Die Welt ohne Bleiziffer
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About this ebook
Jahre später begegnet Kordian seinem Freund Bleiziffer auf dem Gymnasium und an der Universität wieder. Die Wege trennen sich erneut, als Kordian sich nach Polen aufmacht, um zurückgelassene Bücher von deutschen Vertriebenen zu erwerben. Bleiziffer hingegen verschlägt es nach einer gescheiterten Liebe nach Istrien, wo er ein Boot restaurieren will. Kordian hält Kontakt zu Bleiziffer, bis ihn eine unerwartete Nachricht aus Istrien erreicht und seine Pläne in Polen augenblicklich über den Haufen wirft.
Roland Scheerer knüpft ein feines Netz an Verbindungen: Die Lebenswege der beiden Freunde sind durch ihre Familienbeziehungen miteinander verflochten. Die persönlichen Entwicklungen werden vor den Hintergrund geschichtlicher Ereignisse wie des Jugoslawienkrieges, des polnischen Alltags nach der Wende oder der Studentenstreiks an bayerischen Universitäten in den 90er Jahren gestellt. In leichtem Erzählton, bei dem sich absurde Szenen und tiefsinnige Überlegungen abwechseln, führt der Autor seine beiden Protagonisten an verschiedene europäische Schauplätze. Die Fäden werden mehr und mehr zusammengezogen und münden schließlich in ein unerwartetes Ende.
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Book preview
Die Welt ohne Bleiziffer - Roland Scheerer
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Erster Teil. Weltraumlegos
Zweiter Teil. Der Molch
Dritter Teil. Tamagotchi
Vierter Teil. Jenseits
Fünfter Teil. Longo Maï
Infos zum Autor
Roland Scheerer
Die Welt
ohne Bleiziffer
edition lichtung
eBook-Ausgabe 2016
© lichtung verlag GmbH
94234 Viechtach Bahnhofsplatz 2a
www.lichtung-verlag.de
Umschlagfoto: Roland Scheerer
Konvertierung: lichtung verlag GmbH
eBook ISBN 978-3-941306-15-8
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Unbefugte Nutzungen wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übetragung können zivil- und strafrechtlich verfolgt werden.
Die gedruckte Ausgabe ist in der edition lichtung erschienen:
1. Auflage 2013
© lichtung verlag GmbH
Herstellung: DRUCK Team KG Regensburg
ISBN 978-3-941306-06-6
Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie unter www.lichtung-verlag.de.
Für Ursula Scheerer
Prächtigen grünen Stein gefunden –
sofort kommen. Sorbas.
(N. Kazantzakis, Alexis Sorbas)
Erster Teil
Weltraumlegos
1981–1982
Mitte August 1981 warf ich Bleiziffer auf der Felseninsel mit großer Wucht ein Seeigelskelett an den Kopf, das jemand heraufgetaucht und auf die Steine gelegt hatte. Seeigelsplitter flogen herum. Bleiziffer rannte heulend über den jetzt, bei Niedrigwasser, frei liegenden Übergang von der Felseninsel zum Nacktstrand hinüber, um sich an seine Mutter zu kletten.
Mama winkte mich energisch ans Festland: »Du gehst sofort zu dem Jungen und sagst Entschuldigung.«
Ich wollte nicht, Mama packte mich und sagte zu Bleiziffers Mutter: »Guten Tag, mein Sohn hat Ihrem Kind gerade einen Seeigel an den Kopf geschmissen.«
Sie schubste mich vor.
»Geh, Kordian!«
Auf die Weise lernte ich ihn kennen: Ich studierte angestrengt das Farbspiel der Kieselsteine auf dem Strand, und die vertrockneten, um die Kiesel gewickelten Algen. Bleiziffer, der Marcus hieß, guckte verheult in den Kies und nahm meine hingestreckte Hand für eine Sekunde. Mit der anderen hielt er sich theatralisch den Hinterkopf an der Stelle, wo ihn der Seeigel erwischt hatte. Da waren unsere Mütter praktisch schon im Gespräch.
»Ach, aus Rottenegg? Nee, die Welt ist klein!«
Eine MI-8 hämmerte über die Bucht von Umag, es gab nämlich einen Stützpunkt in der Nähe, hinter dem Pinienwald. Aber Mama wollte mit mir nie zu dem Stützpunkt gehen, sondern immer nur nackt auf dem Kies ein Buch lesen, während ich mich kaum ins Wasser traute, wegen dem Quallenjahr. Bleiziffer und ich sahen dem Hubschrauber nach. Der Hubschrauberwind trocknete Bleiziffers Tränen, und da, in dem Moment, als das Wasser sich nicht mehr kräuselte und die MI-8 hinter dem Pinienkamm verschwand, mussten wir Freunde geworden sein. Wahrscheinlich beobachteten sie von Hubschraubern aus die Frauen auf dem Nacktstrand.
Pinaceæ: Eine etwa 80 Arten umfassende Gattung. Mit ihren langen Nadeln holt die Pinie das Wasser der Passatwinde aus der Luft. Kalbsmedaillons mit Pinienkernen (heiß, zärtlich, kraftvoll); so geht’s: Olivenöl in einer Pfanne erhitzen und die Filets darin etwa drei Minuten von beiden Seiten rosa braten. Tomaten, Pinienkerne, Kapern, Schalotte, Knoblauch und Kräuter im Bratfett anbraten. Pinien säumen die endlosen Felsstrände mit kristallklarem Wasser, die immer wieder von traumhaften Kiesbuchten unterbrochen werden. Die Ferienanlagen erstrecken sich entlang vieler kleiner Buchten, die über verschiedene Kies- und Felsstrände verfügen und von Pinien umgeben sind. Das Hotel Pinija liegt am Kap der kleinen, mit Pinien bewaldeten Halbinsel. Disco Aqua Club (schalldichte Anlage im Pinienwald ca. 2 Min. vom Hotel gelegen) Mai bis Oktober täglich geöffnet. Sommerbühne und Kaffeebar.
In diesem Hotel wohnte Bleiziffer mit seiner Mutter. Ich fand es schwach, dass mein Vater mit den Unterlagen zu Hause blieb und mich und Mama allein nach Jugoslawien fahren ließ. Auch wenn es in den Unterlagen um nichts weniger als um die Testreihe ging.
Was aber Bleiziffer betrifft, so stellte sich heraus, dass er überhaupt keinen Vater hatte! Bleiziffer fand Väter blöd. So eine Sichtweise war mir neu, aber es beruhigte mich, denn dann war es für ihn auch nicht schlimm und wir konnten ganz normal über alles reden. Während wir auf Streifzügen große Pinienzapfen suchten, besprachen sich unsere Mütter zweimal grillend im Schatten auf der Terrasse vor dem Apartmenthaus der Frau Aćimović, in Sichtweite des grünblaukarierten Haifisches, der ›Dobrodošli‹ sagte: »Ja, wenn wir so nah – Mensch, da könnten die zwei ja mal miteinander, das wär toll.«
Fand Mama auch. Und beide hatten jemanden gefunden, bei dem sie ihren Jungen mal abladen konnten.
Bleiziffer verließ schon nach drei Tagen das Hotel Pinija, sie fuhren nach Hause. Ich hatte in der Stadt, im Warenhaus ›Puljanka‹, an einer Glastheke mit Kleinzeug wie Aufklebern, Kugelschreibern und Notizkalendern so lange gequengelt, bis Mama sich von der beschürzten Verkäuferin ein bestimmtes Aufnähabzeichen geben ließ, wobei sie sich wieder mal überhaupt nicht vorstellen konnte, was ich mit dem Kram wollte, und mir lieber ein lackiertes Holzeselchen gekauft hätte. Als vor dem Hotel Pinija die Taschen und Koffer in den Bus von Yugotours geräumt wurden, gab ich Bleiziffer das Abzeichen. Darauf prangten zwei üppige Getreidebüschel, ein roter Stern, ein Haufen Fackeln, und ein blaues Schriftband: ›29 · IX · 1943‹.
»Cool«, sagte Bleiziffer und sah mir in die Augen.
Ich nickte, spannte bedeutungsvoll die Lippen an und tat, als verstünde ich, was er damit meinte. Dann hatte ich mich kurz nicht unter Kontrolle: Die Unterlippe rutschte mir nach vorn, sodass Bleiziffer bemerken musste, dass ich es doch nicht verstanden hatte. Bevor sich die Yugotours-Bustür schloss, rief Mama: »Also, Gertrud, dein Marcus ist bei uns jederzeit willkommen!«
Unter der Abbildung in der Großen Enzyklopädie der Technik, Band III, stand: Endmontage eines Starfighters. Ich fragte mich wieso, und ob diese Starfighter nur montags gebaut wurden, oder ob es immer gerade Montag war, wenn einer fertig wurde. Man sah die vorlackierten Flugzeugrümpfe unter Gittergestellen in den Lockheed-Hallen von Greenville, South Carolina. Bleiziffer behauptete, dass jemand die Aufnahme eben zufällig an einem Montag gemacht hatte, das sei doch klar, und zwar an einem Endmontag, als der Starfighter schon fast fertig war. Denn hätten sie ein Bild von einem Anfangsmontag genommen, da hätte man nur unzusammengesetzte Einzelteile gesehen, und keiner hätte dann gewusst, um was es eigentlich geht. Ich muss zugeben, dass mir das einleuchtete. Gemeinsam blätterten wir uns durch: Satellitenantennen, Sowjetische Staudämme, Spiegelteleskope. Auch ein Kernkraftwerk, wobei Bleiziffer und ich uns nicht einig waren, ob sie nicht die Abbildung vertauscht hatten, weil man eigentlich ein Schwimmbad sah – aber Bleiziffer bestand darauf: »Das Schwimmbad ist das Kernkraftwerk, du Doofi.«
Noch Jahre später träumte ich manchmal, dass das nahe gelegene Wolnzacher Freibad auch ein Kernkraftwerk war. Bei den Duschen gab es eine Klappe im Boden, durch die man zu dem geheimen Kraftwerk hinunterstieg.
Bleiziffers Mutter hatte ihn tatsächlich schon drei Tage nach unserer Rückkehr vorbeigebracht, weil sie zur Kundgebung fuhr. Bleiziffer sagte, er sei schon oft auf der Kundgebung gewesen und kenne sich aus, im Prinzip sei es langweilig, immer dasselbe.
Wir saßen in Parleiten mit dem Technikbuch im Garten, tranken Himbeer-Cefrisch und zählten die Starfighter am Himmel. Papa hatte gesagt, dass das Erprobungsflüge waren und sie dabei alles Mögliche ausprobierten und die Testreihen machten. Ich war enttäuscht, weil ich mich fragte, wann sie dann richtig flogen – nein, keine Rede davon, dass ich mir einen Krieg gewünscht hätte, obwohl der Herr Bachhuber in Heimat- und Sachkunde Wunderdinge von Süßigkeiten verteilenden Amerikanern erzählt hatte und es toll gewesen sein musste ‒ Krieg, das nicht; aber wozu trieben sie den ganzen Aufwand? Vielleicht war doch von Zeit zu Zeit ein echter Flug dabei?
Bleiziffer wollte schon gerne wissen, was mein Vater eigentlich machte. So genau konnte ich es ihm nicht sagen. Aber dass es direkt etwas mit den Starfightern zu tun hatte, das stimmte.
Wir hörten Nachrichten aus einem Radio-Cassettenrecorder von Privileg. Irgendetwas hatte sich geändert, denn von dem Kater war jetzt immer seltener die Rede, obwohl er doch immer der Wichtigste gewesen und jedes Mal in den Nachrichten vorgekommen war, und ich hatte es gut gefunden, dass da auch Tiere vorkamen, oder Leute mit Tiernamen. Der Bundeskanzler Schmidt war immer noch sehr wichtig, kam immer noch vor. Aber der Allerwichtigste war nach wie vor Ferner: Ferner sagte der Abgeordnete … Ferner der Bundeskanzler … Ferner, so Kater.
Ein Marienkäfer setzte sich auf die Cefrisch-Dose, deren Inhalt mindestens haltbar gewesen wäre bis Ende: 10/1982. Wenn dieser Inhalt nicht schon im Verlauf des Rests dieser Sommerferien sukzessive, gehäufteesslöffelweise in einer Glaskanne mit kalkreichem Leitungswasser aufgelöst, Glas für Glas in einem Zug hinuntergestürzt, und meist an einem bestimmten Platz hinter der Gartenhecke, zwischen einem dicht stehenden Brennnesselgebüsch und einem Weißdorn, perlend auf den immensen Blättern einer verwilderten Herkulesstaude wieder ausgeschieden worden wäre.
Als ich im September in die Dritte kam, freute ich mich. Wenngleich ich Bleiziffer jetzt viel seltener sah, weil er von Rottenegg aus in Mainburg zur Schule ging. Seine Mutter hatte eine Sondergenehmigung erwirkt, weil sie den pädagogischen Ansatz der Geisenfelder Volksschule für reaktionär hielt. In Mainburg säßen junge, neue Kräfte, die sich für die Kinder einsetzen und etwas bewegen würden.
Ich freute mich, weil Herr Bachhuber wieder von den Amerikanern erzählte, wie sie herumgefahren und nett gewesen waren und Sachen verteilt hatten. Ich mochte es aber nicht, wenn Herr Bachhuber selber versuchte, wie die Amerikaner zu sein. Er tat dann hinter dem Rücken ein Gummibärchen in eine schwitzige, gerötete Faust, und man musste raten, in welche: rechts oder links. Es war ein Glücksspiel, und wenn man Pech hatte, musste man das Gummibärchen essen, Herr Bachhuber hatte kein Verständnis für die Ausrede, man wolle es sich für später aufheben. Er wollte nicht, dass unsere Taschen verklebten.
Hätte Breschnew damals eine SS-20 in die Parleitener Dorfkapelle gejagt, wäre alles vorbei gewesen: Bachhuber hätte nie mehr wie die Amerikaner sein wollen können, das Privilegradio hätte die sägenden, webenden Synthesizerklänge der Achtzigerjahre über eine violettverkohlte Strahlenwüste ohne Leben geschickt, solange die Monozellen reichten. Oder es wäre das Funkhaus in München samt Thomas Gottschalk und dem Fritz mit seinen Hits zuerst getroffen worden, dann hätte das Radio in der Wüste geschwiegen. Nun hatte Breschnew es aber nicht getan, und es wurde Herbst. Ein Herbst, in dem wir im Feilenforst mutwillig Parasolpilze knickten und für den Förster Bucheckern holten.
Zu Weihnachten bekam Bleiziffer einen Wellensittich von seiner Mutter. Ihre Freundin Juliane aus Celle, Bürgerin der Freien Republik Wendland, hatte nach der Räumung der Bohrstelle 1004 in Gorleben beschlossen, die BRD zu verlassen, wegzufahren, zusammen mit Gotthard, der diese Longo-Maï-Landkommunen mit aufgezogen hatte und damit zuerst reich geworden, dann ausgestiegen oder rausgeflogen war.
Und weil Gertruds Freundin Juliane den Wellensittich dorthin, nach Griechenland, an einen See in der Gegend von Kastoria, nicht mitnehmen konnte, landete er am Ende bei Bleiziffer in Rottenegg. Bleiziffers Mutter behauptete, Marcus habe doch einmal den Wunsch nach einem Vogel geäußert, was Bleiziffer ab Mitte Februar zuerst zaghaft, dann immer heftiger bestritt.
In Posen, in der Gołębia, das heißt Taubengasse, gibt es dieses Wohnzimmercafé, ›Gołębnik‹, das heißt Taubenschlag. Wir haben fünf Grad Celsius, es ist der achte April zweitausend, der siebenundzwanzigste Geburtstag eines Bootsbesitzers, der Kordian heißt. Das Gołębnik, das Loch Camelot in Krakau: Orte, an denen ich ganze Nachmittage, ganze Wochen allein verbringen könnte, versunken in opulente Farblithographien der ›Fauna Germanica / Die Käfer des Deutschen Reiches / IV. Band‹.
Und mit Erinnerungen im Kopf, die ich einmal niederschreiben müsste. Erinnerungen für eine Welt ohne Bleiziffer. An eine Welt mit Bleiziffer, von dem mir nur dieser Seeigel blieb.
Gestern bin ich aus Warschau gekommen, wo es nur zu diesem Behelfsabschied von Mirka gereicht hat, mit der ich schließlich nicht wenig herumgekommen bin auf der Suche nach den alten Büchern. Manchmal sehe ich mich einer Zeit entgegengehen, in der die Welt austaxiert sein wird. In der es nur noch Schätze zu heben gibt, die die Macher von Computerspielen für uns versenken.
Wir hatten einen Haufen Bücher nach Deutschland gebracht und ich verfügte nun über so etwas wie Geschäftskontakte. Es war eine ziemlich suggestive Ahnung davon gewesen, etwas aus meinem Leben zu machen.
An Mirkas Seite stand nun Waldek als Held und verspäteter Wachhund ›Waldi‹, was der Begegnung in Warschau etwas ziemlich Peinliches gab. Ich musste froh sein, dass sie nur kurz dauerte. Immerhin musste Waldek einen ernsten Grund gesehen haben, Mirka nicht aus den Augen zu lassen. Darauf, auch wenn es nicht viel ist, könnte ich mir etwas einbilden, wenn ich wollte. Mirka – die Nummer eins: Auf dem gerippten Trägershirt trug sie die Ziffer zentral, Baseball Style. Im Haar ein ganzer Schwarm bunter Klammerchen, die verschiedene Tiere darstellten. Ihren Wachhund hielt sie im Zaum.
Von Warschau aus fahre ich nach dem Abschied auf der E30 im zähflüssigen Verkehr bis Koło hinter einem Audi 80 her, den jemand gebraucht aus Deutschland importiert hat. Hinten ist noch das Bekenntnis dran: »Spanien ja – Corrida nein danke«. Ich habe im Kofferraum fünfeinhalb Kartons antiquarische Bücher, die werde ich morgen nach Deutschland bringen. Der Rest der Bücher steht in der Warschauer Wohnung. Den kann sich Kalina holen, wenn sie will. Man würde kaum glauben, dass Mirka und Kalina Schwestern sind. Kalina, die dunkle Magierin – Mirka, das lebensfrohe, offene Gewächs.
Ich hoffe, dass der Zoll mich in Ruhe lässt. Und dass der Wagen weiter mitmacht, in Polen gibt es doch keinen ADAC, wenn dir der Auspuff herunterfällt irgendwo vor Trzciel, um nur einmal einen Ortsnamen zu erwähnen … und da ist ein Überlegenheitsgefühl gegenüber Geschäftsleuten, die, gewiss ohne jedes kulturelle Interesse unterwegs nach Warschau, angesichts der Landessprache ratlos die Schultern zucken, während Mirka in der kurzen Zeit jene seichte Schicht Wasserpolnisch in mir freigelegt und fruchtbar gemacht hatte, die ich Tante Elsa verdanke. Eine einzige Silbe: Trzciel.
Wie lange ging das? An die fünf Monate: Ich kann alles aussprechen, Nutella und Nudeln kaufen gehen und vieles verstehen. Mirka hat in der kurzen Zeit das Äußerste an sprachlichem Fortschritt aus mir herausgeholt. Mirka!
Ein paar vereinzelte Sonnenstrahlen finden durchs Fenster des Gołębnik herein. Am Nachbartisch sagt jemand: »Well, I don’t think it’s possible to build a network like this.«
Um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung, wie es berechnet wird: Zoll. Beziehungsweise, angeblich darf man nichts ausführen, was von vor 1945 ist, und angeblich geht es dabei darum, keine Kulturgüter außer Landes zu schaffen – aber was können sie mit den ollen Büchern wollen? Oder ob ich eher dem deutschen Staat schade, wenn ich hier irgendetwas günstig bekomme? Vielleicht sollte es mich interessieren, aber es interessiert mich leider nicht. Ich denke, dass sie mich durchfahren lassen, denn wofür ist man schließlich an der Uni eingeschrieben? Dann sind das Unterlagen, die ich für die Abschlussarbeit bei Brusdeilins brauche. Zollbeamte haben doch nicht studiert. Die können nicht ermessen, welche Menge an staubigen Wälzern man durchackern muss. Um erst einmal ein Thema zu finden! Das Material will ja zunächst gesichtet sein, und wenn sich am Ende herausstellt, dass es doch zu nichts nütze ist – ist es dann meine Schuld?
Ich bestelle einen großen Kaffee mit Milch. Die Schauminseln in der Tasse formieren sich zu einem Buddha, der, mit dem Kopf nach unten, meditiert. Aus dem Bhagava, dem Erhabenen, wächst seitlich ein dicker Netzstecker heraus. Siebenundzwanzig sein: Auch die Liste der Dinge, die man nie mehr nachholen wird, wird täglich länger.
Dieses Wort, ständig war man damit konfrontiert: ›gefälligst‹. Marcus solle gefälligst für den Vogel sorgen, sagte Gertrud Bleiziffer, sie könne nicht mit ansehen, wie Captain Future verwahrlose. Captain Future hatte bei Juliane in Celle noch Venceremos geheißen, aber Bleiziffer hatte ihn umgetauft. Wenn es schon sein Vogel war, dann wollte er wenigstens den Namen bestimmen.
Ich konnte es Bleiziffer nachfühlen, denn bei Mama war es im Grunde dasselbe: Seit die Sawitzki-Brüder mir ihre nach dem Kopfballungeheuer Horst Hrubesch benannte Albino-Farbmaus aufgeschwatzt hatten, musste ich es mir selber täglich anhören: gefälligst. Und: Verantwortung für das Tier.
»Jede Zoohandlung würde Hrubesch gebraucht als Schlangenfutter zurücknehmen, du hast die Wahl!«
Seit einiger Zeit war es Papa, der mich mit dem Granada zu Bleiziffers fuhr. Seit er ständig zum Baumarkt musste, weil er unser Haus verbesserte und jedes Mal zwei Hohlraumschalterdosen fehlten und Klemmleisten, oder er sich um vier Fliesen verschätzt hatte und bei den nachgekauften wieder die Schattierung nicht stimmte – da lag es