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Das Glück beim Händewaschen: Roman
Das Glück beim Händewaschen: Roman
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Ebook166 pages1 hour

Das Glück beim Händewaschen: Roman

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About this ebook

Ein 12-jähriger Junge tritt eine schicksalhafte Reise in die streng religiöse Welt eines Schweizer Internats an. Abgeschirmt von der Außenwelt, werden ihm Gehorsam und Schweigsamkeit allmählich zur Ersatzheimat – bis ihn die Begegnung mit einem Mädchen dazu bringt, die heilige Regel des Schweigens zu brechen ... Joseph Zoderer erzählt eine berührende Geschichte von Heimat und Heimatlosigkeit, von Lust und Leiden an der Unterwerfung, aber auch von Rebellion und Widerstand.
LanguageDeutsch
PublisherHaymon Verlag
Release dateMar 22, 2016
ISBN9783709937181
Das Glück beim Händewaschen: Roman

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    Das Glück beim Händewaschen - Joseph Zoderer

    Händewaschen

    Auf der letzten Station vor der Schweizer Grenze sah ich das Gesicht meines Bruders zwischen zwei Waggons verschwinden. Ich fuhr allein in das Land, wo Milch und Honig fließen. Neben mir saß ein Fremder in weißer Kutte.

    Später hockte ich in der Leere eines langgezogenen Raumes an einem langen Tisch am Ende einer langen Bank. Der Fremde zeigte mir das Viereck in der Wand. Man konnte in diesem Viereck eine Falltüre hochschieben und in die Küche sehen, in Abständen kam darin eine Hand zum Vorschein und reichte verschiedene Schüsseln. Zuhause waren die Lebensmittel noch rationiert.

    Durch dunkle Gangschluchten über enge Treppen wurde ich in einen Saal mit Holzwänden geführt. Inmitten von unzähligen Stahlrohrbetten stand das für mich bestimmte Stahlrohrbett. Ich hörte das Klicken des Schalters, als das Licht ausging. Es war ein großer Saal, in dem ich einschlief, auf die Seite gedreht, bis ich das Trampeln von Füßen hörte und ein grelles, fremdes Licht mich in die Mitte warf, auf einen Seziertisch für neugierige Blicke. Ich versuchte mich vor diesem Licht zu verbergen, indem ich mich schlafend stellte. Nie zuvor, erzählten mir Albisser und auch Leisibach später, hätten sie derart lange schwarze Haarzotteln gesehen. Der Haarwust hätte das weiße Kissen ganz und gar überschwemmt.

    Der jähe Schrecken, der mich am nächsten Morgen die Decken zurückschlagen ließ wie bei einem Bombenalarm, dieser Schrecken würde sich täglich um fünf Uhr früh wiederholen, im Sommer wie im Winter, wenn die Klingel schrillte und fast gleichzeitig eine Stimme die Worte zerhackte: »Ehre sei Gott in der Höhe.«

    Aus den Betten rings um mich herum klatschten Füße auf den Boden. Ein Maschinengewehr antwortete: »Und Deinem Geiste.« Alles in Latein.

    Auch ich stand neben dem Bett, in Hemd und Unterhose. Die anderen schlüpften aus einem Pyjama in Unterhose, Socken, Unterhemd und Hose. Mit Unterhemd und Hose liefen sie weg und verschwanden. Niemand sprach mit mir, überhaupt sagte keiner etwas. Ich zog die Hose an, eine Kniehose, die wie meine Jakke braun, senfbraun war, zusammengeschneidert aus einer Tommy-Decke.

    Ich lief dem Strom nach, tat so als ob ich es eilig hätte. Am Ende des Schlafsaals stieß ich rechter Hand auf den Waschraum. Ich wurde geschubst, absichtlich unabsichtlich gerempelt. Alles geschah so wortlos, und ich war froh, daß ich nichts sagen mußte. Ich sah das Gesicht meines Bruders zwischen zwei Eisenbahnwaggons, meine erst gestern verlassenen Nester: das zerbombte Haus neben der Kohlenhandlung, den Hinterhof mit Durchgang, den Hasenstall neben dem Mechaniker, die Bretterwand, hinter der man den Kanal hörte, Mutter, wie sie in der Küche Wäsche kocht, und den Hilmteich mit den Booten.

    Ich wurde zu einem Waschbecken hingeschoben, das ich und kein anderer würde benützen dürfen. Ich versuchte, das nasse Gesicht mit den Händen zu trocknen, in Wirklichkeit verbarg ich es, während ich zu meinem Bett zurückging, um dort mein Handtuch auszupacken. Und dann hatte ich keine Zahnbürste.

    Schlangestehen hinter der Schlafsaaltür. Genaues Einreihen in die Kolonne. Ich wurde nach hinten gezogen. Gesichter, filmartig, fremde Nasen, fremde Ausdrucksmünder, fremde Ausdruckswangen. Die Augen gehen in den Wangen und Nasenflügeln unter.

    Abmarsch über die Stiegen von einem Stock in den unteren, drei Stockwerke bis ins Parterre. Mit dem ganzen Rudel in einen Raum, vollgestellt mit Bänken zum Knien und zum Sitzen. Und vorn in Briefanrededistanz der Altar, mit nur einer Stufe. Tischtuch, Tabernakel, der kleine Schlafsaal Gottes, sein Boudoir. Die Messe am ersten Morgen.

    Zur Kommunion leerten sich die Bänke wie Gedärme. Allmählich und doch zu jäh war ich der einzige Körper zwischen den Sitz- und Kniegestellen. Ich hatte kaum Zeit zum Überlegen. Alles um mich herum war tiefer Ernst. Mit gefalteten Händen, mit vor sich hingetragenen gefalteten Händen oder mit an die Brust gedrückten gefalteten Händen, mit gesenktem Kopf oder mit steil aufgerichteter Stirn, mit geschlossenen oder offenen, aber verschleierten Augen, oder mit offenen, aber abweisenden Augen, mit auf den Boden oder ins Leere stierendem Blick sah ich sie nach vorn gehen und zurückkehren, nach vorn gehen, stehen, niederknien, Mund aufsperren, Oblate, lieber Gott, Oblatenteig, Papier, zerrinnendes Teigpapier, Gottes Schluckabtod. Sie schoben sich aneinander, durcheinander nach vorn, vorbei, zurück, es war ein leises Drängeln um das Brot Gottes, um das unblutige Blutvergießen Gottes. Nur ich blieb zurück.

    Ich hatte noch alle Sünden, ich mußte erst noch beichten. Ich hätte statt Sünde auch Notsünde sagen können, Notwehr, ich mußte Gott in Notwehr verzehren.

    Aber ich war eingeschüchtert von der Wortlosigkeit, von der Ruhe, von der Sauberkeit, die mich so selbstverständlich verschluckt hatten. Ich wollte mich anständig benehmen. Ich konnte Gott nicht vom fremden Tisch wegessen, ohne zu wissen, ob das gestattet war.

    Die zurückkehrenden Blicke, ich spürte, wie mich die Blicke der komischen, weil so ungewohnt gutgekleideten Figuren bei der Rückkehr, beim Wiederauffüllen der Bänke streiften. Am nächsten Morgen schob auch ich mich mit allen meinen Knie- und Sitznachbarn aus der Bank und stellte mich in die Reihe und streckte die Zunge heraus und spürte Finger und Papierleib Gottes zugleich, kehrte, auf den Boden glotzend und seitwärts und manchmal nach vorn blinzelnd, in meine Bank zurück. Nichts denkend, als daß die Oblate sich auf dem Weg bis zur Bank auf der Zunge auflöste, und, wenn Gott die Oblate war, Gott jetzt mit Händen und Füßen und Haar und Haut durch meine Gurgel in den Dünndarm und weiter abrutschen und zu riechen anfangen würde. Aber das dachte ich mir in der allgemeinen Gottesfurcht zuallerletzt.

    Im selben Sommer, bevor ich durchs Land zur Grenze gefahren war, hatte ich mich im einzigen Schlafzimmer der elterlichen Wohnung verirrt. Dort, wo in einer Ecke mein Bruder und gegenüber meine ältere Schwester und ich mit meiner jüngsten Schwester nachts im großen Ehebett schliefen, dort verirrte ich mich, weil Nachmittag war, ins Bett unserer zwangszugeteilten »Ausgebombten« und Untermieterin. Vielleicht weil es Nachmittag war, schlief Mary nicht, sondern tat, als lese sie. Und ich kroch zu ihr unter die Decke und klappte ein Buch auf. Ich lehnte das Buch mit dem oberen Rand leicht an ihren Rücken, und sie stützte sich auf ihrem rechten Ellenbogen auf und lag seitwärts mit dem Rücken zu mir und dem Gesicht zur Wand. Sie trug ein aalglattes Negligé, das knisterte, wenn ich den Atem anhielt.

    Im selben Sommer, in einer der letzten Wochen, bevor ich abreisen sollte, lief ich am Flußufer entlang neben Mary her. Möglicherweise machten wir eine lange Abkürzung durch die Stadt, und vielleicht am anderen Ende mußte sie Dokumente besorgen. Ich schaute auf die Brennesseln, die in dichten Büschen auf der Uferböschung wuchsen, sah die weißgrauen Ufersteine, die vom Wasser angespült wurden. Mary erzählte, nur in Andeutungen, von ihren Erfahrungen mit den Tommys, erzählte auf eine Art, daß ich nicht an Besatzungssoldaten, sondern an Krimihelden denken mußte. Sie ließ sich breit aus, wenn sie von ihrer Kleinen sprach oder einfach von sich. Wie das vor sich gegangen sei: sie noch ein Pflasterstein, dann der Schrei, der in ihr einen Sprung, einen riesigen Sprung quer durch sie hindurch verursacht hätte. Auf einmal hätte sie diesen Stoß rasend gespürt und ihn gewollt und noch einmal gewollt: und wie ein Pflasterstein sei sie zersprungen. Und dann hätte sich alles noch einmal in einem qualvollen Blutbad wiederholt. Mir schien, daß ihr die Leute die Gedärme zwischen den Schenkeln aus dem Bauch gerissen hatten, und daß sie geschrien haben mußte, bis sie nicht mehr konnte. Das zweitemal sei alles ohne großes Tamtam gegangen. Wie ein Geschwür hätten sie das Tote aus ihr herausgezogen, mit einer einzigen Hand.

    Die Einzelheiten des ersten Tages im Hause der Regel glichen den meisten Einzelheiten der darauffolgenden Tage, den Einzelheiten von eintausendfünfhundert Tagen, in ein Gemeinsames zusammengeronnen, eine graue Wasserfläche, aus der einige Eisspitzen ragten, schön und kalt. Alles woran ich mich erinnere, ist kalt, auch wenn einiges schön war, woran ich mich erinnere.

    Ich hob meine Füße über die Treppen, eingezwängt in der Schar der anderen, die wie ich die Füße über die Treppen hoben und schwiegen, so wie ich schwieg. Die Gangschluchten verschluckten mich, wie die anderen. Es waren nicht meine Wände, auch wenn sie aus Holz waren. Die anderen taten, als ob ich ihr Besitz wäre, sie schleppten mich mit. Im Speisesaal waren die Wände nicht aus Holz. Weißverkalkte Mauern.

    Man war freundlich zu mir, neugierig freundlich. Konnte ich boxen, war ich Einhundert-Meter-Läufer, war ich eine Nummer am Barren? Ich war kleiner als der Kleinste und ich hatte lange Haare. Auch war ich der einzige Ausländer. Ich mußte anders riechen. Zumindest redete ich ein anderes Deutsch. Ein lächerliches Schriftdeutsch. Ihr raffiniertes Schwyzerdütsch gefiel mir. Es war, als würden mich Baumstämme streicheln.

    Aber im Refektorium schwiegen sie. Mir war es recht. Ich hatte nichts, was ich erzählen wollte. Im Gang schwiegen sie weiter. Und als wir im Keller rund um einen Tisch standen, auf den einer Erdäpfel schüttete, schwiegen sie auch, nur einer las aus einem Buch vor. Auch das war mir recht. Ich bekam einen Erdäpfelschäler. Mein Koffer war noch nicht ausgepackt, aber ich schälte Erdäpfel für das Mittagessen. Wie immer die ersten Fragen und Antworten gewesen sein mögen, in der Klasse, in der Pause, nach dem Mittagessen oder auf einem Klosett, ich erinnere mich an nichts so deutlich wie an die Frage: Bischn Öschtriecher?

    Mein zweiblättriger Paß war ein Staatenlosen-Paß für Minderjährige. Ich kam aus Hitlers Reich, ich kam aus dem Land der Nazis, ich kam aus dem Land mit dem neuen Namen, das wußte ich, natürlich war ich ein Öschtriecher. Und wer das nicht kapieren wollte, dem wamste ich eins aufs Maul. Ich verstand weder zu decken noch eine Kinnspitze zu treffen, aber ich galt von den ersten Stunden an als der Boxer. Das war das einzige, was mich über sie und ihren Tell erhob.

    Und so erfuhr ich, daß Tell es den Österreichern gezeigt hatte. Ich hörte zum erstenmal diesen Namen: Tell. Was mich störte, war, daß ich sechshundert oder siebenhundert Jahre später für einen österreichischen Landvogt namens Geßler als Watschenmann herhalten mußte. Das war mein einziger Ansatzpunkt zur Kritik, sonst hatte ich weder am Maulhalten noch am Kuschen noch an der Neutralität der Schweiz etwas auszusetzen. Auf die Nerven ging mir einzig und allein, daß ich die einsame Minderheit auf weiter Flur war.

    Während ich mit geweiteten Augen oder mit dumpfem Hirn und verkniffenem Mund durch die Gänge und Stiegenhäuser mittrottete, polterte und mitschlappte, erhielt ich schnelle Geschichtsnachhilfe. Jahre bevor ich begriff, wer der gestiefelte Schnäuzchenträger war, der im offenen Wagen, die rechte Hand am rechten Ohr hochgestreckt, vor unserer Mietskaserne in der Hitlerstraße, der späteren und vorherigen Annenstraße, vorbeifuhr und dem ich mit einem Papierfähnchen zugewinkt hatte; noch vor dem Bewußtwerden, welches Land das war, aus dem ich kam, und was die Bombensplitter, die ich wie Abzeichen mit meiner Schwester gesammelt hatte, und was die über unseren Luftschutzkellern brummenden Tommys machten und wer die Russen waren, vor denen Mutter mit uns im offenen Viehwaggon in ein Tiroler Bergdorf geflüchtet war; und lange auch, bevor ich hörte, daß Andreas Hofer der Stolz eines aufrechten Tirolers sein sollte, wurden mir die Gefechtsorte der Schweizer Heldengeschichte wie eine eiserne Lunge angesetzt: Morgarten, Sempach und sogar Murten und Nancy wurden Sammelplätze meiner geschichtlichen Niederlage. Tell, Winkelried, die Selbstaufopferer, und Karl der Kühne, der edle Geschlagene, der den Schweizern erst die internationale Krone der Unbesiegbarkeit aufsetzte, später dann der Schlachtopfertod der Schweizer Garden am französischen und am päpstlichen Hof: diese Namen und Fakten erlitt ich als eigenes Versagen durch die Tatsache: ich war Öschtriecher und kein Schweizer. Und darin lag die unaufhebbare Tragik, denn ich konnte mich nicht noch einmal gebären lassen: diesmal in der Schweiz, um menschenwürdig zu werden.

    Meine Regel-Kameraden wollten, daß ich für ihren Briefmarkenpatriotismus Hitler spielen sollte. Wir spielten alle kurz nach dem Krieg ehrbare Soldaten. Ich sollte auf jeden Fall verlieren, denn ich kam ja aus der Gegend. Aber ich hatte es über, die Nase voller Rotz zu lassen, mich nicht schneuzen zu dürfen, im Dreck zu rüsseln, damit die anderen die Sonntagshemden tragen durften. Sie wollten, daß ich schön Danke sage. Weil es Schokolade für neunzig Rappen und Präzisionsuhren um fünfzig Franken aufwärts gab.

    Die Trostlosigkeit von zuhause begann mir erst

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