Seewölfe - Piraten der Weltmeere 210: Im Reiche Indras
By John Curtis
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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 210 - John Curtis
7
1.
Die Insel hatte keinen Namen. Aber die Menschen, die sie kannten und die in ihrer Nachbarschaft lebten, hielten sich fern von ihr. Denn auf jener Insel herrschte Kali, die mächtige schwarze Göttin des Todes.
Kaltes, silbernes Mondlicht ergoß sich über die großen Steinquader, die den Vorplatz des Tempels bildeten. Nebelschwaden zogen über das dunkle Wasser des Ganges, das sich träge an den Ufern der Insel vorbeiwälzte und durch das Ganges-Delta in den Golf von Bengalen strömte.
Asanga, der oberste Priester der Todesgöttin Kali, verharrte bewegungslos auf den Steinquadern. Sein hageres Gesicht war zur Maske erstarrt, nur in den schwarzen Augen brannte ein unheilvolles, fanatisches Feuer. Seine Blicke waren starr auf die Trümmer einer schwarzen Götterstatue gerichtet, die einst den Vorplatz des Tempels geschmückt hatte. Geschmückt und bewacht. Denn niemand durfte es wagen, das Reich Kalis zu betreten ohne die Erlaubnis ihrer obersten Priester. Oder der Zorn der Todesgöttin traf den Frevler und tötete ihn.
Asanga schloß für einen Moment die Augen. Was geschehen war in jener Vollmondnacht, das erschien ihm so ungeheuerlich, daß er es trotz seiner gewaltigen geistigen Kräfte, die ihn zum absoluten Herrscher dieser Insel gemacht hatten, nicht schaffte, den ohnmächtigen Zorn und den grenzenlosen Haß, der in ihm tobte, zu bändigen und seine sonstige Selbstbeherrschung wiederzuerlangen.
Asanga öffnete die Augen wieder. Da lag sie vor ihm auf den Quadern. Ihr Leib war zerschmettert, einer ihrer sechs Arme, deren Hand noch den Totenschädel hielt, der sich einst im Wind der mondhellen Nächte im Tanz des Todes hin und her bewegt hatte, lag mehrere Meter von ihrem geborstenen Haupt entfernt auf den Steinquadern. Ihre Beine, erstarrt im rasenden Tanz auf dem Leichnam ihres Gatten Schiwa, ragten als Stümpfe in die mondhelle Nacht.
Wieder schloß Asanga die Augen. Solange die Welt bestand, solange Kali über die Toten herrschte, war noch nie ein solcher Frevel geschehen. Asanga versuchte krampfhaft, sich die Ereignisse jener entsetzlichen Nacht wieder ins Gedächtnis zu rufen.
Es war eine Nacht gewesen wie diese. Die Pansigare Asangas, die Würger, waren wie in jeder Vollmondnacht mit ihren Seidenschlingen unterwegs gewesen, um Opfer für Kali zu finden und auf die Insel zu bringen. Denn Kali hatte ihren Dienern befohlen, ihr in jeder Neumondnacht Menschenopfer zu bringen. Brachten die Pansigare keines, dann traf zwei von ihnen das Los, und sie starben tief im Innern des Tempels, dort, wo die riesige Statue der Göttin stand. Jene Statue, gegen die diese hier draußen vor dem Tempel ein Nichts war.
Asanga hatte sich auf einem seiner Rundgänge durch das Tempelgelände befunden, als im Mondlicht plötzlich die Silhouette eines riesigen Schiffes auftauchte, sich durch die wabernden Nebel über dem Ganges der Insel näherte und schließlich Anker warf.
Asanga hatte seinen Rundgang unterbrochen und die Fremden beobachtet. Es dauerte nicht lange, und sie ließen ein Boot zu Wasser. Kurz darauf näherten sie sich der Insel.
Asanga knirschte vor Zorn mit den Zähnen, als er allein an diesen Frevel dachte. Aber nicht nur das, sie betraten die Insel der Todesgöttin. Ein Priester der Fremden, der ein großes goldenes Kreuz in den Händen hielt, mehrere Offiziere des fremden Schiffes, außerdem aber noch zehn schwer bewaffnete Seesoldaten.
Asanga kannte sich aus. Er war in den großen Häfen seines Landes gewesen und hatte die Fremden oft genug beobachtet. Er wußte nicht, was sie tun würden, aber er war sicher, daß es ihnen nicht gelingen würde, ins Tempelinnere einzudringen, dafür war gesorgt. Aber Asanga war sich ebenfalls völlig im klaren darüber, daß er ohne seine Pansigare gegen die Fremden nichts unternehmen konnte. Gar nichts, denn sie würden ihn erschießen mit ihren Musketen.
Der Priester der Fremden stutzte, als er die Göttin Kali erblickte. Aber dann verzerrte sich sein Gesicht. Er hielt sein Kreuz mit beiden Händen der Todesgöttin entgegen, während er und die Offiziere sich langsam zurückzogen. Sie schienen die Gefahr, die von dieser Göttin ausging, zu spüren. Und in diesem Moment hatte Asanga in seinem Versteck, aus dem er die Weißen beobachtete, gelacht. Ja, hatte er gedacht, sie sollten sich nur hüten! Oder der Zorn Kalis würde sie vernichten, alle!
Fast überhastet hatten sie die Insel wieder verlassen, und Asanga hatte nie mehr in Erfahrung bringen können, warum sie überhaupt auf der Insel des Todes gelandet waren.
Aber dann, das große Schiff hatte bereits den Anker gehievt und die Segel waren ebenfalls gesetzt, geschah das Entsetzliche. Auf der großen Galeone blitzte es auf. Das Donnern der Geschütze drang zu Asanga herüber, gleich darauf schlugen die schweren Eisenkugeln der ersten Salve ein. Sie bohrten sich in die Uferböschung, sie zerschmetterten einige der großen Steinquader auf dem Tempelvorplatz, eine von ihnen traf den Tempel und zerstörte einige der kostbaren Ornamente.
Asanga begann das Entsetzliche zu ahnen. Voller Grimm rannte er zur Statue der Kali hinüber und versuchte die Göttin mit seinem Leib zu decken, da blitzte es auf der Galeone abermals auf.
Die Kugeln heulten heran. Zischen erfüllte die Luft, und dann zerbarst mit ohrenbetäubendem Krachen über ihm die Todesgöttin.
Asanga wurde zu Boden geschleudert, ein wilder Schmerz durchzuckte seinen Körper, und er verlor das Bewußtsein.
Als er wieder erwachte, umstanden ihn drei seiner Pansigare. Sie hatten ihn auf eine Matte gebettet und seine Wunden verbunden. Ratlos blickten sie ihren obersten Priester an, und auch Asanga kam erst in diesem Moment die Erinnerung an das wieder, was sich auf der Insel des Todes zugetragen hatte.
Er wollte wie rasend aufspringen, aber seine Glieder versagten ihm den Dienst. Ächzend sank er zurück.
Die Pansigare stützten ihn, und so erblickte er die zertrümmerte Göttin. Eine ganze Weile herrschte Schweigen auf der Insel des Todes, aber dann schüttelte der Zorn über diesen ungeheuren Frevel Asanga durch wie ein wildes, tödliches Fieber. Er befahl, nichts anzurühren, alles genauso zu lassen, wie es war. Asanga leistete in diesem Moment einen heiligen Schwur: Der Frevel sollte gerächt werden. Er würde durch seine Pansigare Weiße fangen lassen, nur viele Opfer konnten die schwarze Todesgöttin Kali wieder versöhnen. Asanga wußte auch, wohin er seine Würger schicken mußte, aber er befahl ihnen, alle Opfer lebend zur Insel zu schaffen. Und dann, wenn sie genügend Gefangene in den Verliesen hatten, würde in einer Neumondnacht das große Fest zur Versöhnung der Göttin stattfinden.
Asanga schickte seine Würger fort. Immer wieder, aber ihr Erfolg ließ zu wünschen übrig. Gegen Morgen würden sie abermals zurückkehren, und diesmal hatten sie die Häuser jener Weißen zum Ziel gehabt, die weiter oben am Fluß wohnten und dort Handel trieben.
Asanga warf einen letzten Blick auf die so frevelhaft zerstörte Göttin, dann verschwand er im Innern des Tempels, durchschritt die unterirdischen Gänge und erreichte schließlich die große Halle, in der sich die riesige Statue der Kali befand. Ein gigantischer, in wildem Tanz begriffener Frauenkörper, pechschwarz und nackt, aus dem sechs Arme wuchsen, deren Hände Todenschädel und blitzende Messer hielten. Auch um den Hals trug Kali eine Kette von bleichen Totenschädeln, die im flakkernden Licht der Fackeln zu leben schienen. Unter ihren Füßen aber lag der zerschundene Leib ihres Gatten Schiwa.
Asanga näherte sich der rasenden, Göttin, und er glaubte zu sehen, daß ihre Augen, hoch oben unter der Decke des Gewölbes, ihn anfunkelten.
Asanga fiel auf die Knie, preßte sein Haupt mehrmals ehrerbietig gegen den mit goldenen Ornamenten durchzogenen Boden.
„Große Kali, Herrscherin über Leben und Tod, dein Diener wird den Frevel rächen, der dir und deinem unsterblichen Namen angetan wurde. Habe mit deinem armseligen Diener noch etwas Geduld, o Kali!"
Asanga wandte den Blick nach oben, und das Funkeln der Augen war einem sanften Glühen gewichen.
Asanga erhob sich. Langsam erklomm er die hohen Stufen des Podests, auf dem die Göttin stand. Und dort, zu ihren Füßen, fiel er in Trance. Und er sah ein Schiff, das sich der Toteninsel näherte. Langsam, durch dichten Nebel hindurch, aber unaufhaltsam. Und je tiefer seine Trance wurde, je mehr sie von ihm Besitz ergriff, desto größer und bedrohlicher wurde der schwarze Schatten, der dieses Schiff einzuhüllen schien.
Der Nebel lastete über dem Wasser. Er war so dicht, daß man an Bord der „Isabella nicht von einem Mast zum anderen sehen konnte. Die Männer an Bord der Galeone sahen fast nichts, aber sie spürten, daß ihr Schiff von irgendeiner Strömung, der ein kaum wahrnehmbarer Wind noch etwas half, vorangetrieben wurde. Die Stimmung an Bord der „Isabella
war schlecht, denn der Nebel dachte gar