die Hausangestellte verließ die Bibliothek. Obermüller spürte, dass langsam Leben in seine Zehen zurückkam. Handtke sagte etwas, was Obermüller aber nicht beachtete. Er war mit seinen Gedanken irgendwo anders. Nach ein paar Minuten kam eine junge, mittelgroße und hübsche Frau in den Raum. Sie trug eine weiße Bluse mit Perlenkette und eine schwarze Hose, dazu schwarze Schuhe. Feste Schuhe daheim? Warum nicht, sagte sich Obermüller und machte sich eine gedankliche Notiz. Handtke übernahm sofort die Initiative. Du lernst, dachte Obermüller.

    „Sind Sie Frau Marie-Luise Steininger, die Ehefrau von Helmut Steininger?"

    „Ja, wen haben Sie sonst erwartet?", antwortete sie und schüttelte den Kopf.

    „Frau Steininger, wir haben leider eine sehr traurige Mitteilung für Sie. Ihr Mann ist vor einer Stunde auf der Graf-Törring-Allee ins Schleudern geraten und gegen einen Baum geprallt. Dabei ist er seinen schweren Verletzungen erlegen. Es tut uns sehr leid und wir möchten Ihnen unser aufrichtiges Mitgefühl aussprechen." Handtke bekam eine schwache Stimme.

    Obermüller beobachtete beide. Noch wirkte Frau Steininger gefasst. Aber dann: „Oh, mein Gott!, rief sie und fing augenblicklich an zu weinen und zu zittern. Sie hielt sich die Hände vors Gesicht, stand ein paar Sekunden so da und verließ dann den Raum mit den Worten: „Bitte entschuldigen Sie mich.

    Nach wenigen Sekunden kam die Hausangestellte zurück in die Bibliothek und sagte: „Hätten Sie das nicht mit etwas mehr Mitgefühl übermitteln können?" Sie schien durch die offene Tür mitgehört zu haben.

    Obermüller antwortete: „Solche Botschaften lassen sich leider nicht auf angenehme Weise übermitteln. Richten Sie bitte Frau Steininger aus, wir müssen in ein paar Tagen noch einmal mit ihr sprechen."

    „Warum denn?", fragte die Hausangestellte mit verwirrtem Blick.

    Obermüller griff nun ein: „Das ist reine Routine, wir sind dazu verpflichtet. Herr Handtke wird Ihnen seine Karte da lassen, dann kann sie sich melden. Rufen Sie Frau Steiningers Hausarzt an. Er sollte sie besuchen, das wäre sinnvoll. Der Kriseninterventionsdienst ist auch schon informiert. Die Kollegen werden in circa einer halben Stunde hier eintreffen, um sich um Frau Steininger zu kümmern. Es tut uns alles sehr leid."

    Auch die Hausangestellte hatte jetzt Tränen in den Augen.

    Sie verabschiedeten sich. Die beiden Polizisten gingen zu ihrem Auto zurück und fuhren zur Polizeistation nach Oberalting-Seefeld. Diese Momente mochte Obermüller überhaupt nicht. Er wollte nicht der Überbringer solcher Botschaften sein, aber einer musste es ja machen. Handtke hatte seinen Teil sehr gut gemacht.

    Bevor Obermüller zurück in sein Büro ging, hielt er am Kiosk am Marienplatz an und begrüßte Petra, die etwas zu klein geratene, aber fröhliche Inhaberin, mit den Worten: „So, nun erfolgt die lange angekündigte Festnahme verbunden mit den besten Wünschen für 2010, liebe Petra", posaunte er heraus und lachte über seinen eigenen Witz.

    Sie kommentierte das nur mit: „Dann mal los. Und ich hoffe, für dich wird das Jahr ebenso angenehm wie für mich, Franz." Sie schaute ihn voller Bewunderung an.

    Den üblichen Kaffee und die Butterbrez’n verspeiste er ohne ein weiteres Gespräch und las dabei eine Lokalzeitung. Als er wenig später im Büro ankam, lag unter seiner Bürotür ein Zettel mit den Worten: „Komm mal vorbei, Happy New Year! S. Obermüller lächelte und ging in Richtung Stephanie Wiesmaiers Büro. Er klopfte an die Tür, trat ein und ging auf seine Kollegin zu. „Gutes neues Jahr, Stephanie! Ich freue mich, dich zu sehen. Das Büro war wärmer als seins und roch nach ihrem Parfum.

    Stephanie lächelte, stand auf und kam ihm entgegen. Sie umarmte ihn und küsste ihn auf beide Wangen. „Ich freue mich auch, dich wiederzusehen, Franz. Und dir auch ein gutes neues Jahr!"

    „Was gleich mal richtig übel losging, brummte Obermüller. „Wieso ging es übel los? Du hast doch heute auch deinen ersten Tag, oder?

    „Ja, genau, das ist es eben. Ich dachte, ich starte locker in meinem Büro mit der Durchsicht der Post und den E-Mails, da nimmt mich Beni gleich mit zu einer Unfallaufnahme mit einem Toten und anschließender Übermittlung der Nachricht bei der Witwe."

    „Oh, nicht schön, Franz. Was war es denn? Ein Verkehrsunfall?"

    „Ja, und ein ziemlich heftiger dazu. Nein, das war gar nicht schön. Die Witwe war natürlich am Ende, aber so ist es ja meistens. Obermüller schaute sich um und beobachtete Stephanie. „Wenigstens wird sie nicht verarmen. Es war eine Familie aus Hechendorf mit Villa und gang. Dann erzählte er noch die Details des Unfalls, doch schließlich kamen die beiden auf andere Themen zu sprechen. Er spürte, wie sich seine Stimmung hob und sein Herzschlag schneller wurde.

    „Wie waren deine Weihnachtsferien, Franz?", fragte Stephanie.

    „Du, schön und erholsam. Das war auch wirklich notwendig."

    „Bei mir auch. Ich habe den Abstand zur Arbeit sehr genossen."

    „Aber sag mal, du bist so braun und siehst so richtig gut aus. Gar nicht mehr so überarbeitet. Wo warst du denn?"

    „Ich? Ich war mit meiner Freundin Brigitte, der Beraterin, ich hatte dir mal von ihr erzählt, auf Fuerteventura für zehn Tage. Das war total toll. Wir hatten bestes Wetter und haben die Nächte durchgetanzt."

    „Beim Durchtanzen der Nacht ist doch das Wetter egal, oder? Frauenlogik", Obermüller schüttelte den Kopf.

    „Obermüller, es beginnt gerade ein neues Jahr, du wirst mich doch nicht schon nach zehn Minuten das erste Mal auf die Palme bringen?", grinste Stephanie.

    „Das war nie meine Absicht", entgegnete Obermüller und lachte.

    „Wie geht’s Amelie? Alles okay mit ihr?"

    „Ja, mit Amelie ist alles bestens. Sie hat bald ein paar wichtige Prüfungen und muss die nächsten Wochen noch einiges lernen, aber das ist sie gewohnt und ich bin es mittlerweile auch." Obermüller lächelte und seufzte.

    „Was habt ihr so gemacht in den freien Tagen?"

    „Wir waren nach Weihnachten eine Woche im Ötztal zum Skifahren, wie schon in meiner SMS beschrieben, dann hatten wir noch ein paar schöne Tage zu Hause, mal bei ihr, mal bei mir."

    „Klingt wunderbar, aber nun ist ja der Alltag zurück."

    Obermüller zögerte kurze und fuhr dann fort: „An welchem Fall wirst du jetzt arbeiten?"

    „Na, ich habe ja noch den Tiefkühlkost-Fahrer auf dem Tisch. Da werde ich weitermachen. Es sind noch ein paar Vernehmungen zu machen. Ist nicht super spannend, aber ich komme wenigstens voran."

    „Ich muss ein paar Berichte schreiben und habe einen kleineren Fall auf dem Tisch."

    „Franz, was ist klein für dich?" Stephanie schaute ihn an und war plötzlich sehr aufmerksam. Von Obermüller wollte und konnte sie immer lernen.

    „Ich habe im Oktober eine Mail bekommen, die ich bisher noch nicht bearbeitet habe. Also las ich sie heute Morgen und nun muss ich mich mal darum kümmern."

    „Und um was geht es? Dass Männer nicht einfach mal zur Sache kommen können", schnaufte sie.

    „Wiesi, locker bleiben, ist alles gut. Eigentlich ein Nachbarschaftsstreit, der aber einen üblen Verlauf nahm. Ein Bauer hat seinem Nachbarn, der ebenfalls Bauer ist, den Gänsestall angezündet. Sie sind seit Jahren verfeindet, aber nun ist es eskaliert."

    „Wie gehst du vor?", fragte Stephanie neugierig.

    „Ich mache ein wenig Druck, indem ich alle hierher bestelle und sie in einem Raum warten lasse. Dann setze ich zwei Streifenpolizisten in Zivil dazu. So kommen sie sicher miteinander ins Gespräch. Danach vernehme ich alle hintereinander. Einer wird im Warteraum oder bei mir beichten. Da bin ich mir sicher. In Frage kommen nur wenige: jemand aus der Familie oder der Angestellte."

    „Na dann viel Spaß. Was ist mit Mittagessen? Gehen wir zusammen?"

    „Können wir machen", antwortete Obermüller.

    In dem Moment öffnete sich die Tür und ihr Chef, Ralf Deininger, stand mit einem jungen Kollegen in der Tür. „Grüß Gott, Kollegen, ein gutes neues Jahr. Wie ihr wisst, hatten wir einen zusätzlichen Kollegen zur Unterstützung der Ermittlungsarbeit beantragt und aus heiterem Himmel wurde dieser plötzlich genehmigt. Deininger strahlte alle an. „Damit möchte ich euch euren neuen Kollegen vorstellen. Das ist Birol Özdemir.

    Stephanie und Obermüller schauten sich kurz an. Deininger beobachtete sie. Er wusste, es war der erste Eindruck, der zählte, wenn man sich kennenlernt. Birol Özdemir begrüßte seine beiden neuen Kollegen mit festem Händedruck. Er stellte sich kurz vor. Özdemir war in München geboren, 24 Jahre alt und hatte bisher bei der Polizei in Freising gearbeitet. Er schaute Stephanie ungewöhnlich lange an, aber wer konnte ihm das verdenken? Ihre langen braunen Haare, ihre schöne Urlaubsbräune – sie wirkte erholt und trug heute im Dienst, wie fast immer auch privat, körperbetonte Kleidung. Obermüller verfolgte die Szene mit Argusaugen.

    „Der Kollege Özdemir wird keinen Außendienst machen können. Das ist ihm aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich, aber er ist ein hervorragender Ermittler und das kann er auch vom Schreibtisch aus tun. Herr Özdemir wird an Sie berichten, Obermüller."

    „Willkommen, Kollege", sagte Obermüller erstaunt und sah Özdemir aufmerksam an. Erfahren, wie er war, machte er sich schnell ein Bild. Ausstrahlung, Körpersprache, Mundhaltung, alles in Bruchteilen von Sekunden analysiert, geordnet, untersucht und und ausgewertet. Birol lächelte verkrampft zurück.

    „Auch von mir ein herzliches Willkommen. Ich bin auch noch nicht so lange hier, ich denke, es wird Ihnen hier in Seefeld gefallen", meinte Stephanie. Wahrscheinlich hoffte sie, dass ein Türke zu Beginn seiner Dienstzeit besser als eine Frau bei der Polizei Seefeld behandelt wird.

    „Setzen Sie sich bitte beide bald mit ihm zusammen und arbeiten Sie Herrn Özdemir ein. Er soll Sie und die anderen Kollegen im Team unterstützen, sagte Deininger. Der Ton verriet sofort, dass er gleich gehen würde. Und so war es dann auch. Einen Moment später war er fort und Özdemir folgte ihm kommentarlos. Deininger liebte kurze, schnelle Besprechungen. Die Dinge auf den Punkt bringen, den Mitarbeitern vertrauen und nur dann eingreifen, wenn es notwendig war. So war ihr Chef und er wurde von allen dafür geschätzt. Leider wurde er nicht jünger, wie schließlich alle. Obermüller spürte, dass seine Kraft langsam nachließ. „Man wird nicht jünger, sagte schon Obermüllers Oma an ihrem achtzigsten Geburtstag.

    „Das war aber mal eine Überraschung. Ein neuer Kollege und wir wurden vorab nicht mal informiert." Stephanie war ebenso verwirrt über den Besuch des Chefs mit dem neuen Kollegen.

    „Was soll’s, sagte Obermüller mit einem Achselzucken. „Besser als eine Stellenstreichung, wie sie in manchen Behörden zurzeit Gang und Gebe ist.

    „Ich werde mal einen Schlag reinhauen. Wir sehen uns später, Franz. Holst du mich um 12 Uhr ab?"

    „Mach ich. Wir gehen in meine italienische Bar in Herrsching. Bis später."

    „Italienische Bar? Lecker", freute sich Stephanie, aber Obermüller war bereits verschwunden.

    Donnerstag, 7. Januar 2010, am Vormittag

    Karl-August Hausmanninger schloss die Tür zu seinem Büro auf, nahm sich einen frischen Kaffee aus dem Kaffeeautomat, setzte sich an seinen Computer und öffnete den Ordner mit dem Namen „De_Bruin". Er war im Dezember zufällig darauf gestoßen. Der Name sagte ihm zunächst nichts, aber wer weiß, was sich Interessantes dahinter verbarg. Und wenn er hier nichts Interessantes findet, wird es bald ein anderer sein, er musste einfach nur weitersuchen. Er würde finden, was er suchte, da war er sich sicher. Zu eindeutig war der Hinweis der Kollegen beim Vertriebsmeeting im September in Seefeld gewesen, dass sie jeden Kunden bekommen könnten, wenn sie nur wollten. Sie hätten immer den richtigen Beschleuniger zur Hand, so sagten sie.

    Heute war es ruhig in der Firma, die meisten waren noch in den Weihnachtsferien, da konnte er sich für die Suche nach den Unterlagen, die er unbedingt haben wollte, Zeit nehmen. Der hervorragende Geschäftserfolg der Softwarefirma evoluteering AG in Starnberg hatte die Geschäftsführer veranlasst, allen Mitarbeitern zwei Tage Sonderurlaub zu schenken, den die meisten gleich nahmen, um ihre Weihnachtsferien zu verlängern. Alle hatten im vergangenen Jahr hart gearbeitet, das Geschäft wuchs – trotz der vergangenen Wirtschaftskrise – um mehr als 40 %. Der Gewinn war sogar um über 60 % nach oben gegangen. Was für ein Jahr! Schon die Weihnachtsfeier war feucht-fröhlich gewesen, der Champagner floss in Strömen und später duzten sich sogar die, die sich jahrelang erfolgreich dagegen gewehrt hatten. Hausmanninger genoss den Kontakt zu einigen der Kolleginnen und Kollegen, aber nicht zu allen. Bis auf ein paar in der Geschäftsleitung war es prima in der Firma. Er wollte die Sonderurlaubstage an die Reise mit der Familie im März hängen. Er mochte die Sonne und das Meer und so konnte die Familie noch länger die Wärme genießen. Noch ein paar Urlaube, dann werden die Mädchen nicht mehr mit ihren Eltern verreisen, dachte er.

    Er klickte sich durch die Ordnerpfade und öffnete die Unterordner des De_Bruin-Ordners. Im Hauptordner waren jede Menge Präsentationen und Dateien abgelegt, die die Geschäftsaktivitäten seiner Firma mit dem großen Kunden in Südafrika, der De Bruin Engineering zeigten. De Bruin Engineering war eine große Baufirma, die ihre Kunden bei großen Projekten und Investitionsvorhaben unterstützt und berät. Die Bauwirtschaft in Südafrika boomte seit Jahren. Die Fußball-Weltmeisterschaft warf sogar in den vorliegenden Unterlagen ihre Schatten voraus. Das halbe Land wurde in kürzester Zeit umgebaut, neu gestaltet und entwickelt. Jeder Mitteleuropäer fragte sich, wie die Südafrikaner so viel schneller bauen konnten und fand keine Erklärung.

    Hausmanninger suchte eigentlich etwas anderes, doch der Hinweis auf einen Brief an die Firma De Bruin sprang ihm ins Auge. Und darin fand sich tatsächlich einiges, was lesenswert war. Klaus Bartelsfelder und Otto Helath, die beiden erfolgreichen Vertriebsmanager der Firma oder besser: Lieblinge des Managements, wie Hausmanninger fand, hatten im Jahre 2006 den ersten großen Kunden in Südafrika versucht zu gewinnen. Nachdem Hausmanninger den ersten Brief gelesen hatte, bekam er Lust, mehr oder sich vielleicht auch alles in diesem Ordner anzuschauen. Schließlich wollte er verstehen, was dort tatsächlich passiert war und warum sie so sehr im Rampenlicht standen. Bartelsfelder und Helath hatten – nach langer Akquise – die Leistungsfähigkeit der Softwareprodukte der evoluteering AG vorgestellt, die Verhandlungen erfolgreich geführt, das Management überzeugt und den Vertrag mit dem Kunden abgeschlossen. Nach ihrer Rückkehr wurde der erfolgreiche Geschäftsabschluss mit einem extra anberaumtem Sommerfest gewürdigt. Es folgte der Durchbruch des Unternehmens. Nun war man erstmals in Afrika vertreten. Man wurde plötzlich in der Industrie beachtet. Die Preiskalkulation war schlichtweg ein Armutszeugnis für die Verkäufer gewesen, aber darüber war damals nicht gesprochen worden. Der Preis war viel zu niedrig, die Installation der Software auf 120 Computern wurde regelrecht verschenkt und die Wartung war für drei Jahre kostenlos. Hausmanninger konnte nicht nachvollziehen, dass diese Bedingungen vom Vorstand genehmigt worden waren. Der Vorstand forcierte eigentlich eine hohe Rentabilität des Unternehmens, um den baldigen Börsengang vorzubereiten. Normalerweise waren ihre Zugeständnisse an neue Kunden gering. Das wusste er aus eigener Erfahrung. Ein Projekt, das Hausmanninger über ein halbes Jahr mit einem Zulieferer aus der Automobilindustrie verhandelt hatte, war am in der Industrie üblichen Fünf-Prozent-Rabatt pro Jahr, entschieden durch den Vorstand, gescheitert. Hausmanninger selbst hatte dies 27.000 € Bonus und einige schlaflose Nächte gekostet.

    Interessant waren auch die Reisekostenabrechnungen der beiden Vertriebsmanager. Sie waren in teuren Hotels abgestiegen und hatten jede Menge Service auf Firmenkosten gebucht. Abgezeichnet waren die Reisekostenabrechnungen mit einem ihm unbekannten Zeichen. Hausmanninger vermutete, dass ein Teil der Abrechnungen nachträglich geändert worden waren. Aber warum, so fragte er sich. Wo gab es hier noch Unregelmäßigkeiten? Und warum war das Projekt in Südafrika so wichtig gewesen?

    Donnerstag, 7. Januar 2010, am Nachmittag

    Der Alltagstrott hatte Franz Obermüller bereits wieder eingeholt. Kaum aus den Weihnachtsferien zurück, überschlugen sich die Ereignisse. Erst der Unfall auf der Graf-Törring-Allee, nun die Vernehmungen der Bauernfamilie. Der einzige Lichtblick des Tages war die Mittagspause in der Vino & Pizzateca in Herrsching am Ammersee mit Stephanie, die ein paar lustige Geschichten aus ihrem Urlaub erzählte. Franca und Benito, die Inhaber der italienischen Bar, wollten natürlich wissen, wer sie denn sei, schließlich kannten sie diese Dame noch nicht. Franca hatte vermutet, sie sei Obermüllers neueste Freundin, nein, das hielt sie nicht für unwahrscheinlich. Später aßen sie Triangoli gefüllt mit Gorgonzola und Walnüssen in Prosecco-Sauce. Stephanie fragte Obermüller, warum sie nicht schon früher einmal hier gewesen seien, was Obermüller nicht beantwortete. Dies hier war sein persönliches „Wohnzimmer", hierher nahm er nur seine engsten Vertrauten mit.

    Wie von Obermüller im Dezember letzten Jahres vorgeschlagen, war sie in ihrem Urlaub an mehreren Abenden mit flachen Schuhen in Clubs gegangen und von vielen Männern angesprochen worden. Immerhin hatte sie so Abende, die sie nichts kosteten, aber keiner der Männer suchte eine Beziehung, alle waren nur auf schnelle Abenteuer aus. Die Bilder, die sie Obermüller vom Urlaub auf ihrem neuen iPad zeigte, begeisterten ihn. Sie sah mit ihren 1,78 m, der Bräune, im knappen T-Shirt und in enger Jeans einfach gut aus. Ihre Figur war trainiert und drahtig. Amelie kann da nicht mithalten, dachte er. Nun bestätigte sich auch eine frühere Vermutung. Stephanie trug ein sogar recht großes Bauchnabel-Piercing. Irgendein Gegenstand hing an einer Kette. An den Abenden, an denen sie in High Heels ausging, machte sie nur wenige neue Bekanntschaften. Obermüller fühlte sich bestätigt. Stephanie erzählteund erzählte – nur einer wollte nicht locker lassen, er stellte sich als Agenturbesitzer aus Hamburg vor und bot ihr sogar an, dass sie für ihn modelte. Allerdings benötigte er dafür Probeaufnahmen, die er mit ihr gleich in seinem Hotelzimmer machen wollte. Sie hatte sich gesagt: Also gut, das musst du dir doch mal genauer anschauen. Viel passieren wird dir schon nicht, du kannst dich ja wehren. Im Hotelzimmer angekommen, bat sie der freundliche „Gentleman’", sich komplett auszuziehen. Stephanie weigerte sich, worauf er handgreiflich wurde. Mit ein paar schnellen Griffen hatte sie ihn überwältigt und mit einer Krawatte an einer Wasserleitung gefesselt. Danach ging sie und teilte an der Rezeption mit, der Herr von Zimmer 4043 wünsche den Zimmerservice mit einer Drei-Liter-Magnumflasche Champagner und einer großen Portion Kaviar. Der Kellner könne ruhig reingehen, die Tür sei offen. Am nächsten Morgen rief sie noch einmal im Hotel an und fragte nach dem Agenturbesitzer. Der hatte bereits in der Nacht bezahlt und war abgereist. Besser für ihn, sonst hätte sie ihn noch angezeigt.

    Stephanie machte einen erholten Eindruck und war erfrischend. Sie wirkte gelöster, machte ein paar Witze und hatte sich irgendwie verändert. Als sie im Sommer letzten Jahres nach Seefeld versetzt wurde, war sie eine biedere, ehrgeizige Polizistin, die keiner mochte. Obermüller hatte nach einer Krisensitzung mit ihr entschieden, ihr eine neue Chance zu geben und er wurde nicht enttäuscht. Sie entwickelte sich zu seiner wichtigsten Kollegin, arbeitete teamorientiert und kooperativ an seiner Seite. Sie war es dann auch, die den Erfolg im letzten Fall sicherstellte. Die Presse überschlug sich anschließend mit Lobeshymnen und ganzen Bilderserien über die großgewachsene Polizistin aus dem Münchner Umland. Sie brachte es sogar in einer Wochenendausgabe einer Münchner Boulevardzeitung auf die Titelseite, was immer noch für reichlich Gesprächsstoff beider Polizei in Oberbayern sorgte. Die Weihnachtsferien und die Abwesenheit vieler Kolleginnen und Kollegen, die nicht im Schichtdienst arbeiten mussten, bremsten das Ausmaß des Geredes.

    Obermüller beobachtete sie und sie spürte deutlich ihre Veränderung. Er nahm jede kleine Entwicklung ihrer Körpersprache wahr und bemerkte eine andere Art von Anspannung. Sind meine Vermutungen richtig, fragte er sich. Oder ist es die Wärme des Raumes? Er wusste, er durfte nicht sehr weit gehen. Da war noch Amelie Becker, seine Freundin, und die liebte er. Im letzten Urlaub waren sie noch vertrauter geworden. Der letzte Fall hatte ihn an seine Grenzen gebracht und Amelie war die Bezugsperson, die ihn forderte und die er brauchte. Sie holte ihn aus seinem Polizistenalltag mit teilweise lebensbedrohlichen Situationen heraus. Es belastete ihn immer noch, dass er einen Menschen hatte erschießen müssen. Deininger hatte ihm empfohlen, zu einem Psychologen zu gehen, was Obermüller vor sich herschob. Vielleicht, weil er selbst bestimmen wollte, wie er darüber hinwegkam. Amelie, Rechtsreferendarin kurz vor dem zweiten Staatsexamen, hatte im Nebenfach Psychologie studiert und coachte ihn, was jedoch neue Probleme brachte. Sie war damit nicht nur Freundin und Geliebte, sondern auch Beraterin. Ihre blitzschnellen Gedanken irritierten ihn manchmal und erzeugten bei ihm das Gefühl, manipuliert zu werden.

    Stephanie erzählte weiter, was sie an ihrer Wohnung in Weßling verändert hatte und dass sie mit Brigitte ein paar Mal in München ausgegangen wäre. In Clubs, die nicht einmal Obermüller, ein seriöser Kenner der Münchner Szene, kannte. Er vermutete, dass dort andere Musik gespielt wird, als er es mochte. House war seine Welt, am besten rund um die Uhr und immer.

    Obermüller erzählte Stephanie von den möglichen Strukturveränderungen bei der Polizei in Oberbayern, von denen er gehört hatte, und welche Auswirkungen dies auf die Laufbahn haben könnte. Nach dem gemeinsamen Mittagessen trennten sich die beiden. Stephanie hatte ein paar Vernehmungen in Inning zu machen und Obermüller wollte sich um die Bauernfamilie kümmern. Dabei hatte er sie pausenlos und übergroß in seinem Kopfkino vor sich. Was für ein Erlebnis!

    Kurz vor 17 Uhr steckte Birol Özdemir noch seinen Kopf in Obermüllers Büro und fragte ihn, wann er Zeit für ein Einführungsgespräch hätte. Obermüller freute sich, dass der junge Kollege sofort Interesse an der Arbeit zeigte und die aktuellen Fälle kennenlernen wollte. Er beschloss, Özdemir zunächst Baumann vorzustellen, der bekannt dafür war, junge Kollegen schnell einzuarbeiten und gut zu coachen. Baumann war eher als er selbst in der Lage, Organisationsstrukturen, Vorgehensweisen bei Ermittlungen und all die Alltagsthemen zu erklären. Er hatte einfach mehr Geduld und war abgeklärt. Obermüller wollte immer gerne seinen eigenen Weg gehen und das wollte er Birol Özdemir nicht gleich am ersten Tag stecken. Stephanie gab nicht so schnell auf. Nach ein paar Monaten Zusammenarbeit hatte sogar Obermüller kapiert, dass sie zu zweit schlagkräftiger sind, als er allein sein konnte.

    Donnerstag, 7. Januar 2010, am Abend

    Amelie hatte Obermüller tagsüber zwei SMS geschickt, die er nicht recht verstand. Es gab irgendetwas zu besprechen. Was, wusste er nicht. Er dachte sich, dass sie in den letzten Wochen so viel zusammen gewesen waren, dass mehr oder minder alles besprochen worden sein musste. Er für seinen Teil hatte nicht viel Neues zu erzählen. So fuhr er mit einem schlechten Bauchgefühl am Abend zu ihr. Seine Freundin hatte eine kleine, aber sehr schöne Wohnung in München-Neuhausen in der Nähe des Hirschgartens. Obermüller war immer gerne dort. Zusammen mit ihr konnte er dort den Alltag hinter sich lassen. Sie klang am Telefon ziemlich reserviert, als er sie nach der Arbeit anrief. In den letzten Wochen hatten sie noch wunderbare Tage inniger Liebe erlebt, auch wenn sie tagsüber getrennt waren und sie immer wieder für Stunden lernen musste. Heute klang sie einfach nur fremd, fand er.

    Mit Herzklopfen schloss er ihre Wohnungstür auf. Sie kam ihm entgegen und umarmte ihn. Die Wohnung roch wie immer. Der Kuss war kürzer als sonst und ihre Stimme klang angespannt. Das bevorstehende Gewitter war bereits zum Greifen nahe. Obermüller konnte bei privaten Dingen schlecht abwarten und auszusitzen. „Liebste, was ist los? Warum klingst du heute so anders?", begann er sofort das Gespräch.

    „Franz, es ist alles in Ordnung, aber ich muss dir später etwas sagen, antwortete sie mit angespannter Stimme. „Lass uns doch vorher essen. Ich habe Sushi aus der Stadt für uns mitgebracht.

    „Amelie, das kann ich nicht gut. Du bist irgendwie anders heute und ich habe einfach kein gutes Gefühl wegen dem, was du mir sagen möchtest. Vorher erst einmal essen, das schaffe ich schon gar nicht."

    „Gut, dann warte. Ich hole das Essen und dann beginnen wir gleich, sagte sie erstaunlich souverän. Sie ging in die Küche und holte das Tablett mit den Sushi-Rollen. Mit einem Lachen kam sie zurück ins Wohnzimmer. „Franz, es ist keiner gestorben.

    „Aber so ähnlich, oder?", sagte er und rümpfte die Nase. Sein Blick war angespannt und erwartungsvoll.

    Sie ließ es sich nicht nehmen, in Ruhe alles abzustellen und den Tisch zu decken. In der Zwischenzeit ging er an ihre Musikanlage und legte eine CD aus der Café Del Mar-Serie ein. Viel Auswahl hatte sie nicht. In ihm stieg die Nervosität, wie er es lange nicht erlebt hatte, aber Amelie war ruhig und geradezu provozierend abwartend. Heute mied sie den sonst üblichen Augen- oder Körperkontakt mit ihm. Das macht sie absichtlich, dachte er. Normalerweise hatte sie jede Situation bestens im Griff und wusste jederzeit passend zu reagieren. Obermüller war anders, er zeigte seine Emotionen und war immer geradeheraus.

    Endlich nahm sie seine rechte Hand und begann zu sprechen: „Franz, du weißt, dass ich am 22. Januar meine letzte Prüfung haben werde. Heute rief mich Papa an und sagte mir, dass ich ab dem 1. Februar ein Praktikum in San Francisco bei einer Partnerkanzlei machen kann. Sie sprach, ohne zu atmen, und war angespannt. „Die Reise würde ich aber schon recht bald nach der Prüfung beginnen, um noch ein paar Tage vor Ort für die Wohnungssuche und diverse Vorbereitungen zu haben. Ist das nicht super?

    Obermüller schluckte und fühlte sich noch schlechter. An Sushi essen war nicht mehr zu denken. Er brach zwar die Stäbchen auseinander, legte sie aber sofort wieder auf den Tisch. Lustlos füllte er Soja-Sauce in das kleine Schälchen vor ihm und rührte viel zu viel Wasabi-Paste hinein. Aber das war jetzt auch egal. Er schaute sie an und fragte: „Für wie lange ist das?" Seine Augen wirkten sofort

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